Die Gedanken sind frei
Nicht alles im Netz wird unsichtbar. Manches wird auch sichtbar, ob wir das wollen oder nicht. Das gilt für unsere Profile, unsere persönlichen Daten und Lebensverhältnisse. Das Prinzip hat sich nicht verändert, seit 1991 mit der „Trojan Coffee Cam“ die erste Webcam an der Universität Cambridge online ging. Sie zeigte den Füllstand der einzigen Kaffeemaschine im Bereich des Computerlabors und ersparte Wissenschaftlern in weit entfernten Winkeln des Labors vergebliche Wege zum Kaffeenachschub. Heute werden nicht nur Füllstände von Kaffeekannen ins weltweite Netz übertragen, sondern millionenfach die Wetterdaten aus allen Winkeln der Welt, was sich tut in Fitnessstudios, auf Bowlingbahnen und in privaten Wohn- und Schlafzimmern.
Wenn sich nun die Timeline von Facebook so entwickelt, wie das Unternehmen es plant, dokumentiert sie künftig schlicht alles, was alle tun. Und tut sie das nicht, entsteht ein Problem. Kürzlich am Flughafen JFK: Wie immer wartet eine Riesenschlange an der Immigration, einige Fluggäste drohen ihre Anschlussflüge zu verpassen, weil es bei einem Einreisenden ein Problem mit dem elektronischen Eintrag gibt. Ein Stimmengewirr entsteht, aus dem man den Immigration Officer immer nur einen Satz sagen hört: „You should be in the computer“ – und wenn nicht, dann gibt es dich nicht, und du kommst hier auch nicht rein.
Die Nutzerinnen und Nutzer müssen gar nicht mehr durchgängig selbst aktiv werden, um Informationen zu posten. Unsere Aufenthaltsorte und Tätigkeiten werden nicht mehr nur durch unsere eigenhändig eingestellten Informationen und Fotos ausgeführt, sondern auch halb automatisch mithilfe von Apps, die mitzeichnen, welche Bar wir gerade betreten, welche Musik wir hören, welche Filme wir schauen, was wir gerade lesen, um unsere Freunde daran teilhaben zu lassen. „Frictionless Sharing“ nennt sich das in der Fachsprache der Netzunternehmer.
Das klingt gut, denn Friktionen sind oft mühsam. Andererseits entsteht nur dort Hitze, wo Reibung ist, wo Zustände nicht immer zueinanderpassen und Aushandlungsprozesse stattfinden müssen. „Kompromiss“ nennt man das im politischen Raum, „Erfahrung“ im menschlichen Leben. Wir brauchen die Friktionen, die nun in unserem allumfassenden digitalen Miteinander-Teilen genau vermieden werden. Und wir brauchen die Räume, in denen Reibung stattfinden kann, in denen Kompromisse und Lebensmodelle gefunden werden können, ohne dass alle Öffentlichkeit zuschaut. Wir brauchen Momente des Unbeobachtetseins, der Unsichtbarkeit, um mit uns selbst und anderen Menschen aushandeln zu können, wie wir sichtbar sein wollen und was von uns sichtbar sein soll.
In der Transparenzgesellschaft sind diese Räume nicht mehr vorgesehen. Die Phasen unseres Lebens, die wir nicht gerne dokumentiert hätten, werden ganz sicher auch irgendwie in der Timeline verzeichnet sein. Selbst wenn wir sorgsam darauf geachtet haben, keine Informationen über unsere Ausschweifungen bei Facebook zu posten, andere werden schon dafür sorgen, dass es geschieht. Soziale Netzwerke sind transitiv. Wenn A mit B und B mit C verbunden sind, dann ist in der Regel auch A mit C verbunden. Informationen, die ich meinem Facebook-Freundeskreis zur Verfügung stelle, bleiben also mitnichten sicher in diesem Kreis. Sie ziehen weiter durchs Netzwerk. Eine Studie am MIT in Cambridge, USA, hat bereits 2009 gezeigt, dass sich allein aus dem virtuellen Freundeskreis bei Facebook die sexuelle Präferenz einer Person berechnen lässt. Das Netz wird sich allumfassend und unbeschränkt über mich informieren und an mich erinnern, ob ich will oder nicht.
Lebenslanges Erinnern, totale Transparenz
Während wir seit Jahren darüber rätseln, wie wir das digitale Vergessen möglich machen können, um einen Rest an Privatheit zu sichern, geht es bei der Timeline um lebenslanges Erinnern. Während Internetexperten gar über die digitale „Reputationsinsolvenz“ nachdenken, um Nachsicht, Toleranz und die Chance auf den Neustart auch ins digitale Leben hinüberzuretten, schaltet Facebook auf totale Transparenz. Lebe so, dass jeder Schritt deines Lebens, alles, was du konsumierst, jeder Gedanke, den du hast, jederzeit für alle sichtbar ist – so lautet das implizite Motto. Die schöne neue Welt eines Lebens mit der virtuellen Schere im Kopf.
Der Philosoph Jeremy Bentham hat die Idee einer weitreichenden, selbstorganisierten Überwachung durch Öffentlichkeit in seinem Konstrukt des „Panopticons“ bereits im 18. Jahrhundert entwickelt. Was Bentham sich damals noch als Gebäude vorstellte, als Radialsystem, in dem der Wächter jeden im Gebäude befindlichen Menschen von einem Überwachungsturm in der Mitte aus sehen konnte, kann für die heutige, virtualisierte Form Modell stehen. Das digitale Panopticon entsteht aus der gegenseitigen Beobachtung der Menschen im Netz. Es bedarf keiner Mitte mehr und keines zentralen Wächters. Und doch kann die selbstorganisierte Beobachtung zum Identitätsmainstreaming à la Zuckerberg führen und womöglich gar zu einer digitalen Disziplinargesellschaft, wie sie Michel Foucault in analoger Form vorschwebte.
