Wie weiter beim „Recht auf Vergessenwerden“?
Kurze Zeit nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum sogenannten „Recht auf Vergessenwerden“ hatte Google einen „Löschbeirat“ einberufen, der Empfehlungen für die Umsetzung erarbeiten sollte. Nun liegt der Bericht vor. Um Google bei der Entscheidung zu helfen, welche Links entfernt werden sollen und welche nicht, enthält er einen Kriterienkatalog: Darin werden verschiedene Arten von Informationen unterschieden, die entweder eine Entscheidung zugunsten des individuellen Interesses an Privatheit nahelegen oder zugunsten des Interesses der Öffentlichkeit.
Zur ersten Kategorie gehören zum Beispiel intime, sexuelle oder finanzielle Informationen, zur zweiten Kategorie solche, die in politischen Debatten aufgegriffen wurden. Dabei wird auch unterstellt, dass Videos und Fotos die Privatheit von Individuen stärker als Texte kompromittieren können. Hinzu kommen die Kriterien des „Alters“ und der „Vollständigkeit“ von Daten, die der Beirat bereits dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs entnehmen konnte.
„Recht auf Vergessenwerden“
Im Mai 2014 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Google Links auf Zeitungsartikel über einen Spanier löschen muss (C-131/12). Nutzer können demnach von Suchmaschinen verlangen, dass sie Links unter bestimmten Bedingungen entfernen: Wenn die Ergebnisse bei einer Namenssuche auftauchen, die Daten zum Beispiel „inadäquat“ oder „nicht mehr relevant“ sind und kein öffentliches Interesse am Zugang überwiegt. Einige Kritiker und Befürworter des Urteils sehen den Begriff „Recht auf Vergessenwerden“ aber als schief an.
Kriterien zum Umgang mit Lösch-Anträgen
Einen weiteren Teil des Berichts bilden Empfehlungen zum Prozedere, wenn ein Löschantrag gestellt wird. Die Empfehlungen widersprechen hier zum Teil denjenigen der Artikel-29-Arbeitsgruppe (PDF), dem europäischen Zusammenschluss der Datenschutzbeauftragten. Googles Beirat plädiert dafür, die betroffenen dritten Parteien zu benachrichtigen. Dritte sind vor allem diejenigen, die die Inhalte erstellt und veröffentlich haben, und die durch Google nicht mehr aufgefunden werden sollen. Die Benachrichtigung soll einerseits eine bessere Einschätzung des Sachverhalts ermöglichen und andererseits einer Art Anhörung der betroffenen Partei entsprechen.
Zugleich sieht der Beirat in einer weltweiten Löschung der Links eine zwar kohärentere, aber noch nicht praktikable Variante, das Urteil umzusetzen. Die Artikel-29-Datenschutzgruppe hatte dagegen gefordert, die Löschung dürfe nicht umgangen werden und eine weltweite Entfernung aus Suchergebnissen nahegelegt.
Die Empfehlungen des Beirates werfen eine Reihe von Problemen auf: Erstens vertiefen sie das Missverständnis des Europäischen Gerichtshofs über Öffentlichkeit und Privatheit und deren Beziehung. Die Probleme des Urteils werden damit verschärft, das Interesse der Öffentlichkeit bleibt weiterhin außen vor. Zweitens lassen die Empfehlungen unberücksichtigt, dass sich die Relevanz von Informationen nicht vorab bestimmen lässt.
1. Öffentlichkeit wird verkannt, ihr Interesse nicht repräsentiert
So wie Google das Urteil bislang umsetzt, scheint es den Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit – an der sich traditionsgemäß die USA orientierten – und der Privatheit – die in der EU vielfach in den Vordergrund gerückt wird – eher zu schüren als zu lösen. Ist ein Löschantrag erfolgreich, wird der Link allenfalls auf den europäischen Google-Domains, nicht aber weltweit gelöscht. Dies ist eine Niederlage für den weltweiten Geltungsanspruch des EU-Rechts, den die EU erhebt, aber einleuchtend: Folgte man der auch in Googles Beirat vertretenen Ansicht, eine globale Löschung sei die einzige konsequente Lösung, liegt dem die Vorstellung zugrunde, es gäbe ein einziges Internet mit einer einzigen Öffentlichkeit.
