Immer mehr Menschen erschaffen immer mehr Kultur

Illustration: Tommaso Meli, e.t.i.d., CC BY
Facebooks Algorithmen, digitale Bibliotheken, die Datenberge der NSA oder Open Data: Die digitale Welt ist durch so viele unterschiedliche Phänomene und Entwicklungen gekennzeichnet, dass es nicht leicht erscheint, sie auf gemeinsame Begriffe zu bringen. Felix Stalder, Professor für digitale Kultur in Zürich, versucht es in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ dennoch.
Stalder geht davon aus, dass diese Kultur nicht durch „das Internet“ entstanden sei. Er beschreibt sie als Resultat gesellschaftlicher Tendenzen, die sich bereits lange zuvor entwickelt haben. Sie wurden allerdings durch Technologien beschleunigt und aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext gelöst. So haben sie eine die Gesellschaft prägende Kraft gewonnen.
Zu diesen Entwicklungslinien, die sich über mehrere Jahrzehnte entfaltet haben, zählt er etwa den Strukturwandel der Wirtschaft, die immer stärker auf Produktion und Austausch von Wissen beruht. Ebenso widmet sich Stalder der gesellschaftlichen und kulturellen Liberalisierung, wie sie etwa seit den Siebzigerjahren durch die Schwulenbewegung vorangetrieben wurde.
Auch Videogruppen oder Alternativmedien, wie sie in den Achtzigerjahren entstanden sind, führt er an. All diese Tendenzen stehen für eine Entwicklung, die in die gegenwärtige Kultur mit einer „Flut an Bedeutungsansprüchen“ mündet. Unter „Kultur“ versteht er nicht nur, was man im Alltag darunter verstehen könnte, zum Beispiel Bücher, Theater oder Umgangsformen. Nach Stalders Verständnis geht es um Handlungen, Artefakte oder Institutionen, die die Welt etwa in schön und hässlich, gut und schlecht ordnen und dadurch „soziale Bedeutung“ erschaffen.
„Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur“
Was wir über die Welt wissen, was als legitime Kultur gilt, wird dabei nicht mehr nur durch wenige Experten und Einrichtungen festgelegt. Immer mehr Stimmen wetteifern in den „Feldern kultureller Auseinandersetzungen“ darum. „Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat“, so Stalder.
Diese „Erweiterung der sozialen Basis der Kultur“ wird durch die digitale Vernetzung noch einmal multipliziert. Wir alle posten, liken und verlinken – was gerade wichtig ist, löst sich in Milliarden von Verweisen auf. Was digital vorliegt, wird außerdem zum Material, das in immer neuen Bezügen auftaucht. Remix, Parodie, Mashup und andere Techniken sind aus der Kunst in den Alltag gewandert.
Die Kultur der Digitalität sei daher durch „Referentialität“ geprägt; Stalder macht das als ihr erstes Merkmal aus. Ordnung im Chaos stiften dabei immer weniger die Parteien, Vereine, Gewerkschaften und die anderen „großen Einrichtungen aus der Spätphase der Gutenberg-Galaxis“. Vielmehr entstehen neue „gemeinschaftliche Formationen“ um so unterschiedliche Dinge wie „Netzpolitik, illegale Straßenrennen, rechtsextreme Musik, Körpermodifikationen oder eine freie Enzyklopädie“.
Die ständig wachsende Masse an Informationen und Daten wird aber erst durch technische Prozeduren des Filterns, Sortierens und Auswertens beherrschbar. Neben „Referentialität“ und „Gemeinschaftlichkeit“ tritt, so Stalder, die „Algorithmizität“ als drittes Merkmal der gegenwärtigen Kultur.
Postdemokratie oder Commons?
Diese „Kultur der Digitalität“ kann sich Stalder zufolge mit zwei gegenläufigen politischen Dynamiken verbinden: dem Projekt der „Postdemokratie“ einerseits, dem der „Commons“ andererseits. Beide Tendenzen schöpften die Möglichkeiten aus, die die digitalen Technologien eröffnet haben.
Die „Postdemokratie“, in der die Demokratie nur noch als Fassade existiert, sieht Stalder auf Plattformen wie Facebook bereits weitgehend installiert. Zwar können wir, die Nutzer „an den Benutzeroberflächen“ nahezu grenzenlos kommunizieren und unsere Optionen erweitern. Die Rückseite der Plattform aber, auf der die Regeln gemacht, in Code umgesetzt und Features ausgerollt werden, bleibt unserem Einfluss fast vollständig entzogen. „Smarte“ Technologien und staatliche Überwachungsprogramme bringen die postdemokratische Entwicklung in immer mehr Lebensbereiche, so die düstere, aber wohl realistische Seite seiner Beschreibung.
Auf der anderen Seite gibt es die „Commons“ – gemeinschaftlich produzierte und verwaltete Ressourcen. Auch sie prägen die digitale Kultur, wenn auch als schwächer ausgebildete Tendenz, wie Stalder feststellt. Erprobt in den Gemeinschaften um freie Software, hat sich das „Commoning“ über Wikipedia und Openstreetmap in weiteren Bereichen etabliert, weil die digitale Vernetzung komplexe Organisationsaufgaben effektiv lösbar gemacht hat. Das ist noch keine „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“, wie sie Jeremy Rifkin ausruft, aber Stalder sieht sie als Teil eines tiefgreifenden Wandels, der auch andere Infrastrukturen wie die städtische Strom- und Wasserversorgung erfassen könnte.
Viele der von Stalder beschriebenen Entwicklungen und Phänomene sind nicht neu, wenn man sie für sich betrachtet. „Kultur der Digitalität“ verknüpft aber eine Vielzahl von Theorien zu einem neuen Bild. Stalder bezieht sich etwa auf Yochai Benkler, Colin Crouch, Michael Giesecke und viele andere. So erreicht er eine nicht gerade geringe theoretische Flughöhe, die an Begriffen wie „Referentialität“ oder „Algorithmizität“ ablesbar ist. Aber gerade aus dieser Perspektive macht er deutlich, wie vielgestaltig die digital geprägte Kultur der Gegenwart ist und mit welch unterschiedlichen Entwicklungen sie sich verbinden kann. Wohin die „Kultur der Digitalität“ führt, ist noch nicht ausgemacht, so die gute Nachricht darin.
Felix Stalder, Kultur der Digitalität, 283 S., Suhrkamp (Print und E-Book), EUR 18,-
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