Digitale Courage: Internet-Pionierin und Datenschützerin Rena Tangens im Portrait

Rena Tangens, Digitalcourage e. V. (Fotocredit: Veit Mette)
Welche Ergebnisse in einer Suchmaschine als relevant gelten und angezeigt werden, ist eine Frage der dahinter stehenden Algorithmen – und damit auch eine Frage der Definitionsmacht.
Die Datenschützerin Rena Tangens fordert aktuell mit ihrem Verein „Digitalcourage“, einen europäischen Suchindex aufzubauen, um alternative Suchmaschinen zu Google in Europa entwickeln zu können. Der Vorschlag von Digitalcourage hat es in die Empfehlungen zur Digitalisierung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) geschafft.
Der Vorschlag stellt für Tangens ein „positives Projekt“ dar, das der EU „gut zu Gesicht stünde“. Und er unterstreicht, dass Datenschützer*innen eben nicht nur gegen, sondern für neue Projekte kämpfen.
Wie aus Rena Tangens eine engagierte und einflussreiche Datenschützerin wurde und sich ihr Verein Digitalcourage in Politik und Tech-Szene Gehör verschaffte, das erzählt dieses Portrait.
Mit dem CCC in der Galerie
Es war bereits in den 1980er Jahren die Begeisterung für die neuen Möglichkeiten der Computer- und Internettechnik, die Tangens dazu animierten, Technik, Datenschutz und Kunst zusammen zu denken.
Gemeinsam mit dem Netzaktivist und Künstler padeluun gründete Tangens 1984 in Bielefeld eine Galerie, um Kunst und Technik miteinander zu verbinden: Es wurde keine käuflich erwerbbare Kunst ausgestellt, die Galerie sollte zu einem Ort für Kommunikation und zum Experimentieren mit der neuen Computertechnik werden und somit den Rahmen für inspirierende Ereignisse bieten.
So luden Tangens und padeluun „die Nerds vom Chaos Computer Club“ (CCC) in ihre Galerie ein, wie Tangens beschreibt. Drei Tage und Nächte waren die Hacker als Kunstevent in der Galerie. Es war die Zeit, in der der CCC kurz zuvor öffentlichkeitswirksam einen BTX-Hack der Hamburger Sparkasse durchgeführt und damit provoziert hatte, dass die Sparkasse dem CCC einen sechsstelligen Betrag schulde. BTX steht für „Bildschirmtext“ und bezeichnet eine Art Vorläufer des Internets, mit dessen Hilfe online kommuniziert werden konnte.
Die neue Online-Welt mitgestalten
Wenn Tangens von dieser Zeit erzählt, dann ist der Pioniergeist noch zu spüren, das Ausloten der Möglichkeiten, etwa die Nachrichten des nächsten Tages im Vorhinein bei der Washington Post zu lesen. Verboten sei dies nicht gewesen, weil es noch keine entsprechenden Gesetze gab.
„Bei diesen Aktionen ist der Funke auf uns übergesprungen. Das war so spannend, dass wir gesagt haben, wir wollen diese neue Welt, die sich da online auftut nicht nur erkunden, sondern wir wollen sie mitgestalten“, so Tangens.
Gleichzeitig wurde sie durch diese Erfahrungen zur Datenschützerin: „Wenn man sieht, an welche Daten Hacker kommen können, dann ist es klar, dass Datensparsamkeit, also so wenig Daten wie möglich überhaupt abzuspeichern, ein wichtiger Grundsatz sein muss.“
Als Frau in einer Männerdomäne
Doch die Künstlerin wollte nicht nur die Online-Welt mitgestalten, sondern auch die reale, männerdominierte Tech-Szene: Als sie 1988 zum ersten Mal beim Chaos Computer Congress teilnahm, war außer ihr nur eine weitere Frau vor Ort.
Zusammen gründeten die beiden Frauen in Anlehnung an den Begriff des „Hackers“ das Frauennetzwerk „Haecksen“ innerhalb des CCCs. Denn die Strukturen der Männerdomäne machten es den Frauen schwer, in der Szene Fuß zu fassen.
