Wem gehören die Bilder?
Der Schweizer Künstler Kurt Caviezel fahndet im Internet nach Webcams, die irgendwo fest installiert und deren meist stetig fließende Bilderströme frei zugänglich sind. Davon gibt es weltweit so viele und deren Bildinhalte sind so vielfältig, dass Caviezel sie thematisch kuratiert und konzeptionell verbindet. Das ist seine Kunst und die macht er schon seit Jahren – und das durchaus erfolgreich.
Er sieht das, was ihm die zum Überwachen oder Dokumentieren platzierten Webcams liefern, als eine Art Wirklichkeit an. Genauso wie Fotografen und Filmer die reale Welt durchstreifen und mit ihren Kameras Motive finden, durchstreift er die von tausenden Webcam-Objektiven eingefangenen „Welt-Ausschnitte“ und wählt aus ihnen aus.
Dabei stellt sich die Frage: Wem gehören die von den Webcams gelieferten Bilder? Denjenigen, die die Cams aufstellten und Ort, Blickwinkel und Bildgrenzen der Kamera festlegten? Oder denen, die die Bilder übertragen, also Zugangsprovider, Webdienstleister und Videohoster? Oder vielmehr jenen, deren Gesichter und Körper oder deren Möbel und Gegenstände abgelichtet sind? Oder am Ende – zumindest in ihrer Zusammenstellung – dem collagierenden Künstler?
Kurt Caviezel gibt zu, dass er sich darüber, ob er das darf, was er macht, bewusst hinwegsetzt. Er macht es eben einfach. Sein Anliegen ist einer der Kulminationspunkte im Dokumentarfilm „Der illegale Film“.
Eine 84-minütige Bewegtbilderflut
„Der illegale Film“ lässt die Antworten allerdings zumeist offen – wie er überhaupt darauf aus ist, eher Fragen aufzuwerfen. Warum machen wir überhaupt Fotos, heute massenhafter denn je? Was können sie bewirken? Wie gehen wir mit ihnen um? Wohin führen sie uns? Wem gehören sie – nicht nur heute, sondern vor allem in der Zukunft?
Mit einer wahren Bewegtbilderflut dekliniert der 84-minütige Dokumentarfilm durch, dass wir uns – als mediengewandte Prosumenten ebenso wie als Gesellschaft – mit genau diesen Fragen auseinandersetzen sollten. Und je eher, desto besser.
Der Film steigt in die Frühzeit der Fotografie ein. Schon damals beschäftigte die Pioniere des Genres, wie Louis Daguerre oder Jules Janin, ob sie auf ihren lichtempfindlichen Platten die Wirklichkeit festhalten oder eher interpretieren. Schon damals wollen Machthabende und Glaubensführer bestimmen, ob und wie Bildnisse zu deuten, zu verbieten oder zu zerstören sind; schon lange sind politisch-propagandistisch motivierte Retuschen und manipulierte Bilder bekannte Phänomene.
Digitale Bilder sind heute komplexe Datenpakete
Digitale Bilder bringen fundamental neue Herausforderungen mit sich. Sie lassen sich leicht klonen und verbreiten, bearbeiten und fälschen, kontextualisieren und missbrauchen. Zum einen, weil wir sie so bequem und so gutgläubig in fremde Hände geben: an soziale Netzwerke, Messenger- und Clouddienste. Zum anderen, weil sich Aufnahmegeräte mit ausgeklügelter Software maschinell in die Bilderzeugung einmischen und Fotoprogramme sowie Netzwerkplattformen unsere Bilder algorithmisch kuratieren.
Digitale Bilder sind heute komplexe Datenpakete. Dank der enthaltenen Metadaten sind sie viel mehr als nur Pixel, sie teilen Standort, Uhrzeit und Gerätedaten mit, die Abgebildeten lassen sich per Gesichtserkennung zuordnen. Und wir wissen, dass Unternehmen nicht nur imstande sind, diese Daten milliardenfach auszulesen und zu verknüpfen – sondern auch gewillt, damit Geld zu verdienen. An solchen Stellen steigt im Film der beißende Rauch einer längst schwelenden Dystopie hoch.
Der Dystopie stellen die Regisseure Martin Baer und Claus Wischmann dann systematisch die Alltagspraxis entgegen. Etwa, wie Baers zirka siebenjährige Tochter erste Erfahrungen mit ihrem ersten eigenen Fotoapparat macht, sich über schöne Bilder freut und über misslungene ärgert. So ruft er bei den Zuschauenden die kindlich-menschliche Freude am Abbilden und Einfangen von Erlebnissen, am Konservieren von Erinnerungen an. Doch schon an dieser Stelle verändert das maschinengestützte Fotografieren unsere Wahrnehmung, indem es auch solche Momente in eine (erzwungene) Erinnerung verwandelt, die unser menschliches Hirn vielleicht gar nicht abgespeichert hätte.
