Warum die Wissenschaft trotz Open Access nicht von den Verlagen lässt
Wissenschaftsverlage bieten ihren Forscher*innen zweierlei: Akademisches Ansehen, vor allem wenn sie die eigenen Forschungsergebnisse in einer anerkannten Zeitschrift veröffentlichen. Und die Übernahme all jener Tätigkeiten, die Wissenschaftler*innen nicht selber erledigen können oder wollen. Das meint vor allem: Texte formatieren, drucken, veröffentlichen und verteilen.
Mit dem Aufkommen digitaler Open-Access-Repositorien hätte die Bindung der Wissenschaft an Verlage eigentlich hinfällig werden müssen. Diese Ansicht vertrat auch Peter Baldwin, Historiker und Autor des Buchs „The Copyright Wars“. 2014 meinte er, dass Wissenschaftsverlage wie Elsevier oder Springer ihren Zenit erreicht hätten und ihr Geschäftsmodell nicht überleben könnten. „Ich denke, in zehn Jahren werden wir über Open Access als Standard in der Wissenschaft nicht mehr reden müssen“, so Baldwin im Interview mit iRights.info.
Peter Baldwin: „In zehn Jahren werden wir über Open Access nicht mehr reden müssen“
Für den US-amerikanischen Historiker Peter Baldwin ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich im Wissenschaftsbereich das Prinzip des freien Zugangs zu Artikeln und Publikationen vollständig durchsetzt. Die Geschäftsmodelle der Wissenschaftsverlage haben für ihn keine Zukunft. » mehr
Das war vor neun Jahren – Baldwins Prophezeiung ist nicht eingetreten. Viele Wissenschaftsverlage, insbesondere die großen Verlagshäuser, stehen weiterhin prächtig da. Forscher*innen und ganze Disziplinen scheinen abhängig von ihnen zu sein, Alternativen etablieren sich nur langsam und zäh. Wie kommt das? Warum nimmt die Wissenschaft das Publizieren nicht selbst in die Hand?
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1. Wofür braucht die Wissenschaft ihr Publikationswesen?
Der wissenschaftliche Aufsatz gilt heute als Standardformat der modernen Wissenschaft. Das war nicht immer so: Bis ins 19. Jahrhundert informierten sich Forschende vor allem in persönlichen Briefen über ihre Ergebnisse, tauschten sich aus und pflegten Kontakte.
Heutzutage sind Emails üblich. Und der Aufsatz – ein meist zehn bis 20 Seiten langer Text, von Kolleg*innen begutachtet und in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht – ist quer durch alle Disziplinen verankert. Dazu kommen, besonders in den Sozial- und Geisteswissenschaften, auch Bücher und Sammelbände. Alle Publikationen richten sich – im Gegensatz zum Brief – nicht nur an persönlich bekannte Kolleg*innen, sondern prinzipiell an die gesamte (Fach-)Öffentlichkeit.
Publikationen: Währung akademischen Erfolgs
Aufsätze und Bücher sind eine wissenschaftliche Währung: Wie oft die Texte im Internet aufgerufen und zitiert werden, lässt sich heute mit digitalen Messwerkzeugen präzise erfassen. Aus den Daten lassen sich Kennzahlen errechnen. Zum Beispiel der H-Index: Er soll darüber Auskunft geben, wie oft Arbeiten eines Wissenschaftlers zitiert werden. Das soll Rückschlüsse auf seine Bekanntheit und sein Ansehen in der Fachwelt zulassen, ist aber auch umstritten.
Dazu kommt: Für bestimmte Jobs, etwa Professuren, sind einschlägige Publikationen entscheidend. Wissenschaftler*innen versuchen daher ganz strategisch, durch Aufsatz- und Buchpublikationen in bestimmten Zeitschriften, Reihen oder Verlagen Themengebiete zu markieren und ihre Expertise in diesem Bereich hervorzuheben.
2. Digitale Plattformen: Neue Alternativen zum wissenschaftlichen Verlagswesen?
Etwas zu veröffentlichen, also der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist in der digitalen Welt leichter denn je zuvor. Möglich machen das Internet-Plattformen, etwa kommerzielle Seiten wie Instagram, YouTube oder Twitter. Die Plattform-Idee: Solange Dein Inhalt nicht illegal ist oder gegen die Nutzungsbedingungen verstößt, kannst Du ihn hochladen. Ihr Geld verdienen kommerzielle Plattformen mit dem Einblenden von Werbung und der Verwertung von Nutzungsdaten.