Nun könnten Kritiker*innen hinterfragen, ob ein Frauennetzwerk besser als ein Männernetzwerk sei, stehen letztere doch oftmals für Ausschlussmechanismen oder Hinterzimmerentscheidungen. Für Tangens ist klar, dass es bei den „Haecksen“ nicht um Klüngeleien oder gar Machtmissbrauch geht, sondern um Erfahrungsaustausch zwischen Frauen und gegenseitiges Empowerment. Die Workshops, die Tangens im CCC für Frauen anbot, führten dazu, dass in den folgenden Jahren Frauen dort präsenter wurden.
Wie sich die Tech-Szene in den vergangenen 30 Jahren insgesamt verändert hat, sieht Tangens zwiespältig: „Es gibt heute einerseits Top-Programmiererinnen, die mit großer Selbstverständlichkeit etwa an Verschlüsselungsalgorithmen arbeiten oder zu KI kritisch forschen. Auf der anderen Seite haben die Social Media ein Frauenbild gepusht, das Frauen wieder auf Selbstoptimierung und ein perfektes Aussehen reduziert.“
Auch innerhalb des CCCs spiegelt sich wieder, dass die Tech-Szene keine einheitliche ist: „Es gibt sehr offene und neugierige Menschen, die gemeinsam an interessanten Themen arbeiten wollen, und es gibt andere, die sehr extrem eine Macho-Kultur durchziehen und eine frauenfreie Welt fantasieren, wie etwa teilweise in der Gamer-Szene.“
„Zombie“ anlasslose Datenspeicherung
Für viele Datenschützer*innen spielte die Volkszählung in den 1980er Jahren eine wichtige Rolle für ihr Datenschutz-Engagement. Das gilt auch für Rena Tangens: Die erfolgreiche Verfassungsklage gegen die Volkszählung im Jahr 1983 führte nicht nur dazu, dass das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ festgeschrieben wurde.
Auch nahm das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Summe der Überwachung in den Blick. Für Tangens eine Rechtsprechung, die sie bis heute als elementar ansieht.
Wenn etwa Bürger*innen aufgrund einer umfassenden Überwachung befürchten, dass ihr Verhalten – etwa die Teilnahme an einer Versammlung – negative Folgen für sie haben könnte und sie sich deshalb anders verhielten, dann beträfe das nicht nur die individuelle Freiheit der betroffenen Person, sondern hätte auch Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.
Denn Kritik, Ideen und das Engagement dieser Menschen könnte nicht mehr in den allgemeinen Pool eingehen, so Tangens. Damit würde langfristig auch eine Weiterentwicklung der Gesellschaft verhindert.
Trotzdem taucht Tangens zufolge die Forderung nach einer Vorratsdatenspeicherung, also einer anlasslosen Speicherung aller Verkehrs- und Standortdaten, „zombieartig“ immer wieder auf. Eine bereits tot geglaubte Idee, die trotzdem immer wieder aufs Neue lebendig wird.
Mit dem Digitalcourage e. V. zur „Überwachungs-Gesamtrechnung“
Bereits 1987 gründete Tangens den Verein „Foebud“, der später zu „Digitalcourage“ wurde. Gemeinsam mit anderen Datenschützer*innen des „Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung“ reichte sie mit Digitalcourage 2008 eine Verfassungsklage ein. Rund 35.000 Menschen hatten den Rechtsanwalt Meinhard Starostik damit bevollmächtigt.
Der bis dahin größten Verfassungsbeschwerde in Deutschland wurde 2010 stattgegeben und die bis dato anlasslos gespeicherten Daten mussten gelöscht werden. Das Bundesverfassungsgericht stärkte damit die Gesetzgebung aus den 1980er Jahren.
Alexander Roßnagel, Professor für Öffentliches Recht in Kassel, prägte daraufhin in der Neuen Juristischen Wochenschrift den Begriff der „Überwachungs-Gesamtrechnung“, auf die das Bundesverfassungsgericht abstelle: Bei jeder Einzelmaßnahme müsse geprüft werden, ob dadurch das Gesamtmaß der Überwachung überschritten werde.
Um den Begriff der „Überwachungs-Gesamtrechnung“ zu konkretisieren, machte Digitalcourage sich die Mühe, alle Gesetze, die seit dem Urteil des BVerfG 2010 zu den bestehenden Überwachungsgesetzen hinzugekommen waren, zu dokumentieren.