Dabei kommt der Film stets zurück zu seinen Grundfragen: Etwa danach, wem die Abbilder von Menschen rechtlich gesehen gehören? Das im Kunsturheberrecht verankerte „Recht am eigenen Bild“ und neue Datenschutzregeln möchten die Persönlichkeitsrechte stärken und verlangen eigentlich, dass die Abgebildeten gefragt werden, wenn ein Foto veröffentlicht werden soll. Allerdings erscheinen täglich Millionen von Selfies, Gruppen- und Alltagsfotos im Internet. Sie gelangen ohne jedwede Erlaubnisse der Abgebildeten in Netzwerke und Communities. Da geschehen täglich Rechtsverletzungen en masse, womöglich Bagatellen – doch diese Probleme sind urheberrechtlich bis heute nicht vernünftig gelöst. In einer kurzen Passage erläutert unter anderem der Medienanwalt Christlieb Klages, welche Probleme diese Rechtsunsicherheit erzeugt.
Der Film will nicht erklären, sondern erörtern
Dass das Urheberrecht für viele Alltagsnutzungen im Web nicht mehr zeitgemäß ist und auch die jüngste EU-Reform hier wenig Besserungen bringt, thematisieren Baer und Wischmann dennoch (siehe auch das Interview mit Martin Baer weiter unten) – wenn auch ohne Antworten zu geben. Sie zeigen zum Beispiel, dass Remixe und Mashups oder Homevideos, in denen Musik, Bilder oder andere Werke erscheinen – wenn auch nur peripher – immer in einer urheberrechtlichen Grauzone stattfinden.
„Der illegale Film“ will aber nicht erklären, sondern erörtern. Dazu baut er unter anderem Zitate von Susan Sontag, Villem Flusser und Sherrie Levine, sowie Interview-Antworten von Evgeny Morozow, John Berger, Yvonne Hofstetter, Norbert Bolz ein – gestalterisch sehr gut umgesetzt, weil in Straßenfluchten mit endlos vielen Reklamemonitoren hinein montiert. Aber auch diese bekannten Expert*innen werfen allenfalls Lichter in die zuvor skizzierten Graubereiche.
Diese Zitate und O-Töne ergänzen oder konterkarieren die zahlreichen, eng aneinander gereihten Webvideo-Auschnitte. Die stammen aus der Werbung, mal aus Spielfilmen oder Dokumentationen, sind auf Youtube und anderen Plattformen gefundene Schnipsel. Das ist mitunter ein atemberaubendes Stakkato an Ernüchterndem, Amüsantem, Absurdem und Verwirrendem, das oft für sich selbst spricht. Und diese Montagen sind nebenbei gesagt auch technisch gut umgesetzt, sodass selbst digitale Web-Videos, die geringe Auflösung und Bildqualität haben, für diesen Leinwandfilm ordentlich aufbereitet sind.
Ein sehenswerter, herausfordernder, relevanter und wichtiger Film
In den Aussagen und Schlussfolgerungen ist der Film oft ambivalent, auch widersprüchlich – aber genau das ist seine Stärke. „Der illegale Film“ ist eine bemerkenswerte künstlerische Arbeit, ein sehenswerter, herausfordernder, relevanter und wichtiger Film, hervorragend montiert und produziert. Ihm gelingt es, die Überlegungen zu fotografischen Bildern aus der Sicht des gesunden Menschenverstands anzugehen, diese Sicht mit klugen Bestandsaufnahmen von Expert*innen zu reflektieren und den Blick auf das Jetzt und Morgen unserer Bildernutzungen zu lenken. Er ist eine aufschlussreiche Reflexion, wie wir Bilder verstehen und wie wir sie nutzen.
Interview mit Martin Baer, Regisseur
Frage: Warum ist es wichtig, wem die Bilder gehören?
Martin Baer: Weil wir in einer Wirtschaftsform leben, in der schon fast alles mit einem Preis versehen ist. Das erstreckt sich inzwischen auch auf unsere Kommunikation. Da wir sehr viel mit Bildern kommunizieren, wird mit ihnen gehandelt. Und wenn auf den Bildern Dinge enthalten sind, die von Rechteinhabern beansprucht werden, wird es wichtig, wem die Bilder gehören.