Die Kommunikationswissenschaft definiert Öffentlichkeit über die Unabgeschlossenheit der Adressatengruppe einer Kommunikation. Demnach ist Kommunikation öffentlich, wenn der Kreis der Aufnehmenden durch den Aussagenden weder eng begrenzt noch klar definiert ist. Sie kennt aber verschiedene Ausprägungen: Medienöffentlichkeit durch Elite- oder Populärmedien, Themenöffentlichkeit wie bei Expertenkreisen oder auf Konferenzen, Familien-, Orts-, und Betriebsöffentlichkeit wie in einem Club oder einer Firmenkantine. Als neuer Typ von Öffentlichkeit werden „persönliche Öffentlichkeiten“ angesehen, die sich an vergleichsweise kleine Publika richten, etwa in sozialen Netzwerken.
Es wäre daher falsch, von einer einzigen Öffentlichkeit auszugehen. Dies ist deshalb wichtig, weil das Verständnis von Öffentlichkeit auch Auswirkungen auf den Anspruch auf Privatheit hat. Dem Löschanspruch bei Suchmaschinen liegt die problematische Vorstellung zugrunde, es gäbe einen Anspruch, eine Öffentlichkeit kleiner zu machen und sie in letzter Konsequenz sogar zu verhindern. Das steht im Widerspruch zu dem Prinzip, wie sich Öffentlichkeit in einem vielschichtigen Mechanismus der Interaktion zwischen Privatem und Öffentlichem entwickelt und funktioniert. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Adressatengruppe wird mit diesem Löschanspruch der Öffentlichkeit abgesprochen, obwohl gerade diese sie auszeichnet.
Falsche Vorstellung privater Alleinverfügung
Auch die Grenzen und Inhalte des Privaten werden – mit Habermas gesagt – in der Öffentlichkeit verhandelt und vereinbart. Das Private ist kein Raum mit vier Wänden, sondern die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen, Gesetzen und ökonomischer Abhängigkeit. Die Vorstellung, dass Privatsphäre über die Kontrolle von persönlichen Daten erreicht werden kann, ist eine technisch orientierte Vorstellung, die dem Datenschutzrecht aufgrund seiner Entstehungszeit zugrunde liegt, technisch jedoch bereits überholt ist und vom eigentlichen Konzept der Privatsphäre ablenkt.
Die damit zusammenhängende Gefahr im Kontext von Privatheit und Öffentlichkeit – nämlich die Überhöhung und Fehlinterpretation des Privaten – sahen bereits die Richter am Bundesverfassungsgericht, als sie im Volkszählungsurteil schrieben:
Dieses Recht auf ‚informationelle Selbstbestimmung’ ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über ‚seine’ Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. (…) Grundsätzlich muss daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.
Auch Googles Beirat gelingt es vor diesem Hintergrund nicht, den Kern des Privaten in seinem Verhältnis zum Öffentlichen zu verstehen und Kriterien für die Schutzbedürftigkeit von Individuen auszuarbeiten, die über eine Unterscheidung verschiedener Sorten von Daten hinausgehen.
Der Beirat geht offenbar auch davon aus, dass eine neutrale Instanz über einen Löschanspruch entscheidet und dabei das Interesse der Öffentlichkeit in die Abwägung einfließt. Allerdings kann dies von keiner privaten Instanz geleistet werden. In den Handlungsempfehlungen bleibt offen, wie das öffentliche Interesse in die Prozeduren einfließt. Natürlich ist das ein schwieriges Unterfangen, denn Öffentlichkeit wird von allen und niemandem zugleich repräsentiert.
2. Das „Alter“ von Daten bleibt kein taugliches Kriterium
Der Beirat betont am Anfang seiner Empfehlungsleitlinien, dass es dem Europäischen Gerichtshof nicht um ein „Recht auf Vergessenwerden“ gegangen sei. Es gehe lediglich um ein Recht, bestimmte Informationen zu de-indexieren; solche, die irrelevant, oder nicht mehr relevant oder übermäßig sind, außerdem gehe es um die Konformität zum Äußerungs- oder Presserecht.
Mit seiner Kriterienliste gelangt er jedoch zur selben irrtümlichen Annahme wie der Gerichtshof, wenn es um das Alter einer Information und dessen Bedeutung für Privatsphäre und Öffentlichkeit geht. Beide gehen davon aus, man könne zu einem bestimmten Zeitpunkt eine endgültige Entscheidung über die gesellschaftliche Relevanz bestimmter Daten treffen.
Doch es hängt vom Empfängerhorizont ab, wie wir Daten als Information deuten. Der Gerichtshof und der Beirat gehen offenbar davon aus, dass der Grundrechtseingriff mit Zeitablauf steigt, die Informationen also immer „veralteter“ werden. Doch kann die Bedeutung für andere Interpreten und Betrachtungen dieser Daten ebenso steigen, ohne dass diese Empfänger an der Person als solcher interessiert sind.