Irrglaube: Absolute Online-Transparenz gleich Sicherheit
Vor diesem rechtlichen Hintergrund verwundert es nicht, dass die Internet-Pionierin den maschinenlesbaren Personalausweis mit Fingerabdruck kritisch sieht. Genauso wie die E-Gesundheitsakte oder den Referentenentwurf des Innenministeriums, der vorsieht, die Steuer-ID für sämtliche Daten bei Behörden zu hinterlegen und zuordenbar zu machen.
Für viele drängt sich dabei die Frage auf: Braucht es nicht gerade eine sichere Authentifizierung, um die Digitalisierung in Verwaltung oder überhaupt Dienstleistungen voranzubringen und sicherer zu machen?
Für Tangens ist es ein falsches Narrativ, wenn man davon ausgeht, dass wir nur dann in einer sicheren Welt leben, wenn „jede*r jederzeit online identifizierbar ist“. So werde lediglich suggeriert, dass nichts Böses mehr passieren könne. Aber genau in solch einer überwachten Welt „wollen wir nicht leben“.
Ihre Forderung: „Wir müssen uns damit abfinden, dass Freiräume missbraucht werden können, gleichzeitig müssen wir der Polizei Möglichkeiten zur Verfolgung an die Hand geben. Aber: Wir dürfen aus Angst um die Demokratie diese nicht abschaffen.“
Big Brother Awards: Negativpreis für Firmen
Für die einen ist es Sammelwut und Kontrolle, für die anderen die Voraussetzung für mehr Digitalisierung. Aber nicht nur der Staat versucht hier beständig, sein Terrain zu vergrößern, sondern auch Konzerne: etwa durch die Auswertung von Suchmaschinenanfragen, Tracking im Internet oder durch Dienstleistungen im digitalen Finanzwesen.
Derartige Entwicklungen sieht Tangens kritisch. So vergibt Digitalcourage gemeinsam mit weiteren Organisationen seit dem Jahr 2000 in Deutschland jährlich die „Big Brother Awards“, einen Negativpreis für Firmen, Organisationen und teilweise Politiker*innen, die dem Datenschutz mit ihren Produkten, Gesetzen oder ihrem Vorgehen aus ihrer Sicht einen Bärendienst erwiesen haben.
Dass der Verein damit einen Kampf vergleichbar dem von David gegen Goliath führt, darüber ist sich Tangens im Klaren. „Während man an einer Sache vielleicht erfolgreich arbeitet, ziehen ein Dutzend andere an einem vorbei“, sagt sie und wirkt trotzdem nicht resigniert.
„Ehrenamtliche Enthusiasten gegen Konzerne”
Als „inspirierenden Erfolg“ nennt Tangens die Verleihung des Big Brother Awards 2003 an die Metro AG, die in einem Supermarkt in Rheinberg bei Duisburg zu Testzwecken mit RFID-Chips, also mit maschinenlesbaren Chips, an Produkten experimentierte.
Diese Chips können per Funk aus der Ferne ausgelesen werden. Im Zuge weiterer Recherchen stellte Digitalcourage fest, dass der Supermarkt diese Chips sogar in die Payback-Kundenkarte integriert hatte – durch die kontaktlose Auslesemöglichkeit wirkt der Vergleich mit einer Wanze nicht übertrieben.
Digitalcourage ging damit an die Öffentlichkeit – Medien weltweit berichteten. Die Metro AG, als damals drittgrößter Handelskonzern, zog die Karte zurück. Der Spiegel schrieb: „Es ist ein ungleicher Kampf – eine Handvoll ehrenamtlicher Enthusiasten gegen milliardenschwere Konzerne – doch er zeigt Wirkung.“
Auch die Bekanntheit von Digitalcourage nahm zu und die Mitgliederzahlen stiegen von 60 Mitglieder auf mittlerweile um die 3000, so dass der Verein nicht mehr nur ausschließlich ehrenamtlich agieren muss.
Aus dem kleinen Verein wurde eine Stimme, die Gehör findet. Nicht nur in der Tech-Szene, sondern auch in der Politik.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Textes war zu lesen, dass Rena Tangens den Verein Digitalcourage 2008 gegründet hatte. Dies ist durch eine redaktionelle Bearbeitung entstanden und nicht korrekt. Richtig ist das Gründungsjahr 1987. Wir haben den Fehler verbessert.
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