Kulturelles Erbe antreten! Das war „Zugang Gestalten!“ 2024 im Literaturhaus Stuttgart
„Der Zugang entscheidet die Zukunft des kulturellen Erbes“, so Konferenzleiter Paul Klimpel in seiner Eröffnung. Bereits seit 2011 trägt Zugang Gestalten! – Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe als Konferenzreihe zum öffentlichen Diskurs über Chancen, Hindernisse und Herausforderungen von Archiven, Bibliotheken und Museen im Zeitalter der Digitalisierung bei.
Dieses Jahr widmete sich die Konferenz im Literaturhaus in Stuttgart elementaren Fragen über den Antritt des Kulturellen Erbes (siehe dazu auch den Vorbericht bei iRights.info). Wer erbt, hat oft mehr Fragen als Antworten: Wie funktioniert so ein Erbantritt? Was wird überhaupt geerbt? Welche Verantwortung bringt so ein Erbe mit sich? Und: Wer trägt diese Verantwortung?
„Kulturelles Erbe ist kein Schönheitswettbewerb; es kommt auf die Bedeutung an!“ – Patricia Alberth, Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg
Der Erbgegenstand: Was zum kulturellen Erbe gehört
Kommt es aufgrund des Todes einer Person zum Erbfall, müssen die hinterbliebenen Erb*innen gegebenenfalls ein Nachlassverzeichnis, also ein Inventar über sämtliche vorhandene Nachlassgegenstände und -verbindlichkeiten, erstellen. Sie haben damit eine Übersicht darüber, was der zu erbende Gegenstand überhaupt ist.
Doch der Versuch, ein Nachlassverzeichnis über Kulturelles Erbe zu verfassen, hat Potenzial zur Unmöglichkeit: Die Auffassungen und Möglichkeiten, was zum Kulturellen Erbe gehört und was nicht, sind breit gefächert. Dies zeigten verschiedene Vorträge der diesjährigen Konferenz.
Globalität und Alltagsgegenstände
Das Wort „Kulturgut“ ist facettenreich. Häufig kommen damit etwa bestimmte Voraussetzungen – etwa der materielle Wert, ein ästhetisches oder beeindruckendes Aussehen oder Popularität – zum Ausdruck.
Definiert man Kulturelles Erbe allerdings als gesellschaftliche Selbstdokumentation, wird klar, dass viel mehr dazu gehört. Auch Alltagsgegenstände können Kulturgut sein (oder dazu werden). Sei es der von Ulrike Gutzmann vom Volkswagen-Konzernarchiv erwähnte VW Käfer, der als erstes Auto vieler Deutscher Zeitzeuge kultureller Veränderungen in der Mobilität ist. Oder die von Autorin Karolina Kuszyk beschriebene deutsche Brotdose, die im Zuge der Grenzverschiebung durch die Potsdamer Beschlüsse in den ehemals deutschen Häusern zurückgelassen und von den neuen polnischen Bewohnern als Nähkästchen umfunktioniert wurde. All diese Gegenstände erzählen eine Geschichte – in diesem Fall unsere deutsche Geschichte.
Wiedergutmachung als Erbe
Wenn wir in Deutschland über gesellschaftliche Selbstdokumentation sprechen, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass wir auch die Bürde der Verbrechen unserer Vorfahren im Zusammenhang mit dem Holocaust tragen. Die damit verbundene Verantwortung der Wiedergutmachung ist wesentlicher Teil unseres kulturellen Erbes. Laut Referent des Bundesfinanzministeriums Kai Wambach ist sie sogar „die aktivste Ausprägung gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Themen einen inhaltlichen Schwerpunkt in der Konferenz einnahmen. Erbgegenstände sind dabei unter anderem auch in zahlreichen Archiven liegende Wiedergutmachungsakten, die den materiellen Entschädigungsversuch von nationalsozialistischem Unrecht an Betroffenen dokumentieren. Darüber und über die damit zusammenhängenden Chancen und Herausforderungen für eine Personensuche berichteten Nastasja Pilz und Nils Meyer vom Landesarchiv Baden-Württemberg sowie Kevin Dubout vom Bundesarchiv.
Die Verantwortung für den Erberhalt
Die Rolle der Kulturerbe-Einrichtungen und neue Initiativen
Kulturelles Erbe kann – im Unterschied zum Erbe aus juristischer Sicht – nicht ausgeschlagen werden. Dies stellte schon Paul Klimpel im Auftakt der Konferenz klar. Aber wer trägt diese Pflicht der Erbannahme? Hier fällt der Blick zunächst auf Archive, Museen und Bibliotheken. Doch damit gehen die Probleme oft erst los: „Das Kulturerbe ist nicht erfolgreich dadurch bedient, dass man es an eine Institution gibt. Vererben ist leicht, Erbe annehmen schwer“, mahnte Michael Hollmann vom Bundesarchiv an. Die Gedächtnisinstitutionen kommen schnell an ihre Grenzen, etwa durch Beschränkungen in der Zuständigkeitskompetenz (wie bei den Archiven), oder der finanziellen oder personellen Kapazität. Auch besteht vielerorts schlicht ein Platzproblem.
Wie kann das Kulturelle Erbe (auf)bewahrt werden – und muss es das überhaupt?
Einig waren sich die Teilnehmenden der Konferenz darüber, dass es einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs über die Bewahrung und (Wieder-)Entdeckung des eigenen, so vielseitigen Kulturellen Erbes braucht.
