Zensur und Alltag
Internet-Meme prägen die Online-Kommunikation in sozialen Netzwerken – in China wie in Deutschland. Dabei steht für chinesische Nutzer die Unterhaltung im Vordergrund, aber auch der soziale Austausch und die Umgehung der strikten Internetzensur. Welche Bedeutung das Internet in China hat, wird in Deutschland oft unterschätzt – der Mikroblogging-Dienst Sina Weibo hat 46 Millionen aktive Nutzer, die Chat-Plattform Wechat circa 400 Millionen.
Das Bild des „Tank-Man“ ist weltweit bekannt: Es zeigt einen Mann, der sich im Sommer 1989 auf dem Tiananmen-Platz heranrollenden Panzern entgegenstellte. In China wird die Verbreitung dieses Bildes, genau wie jegliche Berichterstattung zu dem Thema, rigoros unterbunden. Auch Betreiber privater sozialer Netzwerke wie Wechat oder Sina Weibo müssen Bilder und Texte ihrer Nutzer auf kritische Inhalte hin überprüfen, um nicht in Konflikt mit der Staatsmacht zu geraten.
Netizens werden daher im Umgang mit der chinesischen Sprache kreativ und erschaffen symbolhafte Ausdrücke und Bilder. Sie können so wenigstens kurzfristig die Zensur unterwandern; diese Ausdrucksform passt aber auch gut zu den Erfordernissen der schnellen Kommunikation in Chats, die bei den jüngeren Internetnutzern sehr beliebt sind. So werden Kombinationen von Schriftzeichen durch kurze Zahlenfolgen ausgedrückt, oder zensierte Worte durch „harmlose“ – gleich oder ähnlich klingende – Schriftzeichenkombinationen ersetzt. Manchmal erfinden die User sogar ganz neue Abkürzungen und Symbole. Die chinesische Sprache entwickelt sich also durch das Internet ebenso dynamisch und unvorhersehbar wie die Jugend- und Netzsprache in Deutschland.
Gigantische Enten in Beijing
Den 25. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenproteste in Beijing am 4. Juni 2014 erklärten Internetnutzer kurzerhand zum „Giant Duck Day“: Die Panzer auf dem weltberühmten Bild wurden durch überlebensgroße gelbe Badeenten ersetzt. Die chinesischen Behörden reagierten prompt: Suchergebnisse zu „große, gelbe Ente“ wurden in chinesischen Suchmaschinen wie Baidu ebenso blockiert wie „morgen“, „heute“, „heute Abend“, „4. Juni“ und andere Worte und Kombinationen, die auf den Jahrestag hinweisen könnten.
Internetkampagnen gegen Luxus und Verschwendung
Im Internet kommt immer häufiger der Zorn über ungleiche Machtverhältnisse und den zunehmenden Unterschied zwischen Arm und Reich zum Ausdruck. Der Begriff „tuhao“ (dt. Tyrann) wurde historisch von Mao Zedong benutzt, um lokale Großgrundbesitzer zu diffamieren. Heute bezeichnen Internetnutzer mit dem Begriff „tuhaojin“ (dt. „Goldene Tyrannen“) vor allem Besitzer des goldenen iPhones. Dabei arbeiten sie häufig mit Übertreibungen: Den goldenen Tyrannen wird nachgesagt, sich Tiger als Haustiere zu halten, oder sich mit einer Limousine ins Schlafzimmer fahren zu lassen.
Luxusartikel wie das iPhone sind häufig Gegenstand des Zorns der Internetnutzer: Beamte mit teuren Uhren, Handtaschen oder Luxushandys werden von den Netizens in sogenannten Human Flesh Searches regelrecht gejagt. Nutzer dokumentieren dabei anhand öffentlicher Bilder aus sozialen Netzwerken teure Uhren und andere Luxusartikel von Politikern oder Prominenten. Diese müssen sich, vor allem im Kontext der unerbittlichen Korruptionsbekämpfung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping, immer häufiger für Extravaganzen rechtfertigen und mit teilweise drastischen Strafen rechnen.
Die Wut der Internetnutzer trifft aber nicht nur Beamte: Auch andere Prominente und auch ganz gewöhnliche Menschen können Opfer von Human Flesh Searches werden. Im September 2014 verbreitete der oberste Gerichtshof eine Erklärung, die Opfern solcher „Suchaktionen“ – die oft eher Verleumdungskampagnen gleichen – mehr Rechte zusichert. Von westlichen Medien wurden die Regelungen meist als Verschärfung der Internetzensur dargestellt, da auch Entscheidungsträger aus Partei und Staatsapparat die Regelungen nutzen können, um unliebsame Inhalte aus dem Netz zu entfernen. Tatsächlich aber geht es vor allem um einen zivilrechtlichen Anspruch: Unbescholtene Internetnutzer können sich gegen Gerüchte und Verleumdungen im Netz zur Wehr setzen.
