Hal Varian: Das Urheberrechtssystem ist skandalös ineffizient
An der Grundidee geistiger Eigentumsrechte, so Varian, sei festzuhalten, aber das aktuelle System sei zu extrem. So sei ein universeller Zugang zu Wissen heute zwar technisch realisierbar, es fehle aber an einem Rechtssystem, das die richtigen Anreize dafür schafft. Am Rande der Konferenz Wizards of OS 4 sprach Jens Ihlenfeld mit Varian.
iRights.info: In rund sieben Jahren wird der in Europa 50 Jahre geltende Urheberrechtsschutz für das erste Beatles-Album „Please Please Me“ auslaufen, das im Jahre 1963 erschienen ist. Die Musikindustrie fordert mit Verweis auch auf diesen Fall eine Ausdehnung auf 95 Jahre. Glauben Sie die Schutzfrist wird wieder einmal verlängert?
Varian: Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass die Europäer etwas sensibler sind, was dieses Thema angeht. Der Einfluss der Unterhaltungsindustrie ist hier nicht so groß, so mein Eindruck, aber ich kann mich da irren.
Halten Sie denn eine Verlängerung der Schutzfrist für sinnvoll?
Nein, eine nachträgliche Verlängerung ist ganz sicher nicht sinnvoll. Auch eine Verlängerung um 20 oder 25 Jahre erscheint mir aus ökonomischer Sicht wenig sinnvoll.
Unter anderem zusammen mit Georg Akerlof, Kenneth Arrow, James M. Buchanan, Ronald Coase und Milton Friedman schrieben Sie 2002 in einer Stellungnahme an den Obersten Gerichtshof der USA, eine Verlängerung des Urheberrechts um 20 Jahre erhöht den Wert der Rechte nur um 0,33 Prozent. Die Musikindustrie argumentiert aber, man könne mit Songs der Beatles oder von Elvis heute noch gutes Geld verdienen.
Aber was zählt, sind doch die Anreize zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Werk entsteht. Künstler wie Elvis oder die Beatles wussten doch damals nicht, wie viel Geld man mit ihrer Musik verdienen kann. Sie hatten damals aber ganz offenbar genug Anreize, Musik zu machen. Es ist nicht sinnvoll, diese Anreize im Nachhinein zu erhöhen.
Mit zunehmender Dauer der Schutzfristen stellt sich aber noch ein ganz anderes Problem, es gibt „Orphan Works“ (verwaiste Arbeiten), also Inhalte, deren Urheber kaum oder gar nicht zu ermitteln sind.
Absolut. Zum Thema „Orphan Works“ habe ich gerade etwas veröffentlicht. [Copyright Term and Orphan Works, Anm. d. Red.] Ich halte es für einen Skandal, dass wir es hier mit einem derart ineffizienten System zu tun haben.
In „Copyright Term and Orphan Works“ werden zwei mögliche Lösungen diskutiert: zum einen ein umfassendes Register urheberrechtlich geschützter Werke, zum anderen eine „Safe-Harbour-Regelung“ – wer trotz einer ernsthaften Suche den Urheber eines Werkes nicht ausfindig machen kann, muss keine Strafe befürchten, wenn er dessen Werk ungefragt nutzt. Beide Ansätze würden das Problem der „Orphan Works“ beseitigen?
Diese Lösungsansätze hat das US-Copyright-Office vorgeschlagen und ich unterstütze diese Ansicht. Die beiden Ansätze hängen aber zusammen: Gibt es eine Safe-Harbour-Regelung für Orphan-Works, dann schafft dies für Rechteinhaber einen Anreiz, ihre Werke zu registrieren. Dies macht es einfacher, einen Rechteinhaber ausfindig zu machen und erhöht dessen Chancen, für die Nutzung seiner Rechte eine Vergütung zu erhalten. Wenn alsoder urheberrechtliche Schutz ausgedehnt wird – was mir nicht gefällt, aber Tatsache ist –, dann ist es doch das Mindeste, die Unstimmigkeiten zu beseitigen, die eine Nutzung geschützter Werke erschweren. Technische Gründe sprechen nicht dagegen – ein solches Register lässt sich leicht schaffen, vielmehr geht es darum, Anreize zu schaffen, damit es auch genutzt wird.
Creative Commons als Lösung?
iRights.info: Die Strafen, die in den USA bei Urheberechtsverletzungen drohen, sind allerdings recht hoch – sie können bis zu 150.000 US-Dollar pro Werk betragen. In dem Aufsatz argumentieren Sie, dies sei auch sinnvoll, da das Risiko, erwischt zu werden, relativ gering ist. An wen soll das Geld gehen – den Rechteinhaber?
Varian: Nun ja, darüber gibt es einige Diskussionen, aber ich denke, in der aktuellen Situation wird das Geld zumeist an den Rechteinhaber gehen. Es wäre aber auch ein System denkbar, das sowohl eine Kompensation für den Rechteinhaber als auch eine Strafe vorsieht. Ist die Kompensation für den Geschädigten aber zu hoch, schafft dies wieder den Anreiz, die eigenen Rechte verletzen zu lassen. Die vorgeschlagene Regelung um Thema „Orphan Works“ sieht explizit vor, dass, wer sorgfältig nach dem Rechteinhaber sucht, nur die normale Lizenzgebühr zu entrichten hat. Mit einer sorgfältigen Suche ist man also aus dem Schneider, das halte ich für eine gute Idee.
