Verwaiste Werke: Die Regelung kommt, die Probleme bleiben

Foto: DRs Kulturarvsprojekt, CC BY-SA
Verwaiste Werke sind urheberrechtlich geschützte Werke, deren Rechteinhaber nicht bekannt oder nicht lokalisierbar sind, so dass sie nach geltendem Recht nicht genutzt – etwa digitalisiert – werden können. Gerade bei älteren Beständen in Archiven, Museen und Bibliotheken sind verwaiste Werke ein häufiges Phänomen. Besonders offensichtlich wurde das bei den großen Digitalisierungsprojekten wie der Europeana und der Deutschen Digitalen Bibliothek.
Im Oktober 2012 wurde deshalb nach langer Diskussion die EU-Richtlinie über die Online-Nutzung verwaister Werke verabschiedet. Inzwischen liegt auch ein Referentenentwurf des Justizministeriums (PDF) vor, mit dem es die Richtlinie umsetzen will. Der Entwurf orientiert sich eng an den europäischen Vorgaben und enthält viele Rücksichtnahmen auf mögliche Rechteinhaber. Man kann damit rechnen, dass die Regierung den Entwurf noch in dieser Legislaturperiode umsetzen wird.
Wer sollte auch etwas dagegen haben, dass das schon lange offenkundige Problem der verwaisten Werke endlich gesetzlich geregelt wird? Das Problem: Für Archive, Bibliotheken und Museen, die ihre Bestände digitalisieren und online stellen wollen, wird sich in der Praxis wenig ändern oder gar verbessern.
Beschränkter Nutzerkreis
Schon die beschlossene EU-Richtlinie wurde im Vergleich zu den zuvor behandelten Entwürfen in einem wesentlichen Punkt eingeschränkt – insbesondere durch die erfolgreiche Lobbyarbeit der französischen Filmindustrie: Die Nutzung von verwaisten Werken soll nur bestimmten öffentlichen Institutionen erlaubt sein. Außerdem dürfen damit keine kommerziellen Zwecke verfolgt werden.
Gerade die kommerzielle Nutzung aber hatte sich als Motor für die Digitalisierung erwiesen. Schränkt man den Nutzerkreis ein, bleibt es den chronisch unterfinanzierten Gedächtnisinstitutionen überlassen, Werke zu digitalisieren. Jenen Einrichtungen also, die oft nicht einmal die Mittel haben, ihre analogen Bestände zu erhalten. Das bedeutet auch, dass die Digitalisate nicht in eine der wichtigsten Recherchequellen des Netzes, in die Wikipedia, einbezogen werden können.
Aber nicht nur der Kreis der Institutionen, die durch die neue Regelung privilegiert werden, bleibt beschränkt. Es wird auch nur die „öffentliche Zugänglichmachung“ erlaubt, also das Online-Stellen von verwaisten Werken. Die Werke in Ausstellungen oder in Büchern zu nutzen, bleibt verboten. Bei Kinofilmen kommt es zu der absurden Konsequenz, dass ein für das Kino gemachter Film dann zwar auf einem Computerbildschirm oder einem Smartphone online betrachtet werden kann, nicht aber im Kino.
Nicht nur wegen dieser Unzulänglichkeiten der Richtlinie, die sich im Referentenentwurf fortpflanzen, wird die neue Regelung in der Praxis Probleme bereiten und im Ergebnis sogar bestehende Fehlentwicklungen verstärken. Es wurde bei der Umsetzung auch nicht versucht, Spielräume zu nutzen, um den Umgang mit verwaisten Werke stärker zu vereinfachen.
Angemaßte Rechte
Verwaiste Werke sind nur die Spitze des Eisbergs. Bei den meisten älteren Werken in den Beständen der Gedächtnisinstitutionen ist die Rechtesituation unklar oder umstritten. Das gilt besonders, wenn Werke digital genutzt werden sollen. Bei Filmen ist das besonders anschaulich. Geht es um ältere Filme, etwa Stummfilme, lässt sich kaum jemals nachweisen, dass alle am Film beteiligten Urheber die Rechte für die – damals noch unbekannte – digitale Nutzung an den Filmhersteller übertragen haben.
Gleichwohl wird es von den Beteiligten oft akzeptiert, wenn jemand die Rechte für solche Filme beansprucht, auch die Rechte für die digitale Nutzung. Tritt beispielsweise eine Firma auf und behauptet, den Filmrechte-Bestand einer anderen, längst nicht mehr am Markt befindlichen Firma übernommen zu haben, dann wird das nicht hinterfragt. Ebensowenig die zweifelhafte Behauptung, zu diesen Rechten gehörten auch die der digitalen Auswertung, etwa auf DVD oder als Video on Demand. Denn ohne Rechteinhaber konnte man diese Filme bislang überhaupt nicht nutzen. Da war es pragmatisch, eine behauptete Rechteinhaberschaft anzuerkennen, selbst wenn man daran Zweifel hegte.
Auch Gedächtnisinstitutionen akzeptierten solche Rechteanmaßungen häufig. Für sie war es bislang der einzige Weg, ihre Bestände nutzen zu können. Sie hatten nicht die Mittel, die Behauptungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. So finden sich die Spuren von betrügerischen Rechteanmaßungen nicht nur in den Abrechnungsunterlagen für ungerechtfertigt gezahlte Lizenzgebühren, sondern auch in den Datenbanken von Museen, Archiven und Bibliotheken, die die fehlerhafte Rechtezuordnung verzeichnet haben.
