Der unsichtbare Müll der Informationsgesellschaft

Foto: Kairus
Sodom und Gomorra – das ist der Spitzname der Elektromüll-Deponie in Agbogbloshie, einem Stadteil der Millionenstadt Accra in Ghana, Westafrika. Auf einer Fläche von etwa 16 Quadratkilometern sammelt sich der Elektroschrott aus allen Ländern der Welt – auch aus Europa und Deutschland.
Die Menschen, die in Agbogbloshie leben, leben vom Müll. Sie nehmen die elektronischen Geräte auseinander, verbrennen das Plastik von den Kupferkabeln, um an das Metall zu gelangen und zerlegen Bildschirme, die Arsen, Quecksilber und Blei enthalten.
Durch das Verbrennen entstehen giftige Stoffe, die sich im Trinkwasser und im Boden anreichern und wieder in den Nahrungsmittelkreislauf gelangen. Laut Greenpeace sind die Bleikonzentrationen in Agbogbloshie hundertmal höher als erlaubt. Viele der Arbeiten werden von Kindern erledigt, die dadurch lebensgefährlichen Schadstoffen ausgesetzt sind.
Die Reste unserer digitalen Gesellschaft
Die Ausstellung „Behind the Smart World“ in Linz beschäftigt sich damit, was mit unseren alten Geräten, aber auch mit unseren alten Daten geschieht. Linda Kronman und Andreas Zingerle bilden das Künstlerduo Kairus. Sie arbeiten schon seit einiger Zeit an dem Thema. Ihr Interesse wurde erweckt, als sie sich mit Scammer-Netzwerken in Westafrika beschäftigten, die Betrug über das Internet organisieren. Dabei stießen sie auf die Halde in Agbogbloshie und entschlossen, die Recherchen in diese Richtung fortzusetzen.
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„Wir waren vier Wochen in Agbogbloshie, zwei Wochen davon mit einem Führer“, sagt Andreas Zingerle. Dort konnten sie 22 Festplatten kaufen und nach Europa zurückbringen. „Von sechs der 22 Festplatten konnten wir Daten kopieren. Vier Festplatten waren nicht einmal gelöscht, da war es ganz einfach. Die restlichen zwei Festplatten konnten wir mit Open-Source-Software wiederherstellen.“
Die Daten und die Hardware – Fotos, private Videos, Schulaufgaben, Chat-Protokolle, E-Mail-Adressen, Browser-Verläufe mit besuchten Webseiten und viel pornografischem Material – wurden daraufhin recycelt. In gemeinsamen Workshops mit eingeladenen Künstlern, die vom Netzkultur-Projekt Servus.at in Linz organisiert wurden, entstand daraus Kunst. Anfang des Jahres erschien das Buch „Behind the Smart World – saving, deleting and resurfacing of data“ mit Interviews und Essays, das als E-Book und im Web zu lesen ist.
Totgeglaubte Daten kehren zurück
Das zweite Ergebnis ist die gleichnamige Ausstellung, die noch bis zum 10. Juni 2016 in Linz im Kunstraum Goethestraße xtd. zu sehen ist. Einige der Künstler arbeiten dabei mit den gefundenen Daten und stellen sie auf unterschiedliche Weise zur Schau. Kairus.org etwa hat die auf einer Festplatte gefundenen Fotos ausgedruckt und in einem Fotoalbum zusammengestellt. Die Vorbesitzerin der Festplatte ist vermutlich Engländerin und wird in verschiedenen sehr privaten Alltagssituationen gezeigt: Mit ihren Eltern, ihrem Freund, beim Feiern.
Der Berliner Medienkünstler Martin Reiche hat gefundenes Porno-Material in eine dreiteilige ASCII-Animation umgewandelt. Hier sind es keine privaten Bilder, sondern gefundenes Material aus dem Netz, das verfremdet und neu zusammengestellt wurde: Kommerzielle Pornos, die als Tryptichon über die Bildschirme flimmern, allerdings umgewandelt in Buchstaben, Zahlen und Zeichen.
Andere Arbeiten beschäftigen sich mit den materiellen Resten: Raphael Perret hat einen Dokumentarfilm in einer indischen Elektroschrotthalde gedreht, in dem die Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen und ihr Handwerk reden. Die Forschungsgruppe „Times of Waste“ am Institut für experimentelles Design und Medienkulturen der Fachhochschule Nordwestschweiz zeichnet den Fluss des elektronischen Mülls nach, von der Region Basel zu den Deponien und Verwertungsorten der Welt.
Zombies der Medienkultur
Der finnische Medientheoretiker Jussi Parikka prägte 2011 zusammen mit Garnet Hertz den Begriff „Zombie Media“. Sie beschreiben damit „die lebenden Toten der Medienkultur“ und die Tatsache, dass die ausrangierten Geräte „eine der großten Bedrohungen für die Umwelt sind, indem sie verschiedendste Giftstoffe in die Umwelt entlassen“. Das Bild des Zombies verbindet beide Aspekte: die Daten, die auf den weggeworfenen Festplatten, wieder zum Leben erweckt wurden, und das Hardware-Material selbst, das im Recycling-Kreislauf weiterexistiert.
Eine Studie aus dem Jahr 2015, die Interpol, UN-Einrichtungen und weitere Beteiligte in einem gemeinsamen Projekt durchgeführt haben, besagt, dass in Europa jedes Jahr rund zehn Millionen Tonnen Elektroschrott produziert werden. Durch die schnellen Innovationszyklen von Technikgadgets entsteht immer mehr Müll, der wiederum nicht
ordnungsgemäß entsorgt wird. Fast die Hälfte dieses Schrotts landet nicht im Recyling, sondern im normalen Hausmüll und wird verbrannt.
Ausstellungen wie „Behind the Smart World“ machen sichtbar, was gerne verdrängt oder vergessen wird, aber ernsthafte Konsequenzen für den Alltag vieler Menschen hat. Derzeit überwiegend in den Ländern des Südens, aber auch in Europa. Die in der Ausstellung gezeigten Medienkünstler wollen darauf hinarbeiten, andere Konsumkulturen zu entwickeln, die einen Wieder- und Neugebrauch ermöglichen. Müll muss Material werden.
2 Kommentare
1 Vanessa Traumberger am 30. Juni, 2016 um 19:47
Verdammt, zu spät gesehen – läuft die AEC Ausstellung noch? Endlich nimmt sich jemand der Thematik an, gerade das AEC in Linz kommt mir hier immer wieder unter, weil sie diese aktuellen Themen sehr cool aufbereiten. Medienkunst scheint in Linz allgemein stark präsent zu sein, hoffe, dass sie hier noch weiter engagiert zur Sache gehen.
2 Valie Djordjevic am 30. Juni, 2016 um 23:47
Die Ausstellung war nicht im Ars Electronica Center, sondern im Kunstraum Goethestraße und wurde organisiert von Servus.at, einem unabhängigen Kultur-Internetprovider und Projektort in Linz. Sie hat nichts mit dem AEC zu tun.
Servus.at veranstaltet alle zwei Jahre die sehr empfehlenswerte Konferenz „Art meets Radical Openness“ [https://www.radical-openness.org/de], in deren Rahmen die Ausstellung stattfand.
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