Wie die Obama-Regierung den „Blindenvertrag“ vergiftet
Die Obama-Regierung kehrt den Menschen mit Behinderungen den Rücken – was mich ungeheuer empört. Ich bin Ingenieur und bemühe mich als sozialer Unternehmer, die Welt zu einem besseren Ort für Behinderte zu machen. Dabei betätige ich mich selten als lautstarker Fürsprecher. Aber wenn etwas so Ungerechtes wie derzeit passiert, muss man sich auch verbal dagegen zur Wehr setzen.
Jahrelang wurden die Verhandlungen für ein internationales Abkommen vorangetrieben, das unter dem Namen „Treaty for the Blind“ („Blindenvertrag“) bekannt ist. Mit diesem Vertrag soll Blinden oder anderen Menschen mit funktionellen Leseeinschränkungen Zugang zu Büchern verschafft werden, die sie für ihre Bildung und Ausbildung, ihre Arbeit und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben brauchen, unabhängig von ihrem Wohnort. Diese Versorgung mit Büchern wurde in den Vereinigten Staaten schon sehr erfolgreich eingeführt. Auch die ersten Entwürfe des internationalen Vertrags folgten diesem Grundsatz und hätten darüber hinaus den internationalen Austausch von Büchern erleichtert, die für Menschen mit Lesebehinderungen zugänglich sind.
Ein guter Vertrag würde wirklichen Fortschritt bedeuten und Millionen von Behinderten in anderen Ländern endlich den Zugriff auf Bücher ermöglichen. Die in den USA schon umgesetzten Prinzipien weiter zu verbreiten – das sollte das Ziel der US-amerikanischen Verhandlungen sein.
US-Regierung und Filmindustrie verwandeln den Vertrag für die Rechte der Blinden in einen Vertrag gegen diese Rechte
Jetzt sind die bereits erreichten Fortschritte jedoch gefährdet. Privatinteressen setzen alles dran, so genannte Giftpillen in das Vertragswerk zu mischen – wie beispielsweise Bestimmungen, die einige Länder entweder ganz davon abhalten werden, den Vertrag zu unterzeichnen, oder aber den Vertrag so komplex machen, dass er nicht mehr umgesetzt werden kann. Momentan sieht es erschreckend danach aus, als würden sich private Interessen gegen das Gemeinwohl durchsetzen.
In den letzten Monaten haben wir erlebt, wie die Verhandlungsdelegationen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union auf Geheiß des Verbands der großen US-Filmstudios (Motion Picture Association of America – MPAA) plötzlich den Kurs wechselten und sich für Positionen einsetzten, die im Widerspruch zur gegenwärtigen US-Gesetzgebung stehen – Positionen, bei denen ich mir kaum vorstellen kann, dass sie in den USA den Kongress passieren würden. Inzwischen ist ein Punkt erreicht, an dem viele Beobachter der Verhandlungen, die bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf stattfinden, der Meinung sind, dass dieses Abkommen sich in einen „Vertrag zum Schutz der Rechteinhaber vor den Blinden“ verwandelt.
Was steht überhaupt auf dem Spiel? Wenn es so weitergeht, werden wir einen Vertrag bekommen, der nicht den Blinden hilft, sondern die Agenda zu geistigem Eigentum der MPAA vorantreibt. Es wäre eine absolute Schande, wenn das passieren würde.
Barrierefreiheit könnte der Standard für Bücher sein – stattdessen wird sie verhindert
Die MPAA hat in einer öffentlichen Erklärung behauptet, es ginge ihr lediglich um einen „Ausgleich“. Verwirrt Sie diese Aussage genauso wie mich? Eine der mächtigsten Industrien auf diesem Planeten, die schon über unzählige Verträge und Gesetze zum Schutz ihrer Interessen verfügt, fühlt sich benachteiligt gegenüber Menschen, die wirtschaftlich und in Bezug auf die Versorgung mit Informationsmaterial zu den am meisten benachteiligten gehören? Dazu kommt: Würde der Vertrag so verabschiedet, dass er tatsächlich von Nutzen für die Blinden wäre, würde er gar nicht gegen all die Verträge und Gesetze der MPAA verstoßen. Ganz zu schweigen davon, dass die MPAA schon vor Jahren dafür gesorgt hat, dass ihre Inhalte aus diesem Vertrag ausgeschlossen sind. Ist es das, was die MPAA mit „Ausgleich“ meint?
Mich macht das so wütend, weil ich weiß, wie gut ein ausgewogenes Urheberrechtsgesetz funktionieren kann und in den USA auch funktioniert. Unsere Bookshare-Bibliothek hat das Recht, so gut wie jedes Buch einzuscannen, das von einem Blinden oder Lesebehinderten gebraucht wird: Wir verfügen jetzt über 190.000 der gefragtesten Bücher und Lehrbücher in barrierefreien Formaten wie Blindenschrift, Großdruck und als Hörbuch. Bei der heutigen Buchproduktion werden die Bücher schon „digital geboren“. Wir haben die Richtlinien und wir haben die Technologie, um sicherzustellen, dass „alle digital geborenen Materialien auch für alle zugänglich auf die Welt kommen“, wie Betsy Beaumon, Geschäftsführerin von Bookshare, es ausdrückt. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem die Barrierefreiheit zum Standardmodus für alle Bücher werden kann und werden sollte.
