Es fehlen einheitliche Schnittstellen
Die Digitalisierung verändert auch die Arbeit der Geisteswissenschaften. Gedächtnisinstitutionen – Museen, Bibliotheken und Archive – können kulturelles Erbe online zugänglich machen – vom eingescannten Brief mit Volltextsuche bis zum Alltagsgegenstand in der 3D-Darstellung. Die neuen Recherchemöglichkeiten wiederum erlauben neue interdisziplinäre Forschungsprojekte. Etwa, wenn Historiker, Literatur- und Kunstwissenschaftler ihre Erkenntnisse zu einer Epoche digital zusammenführen.
Nicht mehr das „Ob”, wohl aber das „Wie“ des digitalen Zugangs bereitet den Institutionen rund zwanzig Jahre nach dem Durchbruch des Internets noch Schwierigkeiten. Auf der Konferenz „Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“ zog der Historiker Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte am Montag in Berlin eine Zwischenbilanz.
Austausch statt Insellösungen
Renn würdigte die Digitalisierungs-Projekte der Gedächtnisinstitutionen – von der Deutschen Digitalen Bibliothek über die europäische, virtuelle Bibliothek Europeana bis zum ECHO-Projekt seines Instituts (European Cultural Heritage Online). Politik und Wissenschaft haben die Zeichen der Zeit erkannt und die Digitalisierung ein gutes Stück vorangebracht. „Die Maschine rollt“, sagt Renn.
Aber er benennt auch Probleme – aus seiner eigenen Erfahrung, ohne Anspruch auf wissenschaftliche Einordung der noch jungen Digitalisierungsgeschichte. Die Herausforderung sei es, für eine Vielzahl von Pilotprojekten einheitliche Schnittstellen zu schaffen. So beobachtet Renn mit Sorge eine „Tendenz zur Verselbstständigung“: Wenn jedes Archiv ein eigenes Digitalisierungs-Projekt mit eigenen technischen Lösungen etabliert, gerät die Vision eines einfachen, barrierefreien Zugangs und Austauschs in Gefahr.
Daneben müssen die Digitalisate – die eingescannten Texte, Bilder und Gegenstände – auch langfristig verfügbar bleiben. Renn kritisiert hier eine rein projektorientierte Förderung; sie führe zu vereinzelten Digitalisierungs-Projekten, die „kometenhaft am Himmel vorbeiziehen und wieder verschwinden“.
Daher sind auch die technischen Standards wichtig: Im schlimmsten Fall geht ein teuer und langwierig erstelltes Projekt für die Wissenschaft wieder verloren, weil es auf einer proprietären technischen Lösung basiert. Beispielsweise auf einer Software, die mit anderen Systemen nicht kompatibel ist. Renn fordert, am Open-Source-Gedanken festzuhalten, anstatt auf Privatisierung und Kommerzialisierung zu setzen. Damit erinnert er an bestehende Vereinbarungen.
So wird auch in der „Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“ aufgeführt, dass Inhalte und Software offen zugänglich und kompatibel sein sollen. Während Renn die Erklärung selbst nicht in Frage stellt („Mehr ließ sich damals nicht durchsetzen“), hält er ihre Umsetzung für verbesserungswürdig. „Es könnte rasanter gehen.“
Technik folgt Arbeitsprozess
Wissenschaftliche Leistungen im digitalen Kontext würden noch zuwenig anerkannt, sagt Renn. Für Geisteswissenschaftler zählt der Aufsatz in einem renommierten Fachjournal noch mehr als eine Open-Source-Publikation im Netz. Auch im Alltag scheint die digitale Revolution noch nicht ganz angekommen – Renn spricht von einer „Schere“: „Es gibt eine unglaubliche Vielzahl technischer Möglichkeiten, und nur ein kleines Spektrum von Anwendnungen, die geisteswissenschaftliche Arbeitspraxis tatsächlich verändern.“
Mit den Digital Humanities sind laut Renn allerding Fortschritte zu verzeichnen. Wichtig ist Renn, dass sich die Technik am geisteswissenschaftlichen Arbeitsprozess orientiert, also etwa am Zusammenführen von Quellen. Der Arbeitsprozess selbst, das Netzwerk an Quellen hinter einer Publikation, könne mit den digitalen Möglichkeiten transparent gemacht werden. So könnten Nutzer einer wissenschaftlichen Arbeit diesen nachvollziehen und verarbeiten – beispielsweise Quellen, die zwar gesichtet, aber am Ende nicht direkt zitiert werden.
Schließlich kritisiert Renn die Wissenschaftsverlage: Sie würden an ihren traditionellen Vermarktungsstrategien festhalten, anstatt auf eine möglichst große Verbreitung hinzuarbeiten. Sie seien wenig innovativ darin, Inhalte aufzubereiten, zu präsentieren und zu veröffentlichen. Publikationskosten seien für Wissenschaftler bei neuen Anbietern wie Amazon weit geringer.
Renns Fazit: „Die massiven Digitalisierungsmaßnahmen haben die Verfügbarkeit von kulturellen Inhalten prinzipiell erhöht, aber bisher nicht zu einem inhaltlich und technisch integrierten Angebot geführt und gehen oft an Nutzerinteressen vorbei.“ Die zentrale Forderung des Wissenschaftshistorikers: „Wir müssen die Vision aufrecht erhalten, die digitalisierten Inhalte zusammenzuführen.“
Die Konferenz „Zugang gestalten!” wurde mitveranstaltet vom iRights.Lab Kultur.
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