Das Problem der „Orphan Works“ spitzt sich aber auch durch eine rapide wachsende Menge von „User-Generated-Content“ zu. Welchen Beitrag zu einer Lösung können Projekte wie Creative Commons hier leisten?
Ich halte Creative Commons für sehr wichtig. Angenommen, Sie sind auf einer Veranstaltung und machen ein Foto – vielleicht nicht Sie als Journalist, sondern als normaler Bürger –, stellen dies ins Internet und es wird von der Presse aufgegriffen. Es wird dann zunehmend schwieriger, den Urheber zu ermitteln, denn anhand des Fotos ist dies in der Regel nicht möglich. Die Situation wird unübersichtlich. Es geht darum, überhaupt irgendeine Art der Lizenzierung zu nutzen, beispielsweise Creative Commons, um anzuzeigen, ob ein Bild genutzt werden kann oder nicht.
Betrachten wir einen anderen Aspekt des Urheberrechts: Tauschbörsen und Filesharing. Die Inhalte-Industrie auf der einen Seite spricht in diesem Zusammenhang von Piraten, die Musik stehlen, während Tauschbörsen-Nutzer oft argumentieren, es werde niemandem etwas weggenommen, die Werke, die sie sich per Filesharing beschaffen, hätten sie ohnehin nicht gekauft. Gibt es aus ökonomischer Sicht einen Unterschied zwischen geistigem und physischem Eigentum?
Nun, geistiges Eigentum ist immer ein Kompromiss, denn wie Sie richtig anmerken: Einmal erstellt sind die direkten ökonomischen Kosten der Reproduktion praktisch null. Manche Werken bedürfen aber einiger Anreize, damit sie überhaupt entstehen. Wie man aber weiß, erhalten die eigentlichen Urheber oft nicht sehr viel für die Schaffung ihrer Werke, ihre Motivation hat nicht primär etwas mit ökonomischen Anreizen zu tun. Aber ein großer Teil der Infrastruktur, also derer, die Urhebern die Tür zu den Märkten öffnen, wollen in der Regel finanziell vergütet werden. Meiner Meinung nach bedarf es daher geistiger Eigentumsrechte, nur das aktuelle System ist zu extrem in dieser Hinsicht. Schaut man in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, findet man in Bezug auf geistiges Eigentum dort die Formulierung „für eine begrenzte Zeit“. Die Frage ist nun, was ist mit einer „begrenzten Zeit“ in diesem Zusammenhang gemeint? Ich denke, die Antwort ist ganz einfach: 14 Jahre. Dies war damals die vorgesehene urheberrechtliche Schutzfrist. Ich glaube nicht, dass damit 95, 75 oder auch 28 Jahre gemeint sind.
Das sah der US-Supreme-Court aber anders.
Die Logik des Supreme Court war: Jede begrenzte Zeit plus ein Jahr ist ebenfalls eine begrenzte Zeit und damit ist jede Zeitspanne in Jahren eine begrenzte Zeit.
Anreize für einen universellen Zugang zu Wissen
iRights.info: Sie haben sich vor kurzem mit dem Google-Library-Projekt beschäftigt und sprechen sich in dem Artikel klar dafür aus, im Internet nach dem „Opt-out-Prinzip“ zu verfahren, das heißt, erst einmal wird alles erfasst und nur wenn jemand die Nutzung seiner Werke explizit untersagt, werden diese entfernt. Die Umkehrung, einen „Opt-in-Ansatz“, halten Sie für keine akzeptable Lösung. Mancher Rechteinhaber sieht das aber anders.
Varian: Larry Lessig hat dazu auf der Konferenz Wizards of OS in Berlin ein gutes Beispiel angeführt. Denken Sie an die Fotografie: Einst hat man kontrovers diskutiert, ob jemand eine andere Person ohne Erlaubnis fotografieren darf oder nicht. Wenn ich nun ein Foto vom Potsdamer Platz machen würde, während rund 200 Leute über den Platz laufen, soll ich dann jeden fragen und mir eine schriftliche Erlaubnis geben lassen, wenn ich das Foto veröffentlichen will? Das wäre lächerlich und so wurde entschieden, dass dies keiner Genehmigung bedarf – eine sinnvolle Lösung, die Transaktionskosten minimiert. Mit Seiten im Web verhält es sich nicht anders, denke ich. Es ist doch weitgehend akzeptiert, dass eine öffentliche Webseite von einer Suchmaschine erfasst wird. Bräuchte man dazu vorab eine Erlaubnis, würde dies ziemlich hohe Kosten verursachen und eigentlich wollen wir, dass gesellschaftliche Institutionen die Transaktionskosten minimieren und nicht maximieren.