An einem Lösungsansatz hierfür versuchten sich einige der vorgestellten Projekte, die innovative Zugangsmöglichkeiten der Gesellschaft zum Kulturellen Erbe präsentierten. So zum Beispiel das Projekt des „Erzählbusses“ der Kulturhäuser Landkreis Ravensburg, vorgestellt von Leiter Maximilian Eiden: Ein umgebauter Ford Transit, der in verschiedenen Städten Menschen dazu motivieren sollte, ihre eigene Geschichte zu erzählen und damit direkt zum Kulturellen Erbe beizutragen. Oder auch das Projekt „fragnach.org“ des Exilarchivs, bei dem zuvor geführte Interviews mit zwei Zeitzeug*innen des Holocausts aufgezeichnet wurden und dann mithilfe von KI passgenau auf individuelle Fragen der Ausstellungsbesuchenden abgespielt werden können. So werden geschichtliche Ergebnisse nahbarer, die Zeitzeug*innen bleiben über ihren Tod hinaus „Instanzen der Authentizität“, wie es die Leiterin des Exilarchivs Sylvia Asmus formulierte. Und so paradox, wie es zunächst klingen mag – auch das Vergessen gehört zum Erinnern. Darauf machte Ulrike Gutzmann aufmerksam: „Die Beurteilung, was als kulturelles Erbe aufzubewahren ist, ist ein lebendiger Prozess, zu dem auch Vergessen gehört: Denn ohne Vergessen kein Erinnern.“
Medienarchiv von zugang-gestalten.org (Screenshot: iRights.info)
Zum Nachschauen: Digitales Medienarchiv
Sie sind neugierig auf die einzelnen Beiträge der Konferenz geworden? Besuchen Sie das Medienarchiv von „Zugang gestalten!“. Dort finden Sie die Vorträge dieser und vieler vergangenen Konferenzen aufgezeichnet. Alle weiteren Informationen finden sich auf der Konferenz-Website zugang-gestalten.org.
Wer repräsentiert das Kulturelle Erbe?
Das „Framing“ des Kulturerbes erfolgte historisch gesehen in der Regel durch die Brille derjenigen, die über politischen oder finanziellen Einfluss verfügten – aufgrund der Kolonialhistorie also zumeist europäische Männer. Daher ist auch die „Weltkulturerbeliste“, so Patricia Alberth, „weiterhin männlich und weiß.“ Kulturerbe als Zeugnis der Menschen sollte jedoch alle Menschen abbilden können. Gerade in einem zentraleuropäischen Land wie Deutschland spielt dabei auch Migration eine große Rolle. Dies bis hin zur stellenweisen „Transkulturalität“, bei der keine große Mehrheit einer bestimmten Herkunft mehr vorhanden ist, wie Homayun Alam, Gründungsdirektor des Deutschen Museums für Migration und Internationalität, in seiner Darstellung über die lokale Superdiversität beschrieb. Auch diesem Thema widmete die Konferenz ein eigenes Panel.
Welche Herausforderungen gilt es zu bewältigen?
Seien es finanzielle oder personelle Grenzen: Beim Antritt des Kulturellen Erbes verbleiben weiterhin zahlreiche Herausforderungen, die es zu überwinden gilt. Auch vermeintliche juristische Hürden sind nicht unbeachtlich. Denn der Ambition eines barriere- und kostenfreien Zugangs zu Gegenständen des Kulturellen Erbes können Rechte betroffener Personen entgegenstehen.
Bei der digitalen Personensuche über Wiedergutmachungsakten kann beispielsweise der Datenschutz relevant werden, wie Nils Meyer betonte. Auch kann es zu Konflikten mit Urheberrechten kommen, wenn Kulturelles Erbe im Zusammenhang mit menschlichem kreativen Schaffen steht. Denkanstöße dazu gab Saskia Ostendorff, Syndika von Wikimedia Deutschland e.V., am Beispiel der Himmelsscheibe von Nebra.
In praktischer Hinsicht appellierte Alexander Winkler vom Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) daran, den Datenzugriff für eine Nachnutzung von bereits bestehenden digitalen Kulturerbedaten so niedrigschwellig und intuitiv wie möglich zu gestalten. Ein leichter Einstieg helfe dabei, gesellschaftliches Verlangen nach Kulturellem Erbe zu wecken.
Kulturelles Erbe als unendliche Geschichte
Die Konferenz zeigte im Ergebnis: Das Erbe anzutreten bedeutet eine Verantwortung und Herausforderung, die von uns allen zu tragen ist. Vieles ist ungeklärt und bedarf weiteren Diskurses. Es braucht eine gesamtgesellschaftlich Verständigung darüber, was und wie aufbewahrt werden soll. Die Beiträge der Konferenz sind Impulse dafür, selbst aktiv zu werden. Und doch wird die Verantwortung des Kulturellen Erbes wohl immer ein Prozess bleiben, der niemals zu Ende ist. Oder wie Michael Hollmann es am Ende der Konferenz formulierte: „Kulturelles Erbe zu erhalten ist wie zu versuchen, mit dem Teelöffel den Ozean auszulöffeln.“
Offenlegung: Die Konferenzreihe „Zugang gestalten!“ wird veranstaltet von mehreren Partnerorganisationen, zu denen auch iRights.info gehört.
Sie möchten iRights.info unterstützen?
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“. Alle Texte erscheinen kostenlos und offen lizenziert.
Wenn Sie mögen, können Sie uns über die gemeinnützige Spendenplattform Betterplace unterstützen und dafür eine Spendenbescheinigung erhalten. Betterplace akzeptiert PayPal, Bankeinzug, Kreditkarte, paydirekt oder Überweisung.
Besonders freuen wir uns über einen regelmäßigen Beitrag, beispielsweise als monatlicher Dauerauftrag. Für Ihre Unterstützung dankt Ihnen herzlich der gemeinnützige iRights e.V.!
DOI für diesen Text: https://doi.org/10.59350/gs6xg-9ty43 · automatische DOI-Vergabe für Blogs über The Rogue Scholar
Was sagen Sie dazu?