Dick, der Dritte
Chinesische Nutzer interessieren sich auch für Ereignisse außerhalb Chinas: Als kürzlich der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un für 40 Tage völlig von der Bildfläche verschwand, spekulierten sie über den Gesundheitszustand des Machthabers. Fragen zur Gesundheit der Herrschenden werden in autoritären Regimen oft als Staatsgeheimnis behandelt. Auch chinesische Internetnutzer machten sich ihre Gedanken über das Wohlergehen von „Dick, dem Dritten“ (in Anspielung auf den korpulenten Machthaber, der in dritter Generation das Land führt) und posteten bis zu 100.000 Nachrichten pro Tag zum Thema in chinesischen Mikroblogs.
Dabei schrieben die Nutzer nicht primär aus Sorge um Kim, sondern äußerten vor allem Schadenfreude. Einige Nutzer spekulierten sogar über ein Ende der Kim-Dynastie in Nordkorea und wünschten dem Land eine bessere Zukunft. Vielen Chinesen gilt der Blick nach Nordkorea als Spiegel der eigenen Vergangenheit unter Mao Zedong. Dementsprechend waren auch chinesische Medien beunruhigt: Die staatliche Zeitung Global Times sah hinter den Internet-Gerüchten gar eine Verschwörung westlicher Mächte. Eine koordinierte Zensur der Beiträge zu Nordkorea fand jedoch nicht statt.
Gutes Essen, schlechtes Essen
Soziale Medien und die Netzsprache dienen in China jedoch nicht nur als politisches Forum. Gerade in sozialen Netzwerken wird auch viel Profanes verbreitet – Essen und Liebe spielen wie überall auf der Welt eine große Rolle. Zum Teil werden auch Missstände im Verbraucherschutz, beispielsweise in der Lebensmittelsicherheit, heiß diskutiert.
Im Westen fotografieren immer mehr Internetnutzer ihr Essen, um es in sozialen Netzwerken oder auf Foodblogs zu zeigen. Einige Restaurants reagieren auf diesen Trend mit der Aufforderung, solche Fotos zu unterlassen. Auch in China kommen Posts zum Thema Essen zunehmend in Mode: Fotos von Speisen rangieren bei den beliebtesten Bildern auf Sina Weibo ganz weit oben. Immer wieder werden in sozialen Netzwerken aber auch Berichte über verdorbenes Essen und Gammelfleisch geteilt – zuletzt im Sommer 2014, als entsprechende Lieferungen bei einer Zuliefererfirma von McDonald’s und Kentucky Fried Chicken in Shanghai auftauchten. Nationalistische Blogger versuchten daraufhin, einen Boykott westlicher Fastfood-Ketten in China zu organisieren – scheiterten aber.
„Ich liebe dich“ – eine der häufigsten Abkürzungen im Netz
Auch die Romantik kommt im chinesischsprachigen Internet nicht zu kurz: Kürzlich löste ein junges Paar Entzücken in den sozialen Netzwerken aus, als es zwei gemeinsame Bilder von sich veröffentlichte: einmal jugendlich zu Beginn des Studiums und später als Erwachsene. Dazu schrieben Internetnutzer: „Würdest du mich heiraten, wenn mein Haar bist zu meiner Hüfte wächst?“. Dieser Beitrag gewann schnell Popularität in den sozialen Netzwerken und wurde häufig kommentiert, weil er die romantischen Gefühle der Internetnutzer ansprach.
Ebenfalls um romantische Gefühle geht es bei einer häufig genutzten Abkürzung. „Ich liebe dich“ – im Chinesischen „wo ai ni“ – wird gerade von Jugendlichen in Chats und SMS gern mit einer Zahlenkombination abgekürzt: 520. Die Zahlen bilden die Aussprache der Schriftzeichen klanglich nach (wu er ling), lassen sich aber deutlich schneller eintippen und versenden.
Die Kreativität und Anpassungsfähigkeit der chinesischen Sprache im Internet sind beachtlich. Viele Experten sagten mit dem Aufkommen von Computern (wieder einmal) das Ende der Schriftzeichen vorher. Dies ist bislang nicht eingetreten – die chinesische Sprache ist lebendig wie nie zuvor.
Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
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