Das Wunderland muss noch warten

Der Mathematiker Clive Humby erkannte bereits vor vielen Jahren den Wert unserer Daten. Im Jahr 2006 sagte Humby: „Daten sind das neue Öl.“ Sind Daten tatsächlich der Rohstoff des 21. Jahrhunderts? Auf viele Unternehmen trifft dieser Spruch zu. Doch die meisten Nutzer kennen den Wert ihrer Daten nicht.
Nie zuvor gab es so vielfältige Möglichkeiten, Daten zu sammeln. Nie zuvor lagerten solch enorme Datenmengen auf den Servern und konnten so leicht verknüpft werden. Der technische Fortschritt vollzieht sich so rasant, dass Daten selbst dann auf Vorrat gesammelt werden, wenn noch gar nicht klar ist, zu welchem Zweck sie später überhaupt ausgewertet werden sollen. Man spricht dabei von Big Data.
Wir selbst liefern diese Daten. Wir tragen Uhren, die unseren Puls messen. Wir tragen Kleidung, die unsere Körperfunktionen überwacht, und Schuheinlagen, die unsere Schritte zählen und uns den Weg weisen. Wir senden bewusst und unbewusst unsere Daten, die ständig aufgezeichnet und verwertet werden. Selbst Haushaltsgeräte sammeln mit. Vor allem im Gesundheitsbereich spielt Big Data eine große Rolle und liefert der Medizin, aber auch Versicherungen wichtige Erkenntnisse.
Jedes Gerät könnte bald Daten sammeln
Das „Internet der Dinge“ entwickelt sich so rasant, dass bald Heizungen unseren Energieverbrauch steuern und wissen, wann wir zu Hause sind; dass Alarmsysteme und Rauchmelder mit Rechenzentren kommunizieren und die Bewohner vor Gefahren warnen. Und es ist kein Ende abzusehen: Seit der Einführung des IPv6-Protokolls im Juni 2012 gibt es 340 Sextillionen neu verfügbare IP-Adressen, sodass jeder Kühlschrank und jede Armbanduhr problemlos eine eigene IP-Adresse bekommen können.
In der Logistik sind schnelle Entwicklungen zu erwarten – auf der Straße, im Wasser und in der Luft. Vor allem große Tech-Unternehmen wie Google interessieren sich dafür. Das zeigt allein die Liste der Unternehmenskäufe in den vergangenen zwölf Monaten: Unter den 42 Übernahmen waren allein vier Robotic-Firmen, vier Entwicklerfimen mit dem Spezialgebiet künstliche Intelligenz, ein Satellitenhersteller, drei Hersteller von Navigationssystemen, ein Anbieter von Gestenerkennungssoftware, Kamera-Tracking-Systemen, Home-Monitoring-Systemen und ein Entwickler von Augmented-Reality-Systemen.
Auch bei den Behörden sind die Begehrlichkeiten geweckt. An fast jeder neuen Ampel ist eine Kamera montiert, Kennzeichen-Scanner überwachen die Maut-Straßen und auch die Geheimdienste greifen auf Big Data zu – wie uns der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden vor Augen geführt hat.
Der Nutzer hat keine Wahl
An der Datensammlung verdienen zunächst Firmen, die die Infrastruktur und die Tools für das sogenannte Data Mining herstellen und vertreiben. Datenanalyse als Dienstleistung ist relativ neu. Ohne diese Unternehmensberater wüssten Firmen, die massenweise Daten generieren, oft nicht, wie sie die Informationen auswerten und welche Entscheidungen sie auf deren Grundlage treffen sollten.
Das wichtigste Umsatzmodell bei Big Data ist und bleibt jedoch die Werbung. Daten werden gezielt genutzt, um maßgeschneiderte Anzeigen zu platzieren und das Kaufverhalten zu analysieren. Kein Nutzer erhält bei der gleichen Suchanfrage die gleichen Inhalte zu sehen. Im dritten Quartal des Jahres 2014 betrug der Umsatz von Facebook 3,2 Milliarden Dollar, davon waren allein 2,9 Milliarden Euro Werbeeinnahmen.
Die Nutzung von kostenloser Software hat nur auf den ersten Blick keinen Preis. All die Apps und Tools sind zugleich Datensammler. Der Nutzer füttert sie von der Installation an mit Informationen. Apps wie Google Maps helfen zwar bei der Orientierung und Nike Run motiviert Läufer. Doch im Grunde sind die hilfreichen Funktionen nur ein Abfallprodukt der Datensammlung. Der Nutzer hat dabei keine Wahl. Wenn er die Software anwenden will, dann muss er auch seine Daten preisgeben. Wie heißt es so schön: „Wenn etwas kostenlos ist, ist man nicht Kunde, sondern Produkt.“
Geld für Daten
Unsere Informationsökonomie muss dringend angepasst und reguliert werden. Nicht nur die großen Konzerne sollten Geld mit unseren Daten erwirtschaften, wir alle sollten die Hoheit über unsere Daten zurückgewinnen und vom Geschäftsmodell Big Data profitieren. Wir sollten daher über die Idee von kleinen Geldbeträgen an den Datengeber nachdenken, wie Jaron Lanier, der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, vorgeschlagen hat.
