Nervöse Systeme – Was Algorithmen für unseren Alltag bedeuten

Foto: Laura Fiorio / Haus der Kulturen der Welt
„Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“ lautet der Untertitel einer Ausstellung, die noch bis Mai im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin zu sehen ist. Es geht um Big Data, Algorithmen und Überwachung – und was diese Techniken mit uns machen. Dafür benutzen die Kuratoren – Anselm Frank vom HKW, Stephanie Hankey und Marek Tuszynski von Tactical Technology Collective – die Metapher des Nervensystems.
„Nervöse Systeme untersucht den Zusammenhang zwischen der Erfassung, Analyse und Nutzung von Daten und einem grundsätzlich vorherrschenden Gefühl der Nervosität im offiziellen Diskurs – einer Nervosität, die nach und nach zu einem systemischen Versagen führt“, schreiben die Kuratoren.
Es geht bei der Ausstellung nicht nur um Überwachung – egal ob von Staaten, Unternehmen oder zur Selbstoptimierung –, sondern darum, was Überwachung mit uns macht. Welche Folgen hat die ständige Beobachtung und Auswertung auf das Sein des Individuums und der Gesellschaft? Wie verändert sich eine Gesellschaft, wenn das Verhalten der Menschen scheinbar vorhergesagt werden kann?
Kunst und Theorie
Diese Fragen versucht die Ausstellung auf zwei Arten zu beantworten: Einmal durch künstlerische Auseinandersetzungen in Form von Bildern, Videos und Installationen. Dem gegenüber stellt sie Wissensstationen, in denen Philosophen, Soziologen, Kommunikationswissenschaftler und Medienaktivisten sich theoretische und historisch mit den Fragen um Big Data und der algorithmischen Auswertung beschäftigen.
In der Videoserie „The Common Sense“ etwa entwirft die Künstlerin Melanie Gilligan eine Welt, in der ein neuartiges Gerät es den Menschen erlaubt, unmittelbar die Gefühle anderer zu erfahren – eine überhöhte Metapher für das Internet.

Abbildung: Standbild aus „The Common Sense“, Edition 5, von Melanie Gilligan, 2014, mit freundlicher Genehmigung der Galerie Max Mayer
Sie spielt die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Erfindung durch – zum Beispiel wie ein Gerät, das zunächst Empathie und Zusammengehörigkeit fördert zur Überwachung und Optimierung von Arbeitsabläufen genutzt wird.
Die Mediengruppe Bitnik hat Julian Assanges Zimmer in der equadorianischen Botschaft nachgebaut – mit Laufband, Whiskeyflasche, Science-Fiction-Romanen und Server-Infrastruktur – und macht dadurch darauf aufmerksam, dass Geschichte von Menschen gemacht wird. In diesem Fall von einem Menschen, der seit zwei Jahren in einem Gefängnis sitzt, ohne dass er verurteilt wurde.
Die Ausstellung zeigt nicht nur jüngere Künstler, die sich direkt mit der digitalisierten Gesellschaft auseinandersetzen, sondern baut auf Kontinuitäten: Die Welt, wie sie ist, ist nicht aus dem Nichts entstanden.
Der Performance- und Videokünstler Vito Acconci baut mit dem Video „Theme Song“ von 1973 eine intime Beziehung zum Zuschauer auf und antizipiert die scheinbare Nähe der sozialen Medien. Der Film „Leben BRD“ von Harun Farocki von 1990 beschäftigt sich mit Optimierungsstrategien und Rollenspielen in der kapitalistischen Risikogesellschaft.
Theoretische Triangulationen
Diese Gedankenstränge entwickelt die „Triangulation“ weiter. In der Ausstellungsarchitektur sind sie in sechseckigen Stationen verkörpert, die im Raster der Ausstellung verteilt sind. Darin setzen sich Theoretiker, Wissenschaftler und Medienaktivisten mit verschiedenen Aspekten der algorithmischen Überwachungsgesellschaft auseinander.