Es gibt auch wissenschaftliche Plattformen, zum Beispiel „Repositorien“ wie Zenodo oder osf.io. Diese funktionieren für die Nutzer*innen im Prinzip genauso wie die kommerziellen Plattformen, sind aber meist von öffentlichen Institutionen oder wohltätigen Stiftungen (wie dem Center for Open Science) finanziert. In der Regel braucht es nur einen kostenlosen Account, schon kann man sein PDF in ein Repositorium laden und der Öffentlichkeit (per Open Access) bekannt machen. Es gibt auch Repositorien, die zu wissenschaftlichen Verlagen gehören. Beispielsweise das zu Springer Nature gehörende Repositorium figshare.
Open Access
bezeichnet den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen. Open-Access-Literatur im engeren Sinn ist online kostenfrei zugänglich und unter offenen Lizenzen veröffentlicht, die die weitere Nutzung erleichtern. Es gibt mehrere Ansätze: Anderswo veröffentlichte Publikationen können online zugänglich gemacht werden („Green Road“) oder in eigenen Open-Access-Zeitschriften erscheinen („Golden Road“). Beim Diamond-Open-Access-Modell fallen weder für Autor*innen noch Leser*innen Gebühren an; finanziert wird die Publikationsinfrastruktur hier von wissenschaftlichen Einrichtungen oder Wissenschaftsverbänden. In Deutschland gilt seit 2014 unter bestimmten Voraussetzungen ein Zweitveröffentlichungsrecht für Wissenschaftler*innen.
Verwertung von Urheberrechten: Ohne Vertrag kann ein Verlag nicht agieren
Das Geschäftsmodell (wissenschaftlicher) Verlage gründete sich ursprünglich auf Tätigkeiten, die Autor*innen nicht selbst übernehmen wollen oder können: Texte redigieren, formatieren, setzen, drucken, binden, zwischen zwei Buchdeckeln unters Volk bringen, vermarkten, kommerziell auswerten. Grundlage dafür ist das Urheberrecht: Damit ein Verlag agieren kann, braucht es die Zustimmung der Autorin. Dafür schließen Verlag und Autorin einen Vertrag ab, der unter anderem regelt, wie die Einnahmen zu verteilen sind.
In der Wissenschaft läuft die Veröffentlichung in einem Verlag in der Regel so: Eine Wissenschaftlerin will in einer Zeitschrift, die üblicherweise einem Verlag gehört, veröffentlichen. Die inhaltlich verantwortlichen Herausgeber*innen akzeptieren das Manuskript. Anschließend bringt der Verlag digitale und Druckfassungen in Umlauf und kassiert dafür Geld – hauptsächlich von Institutionen wie beipielsweise wissenschaftlichen Bibliotheken, aber auch von Einzelnutzer*innen. Einen Teil der Einnahmen behält der Verlag, den Rest bekommt die Autorin.
Ergänzung 2.3.23: Insbesondere von den Großverlagen sehen Autor*innen allerdings in der Regel keinen Cent. Ganz im Gegenteil: Sie bezahlen sogar für die Veröffentlichung und das nicht zu knapp, siehe unten.
3. Warum sind Verlage nach wie vor so einflussreich in der Wissenschaft?
Mit der Demokratisierung der Publikationsmittel hat sich die Situation gewandelt: Eigentlich könnten Wissenschaftler ganz eigenständig veröffentlichen (etwa auf den genannten digitalen Repositorien). Warum bleiben sie trotzdem zu großen Teilen bei den Verlagen?
Die Antwort auf diese Frage ist mindestens zweiseitig: einerseits weil die Wissenschaft aus kulturellen Gründen selbst an den Verlagen hängt; und andererseits weil die Verlage diese Abhängigkeiten zu nutzen und zu festigen wissen.