Erinnern wir uns doch wieder einmal an das Lied auf die Freiheit der Gedanken, das in seiner bekanntesten Version von Hoffmann von Fallersleben 1842 in dessen Schlesischen Volksliedern aufgearbeitet wurde. Da heißt es in der ersten Strophe:
Die Gedanken sind frei! Wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei: Die Gedanken sind frei!
Künftig brauchen wir nicht einmal mehr Pulver und Blei ins Feld zu führen, um unsere Gedanken außer Gefecht zu setzen, die digitale Technik mit ihren Algorithmen reicht aus. Die sortieren unsere im Netz geäußerten Gedanken schlicht nach Mustern, die uns einer Gruppe zuordnen: den Katzen- oder Hundeliebhabern, den Krimi- oder Sachbuchlesern, den Unverdächtigen oder Verdächtigen.
Wie dabei der Generalverdacht die Unschuldsvermutung ersetzt, zeigt der durch Edward Snowden ausgelöste Skandal um die umfassende Datenabsaugung und -auswertung der Geheimdienste in den USA und in Großbritannien, der im Juni 2013 öffentlich geworden ist. Im ersten Schritt werden die Daten gesammelt, im zweiten werden sie nach verdächtigen Hinweisen durchforstet. Das war einmal anders. Da brauchte man einen richterlichen Beschluss, um auf Daten zugreifen, zum Beispiel Telefone abhören zu können. Doch in Zeiten von Big Data ändern sich sogar die Grundvoraussetzungen einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.
In der digitalen Zeit sind die Systemeinstellungen einiger politischer Systeme längst auf totale Überwachung als default gesetzt worden. Das geschieht für die meisten Menschen im Unsichtbaren, und so soll es auch sein. Denn im Schutz der unübersichtlichen Datentransfers und der umfassenden digitalen Datenspeicherung lassen sich die Grundwerte elegant lockern, ohne dass die betroffenen Menschen dies merken müssen.
Wer überwacht die Überwacher?
Im Herbst 2011 hat über Deutschland hinaus eine andere Entdeckung für große Aufregung gesorgt: der „Staatstrojaner“. Dabei handelt es sich um eine Überwachungssoftware, die im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung unbemerkt auf einen weiteren Computer übertragen werden kann, beispielsweise am Zoll, um diesen Computer extern überwachen zu können. Wir müssen nicht grundsätzlich darüber streiten, dass es ein legitimes staatliches Interesse geben kann, zugunsten der Sicherheit der Bürger Überwachungsmaßnahmen anzuordnen.
Die Frage ist: Unter welchen – engen – rechtlichen Bedingungen geschieht dies und wer kontrolliert das Ganze? Das Beispiel des Staatstrojaners hat gezeigt: Beides weiß niemand so genau, zumindest nicht der deutsche Innenminister, der eigentlich zuständig gewesen wäre. Geschehen ist Folgendes: Der bei einem Verdächtigen installierte Staatstrojaner hatte mehr Funktionen, als eigentlich verfassungsrechtlich erlaubt ist. Das hat die größte europäische Hackervereinigung, der Chaos Computer Club, nachgewiesen. Unter anderem ließ es die Software zu, dass weitere Überwachungsmodule auf den Computer installiert wurden. Fehler im System führten dazu, dass der Rechner durch Hacker ferngesteuert und manipuliert werden konnte. Zu all dem gehört beispielsweise auch, dass die Überwachungssoftware Screenshots machen und überspielen kann.
Und hier wird es spannend: Nehmen wir mal an, ich schreibe eine E-Mail, in der ich einem anderen Menschen drohe, ihn umzubringen. Schicke ich die E-Mail ab, wird daraus ein Tatbestand der Bedrohung. Lösche ich sie aber, bevor ich auf „Senden“ geklickt habe, sieht das anders aus. In diesem kleinen Zwischenraum zwischen Absicht und Vollendung liegt die Freiheit der Gedanken, der menschliche Erprobungsraum, in dem etwas gedacht werden kann, das doch nicht umgesetzt wird.
Die Überwachungssoftware, also der Staatstrojaner, kann genau in diesem Augenblick einen Screenshot vom Bildschirm machen. Dadurch verwandelt er einen Gedanken in ein manifestes Dokument. Die Gedanken sind frei? Nicht mehr, wenn sie ausgelesen, dokumentiert und weiterverbreitet werden können. Sie sind dann vielleicht auch irgendwann nicht mehr straffrei. Dann sind wir wirklich nicht mehr weit weg vom „Thoughtcrime“, das George Orwell in seinem Roman 1984 beschreibt.
Miriam Meckel: Wir verschwinden: Der Mensch im digitalen Zeitalter, Intelligent Leben 3. Kein & Aber, Zürich 2013. ISBN 978-3036956527 Broschiert, 7,90 Euro
Miriam Meckel, 1967 geboren, ist Publizistin und Professorin für Kommunikationsmanagement. Viele Jahre arbeitete sie als Journalistin und Regierungssprecherin, heute forscht und lehrt sie als Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen sowie in Cambridge und Singapur.
Dieser Text ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2013-2014“ erschienen. Sie können das Heft für 14,90 EUR bei iRights.Media bestellen. „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2013-2014“ gibt es auch als E-Book, zum Beispiel bei Amazon*, beim Apple iBook-Store* (Affiliate-Link) oder bei Beam.
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