Daten zeugen etwa von einer vergangenen Kultur und sind somit historisch enorm relevant. Die Zeit hat einen gewissen „entprivatisierenden“ Aspekt. Archäologen graben in den Müllhalden des Mittelalters und versuchen daraus, Leben und Alltag der Menschen zu verstehen. „Veraltete“ Daten haben ihre Daseinsberechtigung, während der Anspruch auf Privatheit schwinden kann. Nicht nur Archäologen und Historiker können alte Informationen durchaus als solche einordnen, warum sollten wir plötzlich online dazu nicht mehr in der Lage sein?
Schlichtung und Benachrichtigung würden Probleme verringern
Auch die Bundesregierung hat zu Lösch-Ansprüchen einen Verfahrensvorschlag konzipiert, der die derzeit erarbeitete Datenschutz-Grundverordnung ergänzen soll. Der an die EU-Ratspräsidentschaft gerichtete Vorschlag soll den geplanten Artikel 17 (Recht auf Löschung) erweitern. Dabei wird anerkannt, dass neben der betroffenen Person eine weitere dritte Partei tangiert ist, die ein Recht auf Stellungnahme erhalten soll. Zudem sollen Suchmaschinen Streitschlichtungs-Stellen einrichten, die unabhängig sind, autonom handeln und pluralistisch besetzt sind.
Was der „Löschbeirat“ übersieht, scheint die Note der Bundesregierung angehen zu wollen: Sie verlangt die Benachrichtigung der betroffenen dritten Partei und lässt dabei offen, wer jeweils Dritter ist: die Veröffentlichungsplattform wie zum Beispiel eine Zeitung, ein soziales Netzwerk, die Nutzer, die auf der Plattform veröffentlichen – oder sogar eine abstrakte, schwer definierbare Öffentlichkeit.
Keine Aufgabe für Google oder Staaten
Die vorgeschlagenen Streitschlichtungs-Einheiten in jeden Mitgliedstaat würden zudem den Konflikt, den das „Recht auf Vergessenwerden“ lösen will, in die richtige Sphäre verlagern: Laut den von Google veröffentlichten Statistiken haben die meisten Löschanträge Links betroffen, die auf Facebook-Postings führten. Die größte Konfliktfläche ergibt sich offenbar in der sozialen und weniger in der politischen Dimension der Öffentlichkeit. Es betrifft wohl Postings, die nicht verboten sind, aber beispielsweise als unmoralisch bewertet werden können und aus Angst vor Konsequenzen wie sozialer Diskriminierung von den Betroffenen lieber getilgt werden möchten. Die öffentliche Reichweite dieser Daten soll eingeschränkt werden.
Nun sind aber gerade diese Konflikte eigentlich keine juristische, sondern eine moralische Angelegenheit. Es kann nicht primär die Aufgabe des Staates oder Googles sein, über diese Konflikte zu entscheiden. Eine Suchmaschine wie Google ist dabei nur eine vermittelnde Infrastruktur, über die der Konflikt ausgetragen wird. Da das Interesse der Öffentlichkeit schwer repräsentierbar ist, könnten die Streitschlichtungs-Einheiten dieses Problem zumindest lindern: durch eine faire pluralistische Zusammensetzung, die möglichst viele verschiedene Interessensgruppen erfasst.
Problematisch an der Note ist jedoch, dass sie nur auf Suchmaschinen zielt. Die Probleme stellen sich bei anderen Technologien wie Facebooks „Social Graph“ oder Diensten zur Link-Indexierung und Kartographierung des Netzes ebenso. Die Anforderungen an Suchmaschinenbetreiber sind recht hoch, de facto wird nur Google sie erfüllen können und am Ende wird ausgerechnet Googles Monopol gestärkt. Es ist offen, ob der deutsche Vorschlag im Rat angenommen wird. An mancher Stelle des Vorschlags sollte weiterhin gefeilt werden. Wichtig ist der Grundgedanke, dass Demokratien ein Gleichgewicht von Privatsphäre und Öffentlichkeit benötigen und sie nicht als voneinander getrennte Sphären zu betrachten sind. Privatheit ist geronnene Kultur und letztere wird in der Öffentlichkeit ausgehandelt.
Disclosure: Lorena Jaume-Palasí war als Expertin zur Konsultation des Expertenbeirats von Google in Berlin geladen. Das Internet und Gesellschaft Collaboratory finanziert sich unter anderem durch Spenden von Google Deutschland.
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