Die innere Trägheit der Wissenschaft
Zunächst muss man sehen, wie traditionsbewusst die moderne Wissenschaft nach wie vor ist. Nicht umsonst spricht man etwa von „wissenschaftlichem Nachwuchs“ oder vom „Doktorvater“ beziehungsweise der „Doktormutter“, als ob es sich um Familienbünde handelte und nicht um Arbeitsverhältnisse. Dazu kommt: Bis es gelingt, neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Ansätze nachhaltig zu etablieren, vergehen mindestens Jahre, nicht selten Jahrzehnte. Dicke Bretter zu bohren gehört also zum wissenschaftlichen Alltag und entsprechend langwierig sind die Prozesse.
Viele Wissenschaftler*innen, darunter gerade die Riege der einflussreichen Professor*innen, verlassen sich zudem auf die traditionellen Publikationsorgane. Sie bieten ihnen in der Vielzahl der Publikationen Orientierung, liegen aber eben oftmals in der Hand der Verlage. Entweder weil die Zeitschriften bereits dort vor Jahrzehnten angesiedelt wurden, als es nur Verlage, nicht aber digitale Plattformen gab. Oder weil die Verlage durch gezielte Aufkäufe wichtige Zeitschriften unter ihr Dach nehmen konnten. Viele Verlage sind zudem Traditionshäuser und haben über Jahrzehnte hinweg Ansehen aufgebaut, etwa weil sie einflussreiche Autor*innen unter Vertrag nehmen konnten – ein wichtiges Pfund, mit dem Verlage gerne wuchern.
Die wissenschaftlichen Disziplinen sind unterschiedlich flott bei der Transformation zu Open Access, wie eine aktuelle Studie des Open Access Netzwerks nahelegt: In naturwissenschaftlichen Disziplinen ist man grundsätzlich recht aufgeschlossen gegenüber modernen digitalen Publikationsweisen, in den buchdominierten Geisteswissenschaften scheinen die Vorbehalte dagegen größer.
Neue Geschäftsmodelle der Verlage: Open-Access-Gebühren und Datenanalyse
Dazu kommen wirtschaftliche Faktoren, die die Macht der Verlage stärken, insbesondere die gewinnbringenden wirtschaftlichen Beziehungen mit der öffentlichen Hand. Große Verlagshäuser wie Elsevier, Springer Nature, Wiley sowie Taylor & Francis verlassen sich nicht mehr nur auf das klassische Geschäft aus der Verwertung von Urheberrechten: Sie lassen sich nun dafür bezahlen, dass Wissenschaftler*innen in ihren Zeitschriften per Open Access veröffentlichen können und festigen durch Zukäufe entsprechender Dienste ihre Stellung. Das Geschäftsmodell funktioniert über sogenannte APC (article processing charge, übersetzt etwa Aufsatzbearbeitungspauschale). Diese meist mehrere tausend Euro pro Aufsatz oder Buch bezahlen Wissenschaftler*innen (bzw. Deren Universitäten, Lehrstühle und Bibliotheken), weil sie sich davon erhoffen, bekannter und öfter zitiert zu werden.
Dazu kommt eine – aus Verlagssicht – kluge Investition in moderne Datenanalyse-Techniken. Dass das nicht nur ein theoretisches Szenario ist, sondern in Wirklichkeit auch passiert, beschrieb der Naturwissenschaftler Björn Brembs 2021 im Interview mit iRights.info: Gerade die genannten Großverlage bieten Universitäten heute eine Palette an Dienstleistungen und Software-Umgebungen an. Damit können Wissenschafter*innen den gesamten Forschungsprozess gestalten, Literatur und Forschungsdaten auswerten, mit Kolleg*innen zusammenarbeiten, Texte verfassen und auf die hauseigenen Publikationsinfrastrukturen laden. Bei all diesen Anwendungen entstehen wiederum Daten, die Verlage sammeln, auswerten und weiterverkaufen können. Auf diese Weise nähern sich Wissenschaftsverlage ironischerweise den datengetriebenen Plattformen an.