Foto: Laura Fiorio / Haus der Kulturen der Welt
Eine Diagnose ist der Glaube an die totale Berechenbarkeit der Welt. Wenn wir nur genug Informationen haben, können wir alles vorhersagen oder, wie es im Kuratorenstatement heißt: „In permanente Alarmbereitschaft versetzte Staaten und deregulierte Institutionen hängen heute zunehmend der Fantasie an, dass sich allein mit ausreichend Informationen die Wirtschaftssteuern und Profite erhöhen lassen sowie allgemein Bedrohungen, Katastrophen und Störungen vorher gesagt und kontrolliert werden können. Dieses neue Vertrauen in technologische Lösungen, getragen von Datenanalyse, Reality-Mining, Mustererkennung und Vorhersagen, beherrscht zunehmend alle Aspekte der zeitgenössischen Gesellschaft und ersetzt politische und hermeneutische Prozesse.“
Dass Algorithmen – die Verfahrensabläufe, nach denen die Daten ausgewertet werden – auch von Menschen erdacht und in Regeln gefasst wurden, wird dabei allzu oft vergessen. Dadurch sind sie nichts weiter als in Regelkreise festgeschriebene Vorurteile. Das zeigt sich in vielen Bereichen: Sei es in der vorausschauenden Polizeiarbeit (Predictive Policing), sei es in statistischen Entscheidungen über Autoversicherungen.
Besorgniserregend ist laut Kuratoren, dass dadurch „eine neue statistische Normaktivität entsteht, die zur Verflachung unserer Lebenswelten führt und alle Formen der Abweichung aussortiert“. Dagegen stellt die Ausstellung die gute alte Aufklärung: Wenn wir wissen, was passiert, können wir als Gesellschaft besser entscheiden, ob das die Richtung ist, in die wir weiter gehen wollen.
The White Room
An dieser Stelle setzt der dritte Teil der Ausstellung an: der sogenannte White Room. Hier können die Besucher aktiv werden. Gestaltet ist er nach dem Vorbild der Verkaufsräume von Apple oder anderen Computerherstellern.

Foto: Laura Fiorio / Haus der Kulturen der Welt
Auf den Verkaufstischen findet man aber keine neuen Geräte, sondern Webprojekte, die visualisieren, welche Daten über Individuen gesammelt werden (etwa des Grünen-Abgeordneten Malte Spitz oder des Schweizer Nationalrats Balthasar Glättli), Netzkunst-Arbeiten zum Thema Web-Tracking (Citizen Ex von James Bridle) und verschiedene Modelle, die aus Recherchen des Tactical Technology Collective entstanden sind (The Zuckerberg House oder The Google Empire).
Ein wichtiger Teil ist das Workshop-Programm: Hier können die Besucher lernen, wie sie sicher mit ihren digitalen Geräten umgehen, wie sie Web-Tracking in ihrem Browser verhindern oder welche Alternativen es zu Datenriesen wie Facebook, Google oder Apple gibt. Es gibt Workshops für Kinder, in denen sie lernen können, wie ein Computer von innen aussieht oder wie sie mit Obst Musik machen (es hat was mit Löten zu tun).
Aber auch während der normalen Öffnungszeiten können sich die Ausstellungsbesucher im White Room von den Bar Workern erklären lassen, wie sie ihre Datenspuren verwischen.
Entwickelt wurde der White Room vom Tactical Technology Collective, einer internationalen Initiative, die seit 2003 international Aktivisten und Journalisten bei der Nutzung von digitalen Technologien schult. Ihre Webseiten und Präsentationen über Datenschatten, Webtracking oder Datensicherheit vermitteln diese technische Themen zugänglich und verständlich.
Nervöse Systeme
Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt (HKW) noch bis zum 9. Mai.
Geöffnet täglich außer Dienstag von 11 bis 19 Uhr, der White Room ist geöffnet von 12 bis 18 Uhr.
Programm – Vorträge, Führungen, Workshops auf der Website des HKW
Am 3. April um 15 Uhr führt iRights.info-Herausgeber Matthias Spielkamp durch die Ausstellung.
1 Kommentar
1 Ria Hinken am 13. April, 2016 um 08:58
Derartige Ausstellungen und Projekte werden immer wichtiger. Zu leichtfertig lassen es die meisten von uns zu, dass wir ständig getrackt werden.
Snowden und Assanges haben gezeigt, dass wir mehr gegen die ständige Kontrolle tun müssen. Neuestes Beispiel: Die Panama Papers. Die Reichen, Kriminellen und Mächtigen verstecken sich, während das normale Volk ständig überwacht wird.
Doch während die Gier die Welt regiert, sitzen Snowden und Assanges in einer Art Gefängnis. Wir werden uns einmal vorwerfen lassen müssen, dass wir dagegen nicht genug unternommen haben.
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