Seiner Meinung nach würden wir dann zwar ein komplexes Problem auf eine rein marktgestützte Lösung reduzieren, aber es wäre allemal ein guter Zwischenschritt, um die Sammlung von Daten zu Werbezwecken weniger attraktiv werden zu lassen. Mittelfristig würden kleine Geldbeträge an die Datenspender auch die Zentralisierung von Big-Data-Gewinnen bei wenigen großen Online-Plattformen zumindest aufweichen, argumentiert er. Wenn Daten aufgrund von Micropayments an die Datenlieferanten teurer werden, ist das Werbegeschäft weniger lukrativ und man konzentriert sich auf andere – sinnvollere – Geschäftsmodelle.
Laniers Ansatz müsste natürlich noch den Realitätscheck bestehen. Denkbar wären in diesem Zusammenhang verschiedene Lizenzierungsmodelle ähnlich wie bei urheberrechtlich relevanten Inhalten. Persönliche Daten sind zwar nicht das Ergebnis einer geistigen Schöpfung wie Werke, aber auch sie haben einen Wert.
Wert entsteht durch Zusammenführung
Doch was sind unsere Daten eigentlich wert? Beim Adressen-Anbieter Schober erhält man Informationen über Privatpersonen oder Unternehmen für wenige Cent bis zu einem Euro pro Angabe und Person. Die Financial Times kam bei einer Befragung von US-Firmen, die mit Daten handeln, auf ähnliche Werte. Daten über Gesundheit und Wendepunkte im Leben wie Heirat, Scheidung und Schwangerschaft sind am teuersten.
Diese Erhebungen werden jedoch dem tatsächlichen Wert von Big Data nicht gerecht. Dessen Wert besteht eben nicht in den einzelnen Daten, sondern in der massenhaften Verkettung der Informationen.
Die Firma Backupify hat versucht, den Preis von Daten zu ermitteln, indem sie den Unternehmenswert mit den Inhalten auf Plattformen wie Facebook und Twitter verglichen hat. Dabei kam heraus, dass etwa Facebook, um eine Unternehmensbewertung in Höhe von 10 Milliarden zu erreichen, insgesamt 845 Millionen Nutzer braucht. Twitter bräuchte 140 Millionen, Linkedin 96 Millionen Nutzer. Nach dieser Berechnung wäre der Datenwert des einzelnen Nutzers schon wesentlich höher.
Niemand wird gern überwacht
Wir sind noch am Beginn der Wertbestimmung, ein Anfang ist allerdings getan. Die Vermarktung der eigenen Privatsphäre scheint ein notwendiger Zwischenschritt hin zu mehr Datenhoheit zu sein. Dort, wo der Datenschutz im Zeitalter von Big Data versagt, würden dann zumindest die Regelungen des E-Commerce mit ihren Transparenz-, Informations- und Widerrufsregeln greifen.
Doch damit nicht genug. Neben Daten, die verkauft werden, muss es zusätzlich eine Open-Data-Kultur geben. In engen Grenzen sollten öffentliche oder streng anonymisierte persönliche Daten auch von der Allgemeinheit oder zu wissenschaftlichen Zwecken frei genutzt werden können. Es muss aber Daten geben, die unantastbar bleiben, die nicht verkettet und gespeichert werden. Verkünder des Post-Privacy-Zeitalters sehen gern darüber hinweg, dass viele auf ihre Grundrechte verzichten, ohne es zu merken. Fast nie geben die Nutzer ihre Privatsphäre bewusst auf, auch wenn es oft heißt, man habe nichts zu verbergen.
Niemand wird gern überwacht. Es ist längst wissenschaftlich belegt, dass Dauerüberwachung jeglicher Art zu einer Veränderung des Verhaltens der Betroffenen führt, insbesondere zu immer mehr Angepasstheit und Normverhalten. Dieses Verhaltensmuster wird als Panoptismus beschrieben. Die dauerhafte Überwachung lässt sich vielleicht nur durch begrenzt haltbare Daten oder dauerhafte Anonymisierung umgehen. Dann benötigen wir aber eine Anonymisierung, die nicht über Umwege leicht wieder aufgehoben werden kann.
Selbst Google experimentiert schon in diese Richtung mit dem Projekt „Rappor“: Daten werden nach dem Zufallsprinzip gesammelt, ohne dabei Rückschlüsse auf das tatsächliche Nutzerverhalten zu ziehen. Daten können zusätzlich ein Haltbarkeitsdatum erhalten, sodass eine unbegrenzte Nutzung nicht möglich wäre. Daten, die nach einer bestimmten Zeit unlesbar werden, können auch nicht später von fremden Geheimdiensten angezapft werden.
Wir brauchen eine erweiterte Debatte über Big Data: Sicherheitstechnische Fragen, Regulierung und neue Verwertungsmodelle müssen geprüft werden. Das Wunderland mit null Grenzkosten, muss dann wohl noch so lange warten, bis wir die Interessen besser ausbalanciert haben – um zu verhindern, dass die Geschichte von Big Data eine Geschichte der Kolonialisierung wird.
Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
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