Wenn Wissenschaftsverlage zu Datenkraken werden
Daten zu sammeln und zu handeln ist ein weit verbreitetes Geschäftsmodell im Internet. Auch große Wissenschaftsverlage haben das Geschäft mit den Daten für sich entdeckt und erstellen umfassende Profile von Personen, die ihre Webseiten besuchen. Wissenschaftler*innen und Forschungsgemeinschaften sehen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr. » mehr
4. Verlage werden „plattförmiger“. Heißt das auch, dass Plattformen „verlagiger“ werden?
Die Wissenschaftsverlage dürften sich in den nächsten Jahrzehnten von ihrem urheberrechtsbasierten Geschäftsmodell lösen. Wenn nicht vollständig, so doch immerhin überwiegend. Getragen von der Open-Access-Welle dürften Verlage „plattförmiger“ werden, sich also eher an Plattformen orientieren und vergleichbare Angebote schaffen: Zum Beispiel könnten Autor*innen zuerst einen Text hochladen und ihn erst dann – vollkommen öffentlich – von der Fachgemeinschaft begutachten lassen („Open Peer Review“). Das würde die alte Reihenfolge der Verlagslogik (zuerst begutachten, danach veröffentlichen) umdrehen. Digitale Metriken wie Zugriffszahlen, Likes, Kommentare, Verlinkungen, Zitationen und ähnliches könnten so weiterhin an Relevanz gewinnen. Der Veröffentlichungsprozess würde zudem dynamischer werden.
Wenn Verlage plattförmiger werden, würden ihrerseits Plattformen „verlagiger“ werden? Also (eher) wie Verlage agieren? Zumindest lässt sich jetzt schon erkennen, dass manche Plattformen typische Methoden von Verlagen übernehmen. Etwa indem sie selbst Angebote kuratieren, gezielt auf erfolgreiche Autor*innen zugehen und sie vertraglich an sich binden oder die Entwicklung von Reputationsmechanismen vorantreiben.
… und was macht die Wissenschaft?
Um unabhängig vom Verlagswesen zu werden, müsste sich die Wissenschaft in verschiedener Hinsicht vom kommerziellen Verlagswesen emanzipieren. Innerlich müsste sie vermehrt auf eigene Publikationsstrukturen setzen und diesen aufrichtige Anerkennung verleihen. Dieser Prozess ist bereits seit einigen Jahren im Gange. So gibt es bereits einige Verlage in Deutschland, die von Universitäten oder deren Bibliotheken betrieben werden. Diese Universitätsverlage, darunter beispielsweise Berlin Universities Publishing oder Hamburg University Press verpflichten sich dem Gedanken von Diamond Open Access.
Trotzdem wird der Transformationsprozess weg vom kommerziellen Verlagswesen wegen der inneren Trägheit des Wissenschaftssystems noch lange andauern. Auch die unterschiedlichen Anforderungen in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen verzögern die Transformation. Die jüngeren Entwicklungen in Sachen Daten-Tracking deuten zudem daraufhin, dass sich Universitäten in starke Abhängigkeit zu den Verlagen begeben (könnten), die weit über das wissenschaftliche Verlegen hinaus reichen.
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“.
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4 Kommentare
1 Viola Voß am 2. März, 2023 um 08:03
Eine Ergänzung zum Thema Repositorien:
Mittlerweile hat auch so gut wie jede Hochschule oder Universität ein eigenes Repository, das meistens von der Bibliothek betreut wird.
Eine Übersicht gibt es z.B. unter https://dini.de/dienste-projekte/publikationsdienste/.
2 Jürgen Plieninger am 6. März, 2023 um 10:53
Vielleicht noch ein Aspekt, der wichtig ist: Die Verlage gehen auch immer mit dem Argument der “Sichtbarkeit” hausieren. Auf den ersten Blick ist da etwas dran: Wer hat schon die tausenden Repositorien im Blick. Dabei gibt es schon lange verschiedene Suchmaschinen dafür, die das abfragen und die Inhalte recherchierbar machen. Mit die beste dieser Spezialsuchmaschinen ist BASE, Bielefeld Academic Search Engine.
3 Georg Fischer am 6. März, 2023 um 12:08
Sehr geehrter Herr Plieniger, vielen Dank für den freundlichen Hinweis! Ich habe “Sichtbarkeit” bisher eher unter “Reputation” subsumiert, aber Sie haben natürlich recht, dass – gerade in einem unübersichtlicher werdenden Publikationsgeschehen – Sichtbarkeit auch so etwas wie (Auf-)Findbarkeit bedeutet. MfG Georg Fischer
4 Georg Fischer am 6. März, 2023 um 12:10
Vielen Dank für den Hinweis, liebe Frau Voß! Das ist eine hervorragende Übersicht. Beste Grüße, Georg Fischer
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