Und da wird in der „ausgewogenen“ Welt der MPAA verlangt, dass unsere Verhandlungsdelegation sich gegen ein System ausspricht, das in den USA gut funktioniert und hunderttausenden von Menschen hilft? Häh?
Mit welchen Mitteln der Vertrag verwässert werden soll
Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Giftpillen die MPAA, Verleger und jetzt auch die US-Verhandlungsdelegation in den Vertrag mischen wollen, skizziere ich im Folgenden die wesentlichen Punkte:
- Einschränkungen bei der Erhältlichkeit im Handel. Mit dieser Giftpille soll verfügt werden, dass ein Buch, das in einem für Blinde zugänglichen Format im Handel erhältlich ist, nicht in einer Bibliothek für Personen mit Lesebehinderung zur Verfügung stehen darf. Das käme einer Situation gleich, in der man in einer Bibliothek an allen Büchern Vorhängeschlösser vorfindet mit dem Hinweis „Wenn du das Buch lesen möchtest, kauf es dir“. Mit dieser Einschränkung bei der Erhältlichkeit im Handel müssten Bibliotheken wie Bookshare mit hunderttausenden von barrierefreien Büchern ein dermaßen komplexes bürokratisches Prozedere durchlaufen, dass sie sich gar nicht mehr leisten könnten, unter diesem Abkommen lesebehinderte Menschen außerhalb der USA mit Büchern zu versorgen. Auch die Delegationsleiterin der Weltblindenunion äußerte die Meinung, dass diese Bestimmungen Bookshare in der Praxis tatsächlich davon abhalten würden, beispielsweise blinden Menschen in Indien zu Büchern zu verhelfen.
- Der Knebel des „Drei-Stufen-Tests“. Der Drei-Stufen-Test ist Teil des internationalen Urheberrechts, mit dem den Ländern zugestanden wird, die Schranken- und Ausnahmeregelungen des Urheberrechts nach eigenem Ermessen festzulegen. Die in den USA geltenden Urheberrechtsschranken für die Blinden sind ein leuchtendes Beispiel für eine Regelung, die mit dem Drei-Stufen-Test im Einklang steht. Und was machen die US-Verhandlungsführer? Sie arbeiten daran, das wesentliche Prinzip des Drei-Stufen-Tests selbst zu verändern, seinen Text dahingehend umzuschreiben, dass er die Länder in ihrer Möglichkeit knebelt, das Urheberrecht weiter einzuschränken. Das führt mich zu Punkt 3.
- Konflikte mit dem US-Gesetz. Einfach ausgedrückt: Die USA werden so etwas nicht unterzeichnen. Unsere Verhandlungsdelegation setzt sich jetzt für einen Vertrag ein, der es – sollte er ratifiziert werden – erforderlich machen würde, dass der US-Kongress unsere vorbildhaften Schranken wieder abbaut. Im Grunde wäre dieser Vertrag viel zu gifthaltig, als dass die USA ihn schlucken würde. Nachdem nicht einmal die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom Senat ratifiziert wurde, obwohl sie mit dem geltenden US-Gesetz für Amerikaner mit Behinderungen nahezu identisch ist, sollte klar sein, dass ein vergifteter Blindenvertrag überhaupt keine Chance hätte, ratifiziert zu werden.
Alles wird darauf hinauslaufen, dass Rechteinhaber wie die MPAA für strengere, klarer definierte Schutzbestimmungen eintreten … für sich selbst. Das ist ihre Vorstellung von Ausgleich – der Versuch, den Blindenvertrag taktisch zu nutzen, um ihre eigene Agenda voranzutreiben. Beschämend ist vor allem, dass sie ihre Absichten nicht offenlegen, sondern stattdessen Gruppen wie die Weltblindenunion, die nichts weiter wollen, als die Welt für Blinde zu verbessern, beschuldigen, sie würden versuchen, „den globalen Markt zu unterminieren“.
Amerikaner, denen die Barrierefreiheit für Blinde ein Anliegen ist, sollten die Obama-Regierung wissen lassen, dass sie keinen vergifteten Vertrag wollen!
Deutsch von Ina Goertz. Originalbeitrag erschienen in der Huffington Post: Poisoning the Treaty for the Blind
Zur Person
Jim Fruchterman ist Gründer des gemeinnützigen Unternehmens Benetech, das er auch leitet. Zu Benetech gehört Bookshare, eine Online-Bibliothek, die derzeit mehr als 190.000 Bücher in barrierefreien Formaten für Menschen mit Sehbehinderungen anbietet. Fruchterman wurde für seine „sozialen Unternehmungen“ mit zahlreichen Preise ausgezeichnet und hat 2006 das mit 500.000 US-Dollar dotierte MacArthur-Fellowship erhalten (auch „Genie-Stipendium” genannt). Foto: Jim Fruchterman, CC by-nc.
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