Zweifelhafte Beweisfunktion
Mit dem jetzt bekannt gewordenen Referentenentwurf schließt sich der Kreis: Eben diese Datenbanken werden als Recherchequellen für mögliche Rechteinhaber verbindlich vorgeschrieben. Sie bekommen damit indirekt eine Beweisfunktion, die angesichts ihrer Fehlerhaftigkeit nicht gerechtfertigt ist. Solche Datenbanken verzeichnen lediglich Momentaufnahmen darüber, wer zum Zeitpunkt der Eintragung in die Datenbank als Rechteinhaber galt. Wurden die Rechte später weiter übertragen, ist das in der Regel nicht mehr dokumentiert.
Eine tatsächlich beweiskräftige Registrierung urheberrechtlicher Nutzungsrechte gibt es leider nicht. Die revidierte Berner Übereinkunft – das grundlegende internationale Urheberrechtsabkommen – hält ausdrücklich fest, dass Rechte nicht an Formalien geknüpft werden dürfen. Am verlässlichsten sind die Datenbanken der Verwertungsgesellschaften, da die Rechteinhaber hier ein eigenes Interesse an richtigen Angaben haben, um an Ausschüttungen partizipieren zu können.
Regelung löst das Problem nicht
Rechteanmaßung bleibt in Deutschland folgenlos. Sie als Betrug zu verfolgen, ist mit kaum zu überwindenden Beweisschwierigkeiten verbunden. Man müsste nicht nur beweisen, dass ein vorgeblicher Rechteinhaber die behaupteten Rechte nicht hat. Man müsste darüber hinaus beweisen, dass er das wusste und vorsätzlich betrogen hat. Das wird – besonders bei historischen Materialien – kaum jemals gelingen. Doch Rechteanmaßung ist kein Randphänomen. Es ist die Regel bei älteren Werken, bei denen sich die aufwändige Suche nach dem „wahren“ Rechteinhaber nicht lohnt.
Die Regelung zu verwaisten Werken wird daran nichts ändern. Es ist sogar zu befürchten, dass sie dieses Phänomen noch verstärkt. Das gilt für solche angemaßten Rechte, deren Spuren sich bereits in den Datenbanken der Gedächtnisinstitutionen finden. Es gilt aber auch für die, die noch folgen: Nach dem Gesetzentwurf (Paragraf 61b) soll ein Rechteinhaber, der nachträglich festgestellt wird, Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Vergütung haben.
Dabei suggeriert der Referentenentwurf eine klarere Zahlungspflicht für die Gedächtnisinstitutionen als die zugrundeliegende Richtlinie, die lediglich von einem „gerechten Ausgleich“ spricht. An der Formulierung „gerechter Ausgleich“ wird deutlich, dass auch Aspekte wie die kulturelle Bedeutung und der Aufwand der Institutionen für Erhaltung, Restaurierung und Digitalisierung berücksichtigt werden sollen und es nicht darum gehen kann, die Vergütungshöhe auf der Grundlage von Marktpreisen für kommerziell verwertete Inhalte festzulegen.
Besondere Beweisanforderungen bestehen für denjenigen, der die Rechte behauptet, nicht. Es wirkt wie eine Einladung, sich Rechte anzumaßen; vor allem für diejenigen, die zumindest bestimmte Teilrechte mit gewisser Plausibilität behaupten können. Beweispflichtig bleibt ausschließlich die Gedächtnisinstitution, die ihre „sorgfältige Suche” dokumentieren muss.
Risiken bleiben erhalten
Die vorgesehenen Anforderungen für die Recherche nach möglichen Rechteinhabern sind für Museen, Bibliotheken und Archive in ihrer alltäglichen Arbeit nicht zu bewältigen. Aber selbst, wenn sie es schaffen würden, bleibt die Online-Nutzung von Werken, deren Rechteinhaber sie nicht ermitteln konnten, voller Risiken. Sollte später ein Rechteinhaber auftauchen, kann dieser nicht nur verlangen, die Nutzung unverzüglich zu unterlassen, sondern hat darüber hinaus den Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Vergütung. Chronisch unterfinanzierte Institutionen, die ihr Geld zusammenkratzen, um die Bestände zu digitalisieren, gehen dann ein doppeltes Risiko ein: umsonst zu investieren und mit Nachforderungen konfrontiert zu werden. Dabei verbietet ihnen häufig schon ihre kameralistische Haushaltsstruktur, Rückstellungen zu bilden.
So begrüßenswert es ist, dass die Nutzung verwaister Werke endlich geregelt werden soll, so zweifelhaft ist doch, ob die Regelung sich in der Praxis bewähren wird. Letztlich wird viel von der Haltung und dem Mut der Museen, Archive und Bibliotheken abhängen: Werden sie die hohen Anforderungen an die Recherche auf sich nehmen und für diese Recherche effiziente Routinen entwickeln? Werden sie sich bei der Recherche der Hilfe Dritter bedienen, wie es im Gesetz ausdrücklich erlaubt wird? Werden sie das Risiko eingehen, später doch zahlen zu müssen? Wie werden die Gerichte eine „angemessene Vergütung“ festlegen? Und werden Einrichtungen, die Rechteanmaßungen früher noch akzeptierten, um Werke überhaupt nutzen zu können, dieser nun entschiedener entgegentreten?
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