Das bringt uns zum Thema eines universellen Zugangs zu Wissen. Dieser ist technisch möglich, schreiben Sie. Was fehlt, ist die rechtliche Grundlage, die die dazu notwendigen Anreize schafft. Ist Opt-Out eine Voraussetzung dafür?
Richtig, Opt-Out schafft positive Anreize dazu und umgeht negative Anreize, die zu übertriebener Vorsicht führen würden. Die Idee, auf eine Erlaubnis vorab zu verzichten, aber zugleich geistiges Eigentum über einfache Opt-out-Mechanismen zu respektieren, ist eine vernünftige Lösung und die macht sich Google zu Nutze.
Welche weiteren Anreize sind für einen universellen Zugang zu Wissen notwendig?
Alternative Lizenzsysteme wie Creative Commons spielen hier sicher eine Rolle, stecken aber noch in ihren Kinderschuhen. Ich habe mich näher mit vergriffenen Werken („out of print works“) beschäftigt, also Werken, die auf kommerziellem Weg praktisch nicht zu erhalten sind – wertvolle Ressourcen, die unnötigerweise brach liegen. Aus technischer Sicht ist es nicht notwendig, dass Bücher oder auch andere Medien vergriffen sind und Google sucht nach Wegen, dieses Material wieder verfügbar zu machen.
Sie haben sich unter anderem mit Themen wie Systeme, Lock-In, Wechselkosten und den Vorteilen offener Systeme auseinander gesetzt. Betrachtet man den Markt für Online-Musik, findet man vor allem zwei dominierende Marktteilnehmer: Apple mit seinem proprietären System und Microsoft, deren System im Vergleich zu Apples Angebot oft als die offene Alternative dargestellt wird. Wie schätzen Sie diesen Markt ein?
Die wirkliche Marktmacht liegt in diesem Bereich nicht zwingend bei den Inhalteanbietern, sondern bei den Anbietern von Digital-Rights-Management-Systemen (DRM). Ein effektives DRM-System muss im Markt eine hohe Verbreitung haben und zum Standard werden. Hat man einen solchen Standard etabliert, hat man starke Lock-In-Effekte und Wechselkosten. Wer einen solchen Standard kontrolliert – sei es Microsoft oder sei es Apple –, verfügt gegenüber den Inhalteanbietern über eine starke Machtposition. Bei Kabelfernsehanbietern ist dies noch viel stärker ausgeprägt. Die Anbieter kontrollieren, welche Inhalte die Nutzer erreichen, schlagen aus ihrer Position Kapital: Sie knöpfen dafür sowohl den Inhalteanbietern als auch den Empfängern Gebühren ab.
Zum Thema Wechselkosten und Lock-In findet man bei Ihnen die Aussage, Open Source biete einen besonderen Schutz gegen künftige Preiserhöhungen. Wie ist das zu begründen?
Mittlerweile haben viele das Problem von Wechselkosten erkannt, also die Tatsache, dass der Preis eines Systems von vielen Faktoren abhängt und nicht in erster Linie durch dessen Kaufpreis bestimmt wird, sondern auch von den Preisen, die für Updates oder zusätzliche Software, die in der Zukunft benötigt wird, der Integration in das Gesamtsystem, Schulungskosten und so weiter. Wenn es nun darum geht, eine Entscheidung zur Adaption einer bestimmten Software zu treffen, gilt es, die Gesamtkosten über den ganzen Lebenszyklus zu betrachten. Bei Open-Source-Software hat man einen vollständigen Zugriff auf Bestandteile und damit die Sicherheit, die Software bei Bedarf anpassen zu können. Damit hat man schon zum Zeitpunkt der Entscheidung die Sicherheit, nicht später in eine Sackgasse zu laufen, was bei proprietärer Software immer eine latente Gefahr darstellt.
Inwiefern hat Open Source die Wirtschaft und auch Geschäftsmodelle verändert?
Google wäre beispielsweise ohne Open Source praktisch nicht denkbar. Google nutzt mehrere hunderttausend Server und es wäre ziemlich teuer, wenn Google für jeden neuen Server Lizenzgebühren abführen müsste. So kann Google Software wirklich ausreizen und erweitern, um sie an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Open Source ist dadurch ein Kernbestandteil des Geschäfts. Mittlerweile gibt Google auch Software an die Open-Source-Community zurück und unterstützt unter anderem die Mozilla Foundation.
Hal R. Varian ist Professor an der „School of Information Management and Systems“ (SIMS), der Haas School of Business und dem Department of Economics an der Universität Berkeley. Er war Gründungsdekan der SIMS, lehrte unter anderem am MIT, in Oxford und den Universitäten Stanford und Michigan und erhielt Anfang 2006 durch die Universität Karlsruhe einen Ehrendoktortitel verliehen. Varian hat diverse Bücher veröffentlicht, darunter „Intermediate Microeconomics“ und „Microeconomic Analysis“, die an vielen Universitäten im Bereich Mikroökonomie zur Pflichtliteratur gehören. Zusammen mit Carl Shapiro steckt er hinter dem Buch „Information Rules – A Strategic Guide to the Network Economy“. Zudem schreibt Varian eine monatliche Kolumne für die New York Times und berät Google.
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