Eine Frage, die der Film stellen will, ist, was passiert, wenn immer mehr von der Welt, die wir um uns sehen, Eigentum von Bildbesitzern wird? Können wir dann überhaupt noch richtig über die Welt kommunizieren? Oder heißt es dann „Nein, dieses Motiv darfst Du nur fotografieren, wenn Du 10 Cent bezahlst.“
Ich bin mir sicher, dass es solche Motiverkennungstechnologien geben wird – und auch Firmen, die darüber nachdenken, wie sie das umsetzen können. Also Geld zu verlangen, wenn die Leute beispielsweise ein bestimmtes Denkmal fotografieren wollen. Und wenn sie nicht zahlen, dann wird das Bild gleich wieder gelöscht. Ich will keine dystopischen Black-Mirror-Fantasien verbreiten, aber die Frage, wem ein Bild gehört, wird nicht nur Juristen und Philosophen interessieren, sondern viele Bereiche unseres Lebens betreffen.
Frage: Stellen die Maschinen tatsächlich irgendwann die Bilder selbst her?
Martin Baer: Die Foto-Apps in den Smartphones geben uns vor, wie etwas „richtig“ aussieht, etwa eine Abendstimmung so und eine Morgenstimmung so. Damit erzählen sie uns etwas. Das ist praktisch, hat aber mehr Auswirkungen, als wir wahrscheinlich vermuten. Irgendwann bekommen wir Bilder zu sehen, von denen wir nicht mehr sagen können, wo die herkommen, was da eigentlich drauf ist, ob es das überhaupt gibt.
Was passiert, wenn wir Bilder angucken, die aussehen wie Fotografien der Welt, es aber gar nicht sind? Wir müssen uns daher fragen, was es bedeuten wird, wenn Maschinen entscheiden, was ein gutes Bild ist, wenn sie diese Bilder aussuchen, sie interpretieren, und auch die Bilder von uns selbst durch künstliche Intelligenzen gemacht und bewertet werden – wenn also immer mehr Entscheidungsprozesse in solche Black Boxes verlagert werden.
Frage: Haben Bilder eine große Macht?
Martin Baer: Ja. Es ist ja nicht neu, dass Bilder auch lügen. Und eben nicht mehr sagen, als tausend Worte – was übrigens ein Slogan der Werbeindustrie war und nicht die Erkenntnis eines chinesischen Weisen, wie gerne behauptet wird. Bilder haben eine große Macht. Und obwohl wir schon länger wissen, dass Bilder auch manipuliert sein und uns alles mögliche vorspiegeln können, fällt es uns schwer, uns der Überzeugungskraft von technischen Bildern zu entziehen.
Wenn ich ein überzeugend gemachtes Bild von jemanden sehe, dann glaub ich das. Ich rechne nicht damit, dass es manipuliert sein kann, verändert oder komplett gestellt. Nein, ich habe den Eindruck, das ist so, wie mir meine Augen es zeigen, das wird schon so stimmen. Die zunehmenden Möglichkeiten der Technik, Simulationen immer besser zu gestalten, können wir noch gar nicht abschätzen.
Frage: Sie erörtern im Film urheberrechtliche Fragen – was wünschen Sie sich als Filmschaffender vom Urheberrecht?
Martin Baer: Die jetzigen urheberrechtlichen Regelungen sind viel zu kompliziert, zu widersprüchlich, sie verhindern mehr als sie ermöglichen. Sie schützen zwar urheberrechtliche Ansprüche, am Ende kommt aber nur ein kleiner Teil der Einnahmen bei den wirklichen Urhebern und Schöpfern an. Der größere Teil bleibt irgendwo hängen. Das gilt bei bestimmten Bereichen mehr als bei anderen, etwa in der Musik bei den Streamingdiensten. Aber auch aus Verbrauchersicht sind die Regelungen nicht mehr zeitgemäß. Ich sage nur Remix, Mashup, so etwas muss doch rechtlich möglich sein.
Frage: Wird „Der illegale Film“ auch im Fernsehen laufen?
Martin Baer: Dieser Dokumentarfilm entstand komplett ohne Beteiligung eines Fernsehsenders. Das ist in Deutschland sehr selten und es war nicht ganz einfach, ihn dennoch zu realisieren. Es gab großes Interesse von Fernsehredaktionen. Doch der Titel und die Art des Films führten dann dazu – weniger bei den Redaktionen als vielmehr bei den Justitiaren – uns kategorisch abzusagen. Dennoch kam kürzlich die Anfrage eines großen deutschen Senders, der sich nun für die Fernsehrechte interessiert.
Na, mal sehen, wir verhandeln gerne. Was ich mir aber auch erhoffe, ist den Film in Schulen zeigen und diskutieren zu können. Wir bekommen viele Anfragen von Hochschulen, aber auch für die sogenannten Schulfilmwochen, wo den Schulen speziell solche Kinofilme angeboten werden. Es gibt wohl schon begleitendes Lehrmaterial, davon wusste ich bis vor kurzem gar nichts. Die Bundeszentrale für politische Bildung empfiehlt ihn und stellt passendes Material zur Verfügung. Das finde ich bemerkenswert und erfreulich.
„Der illegale Film“
Regie: Martin Baer (Regie) und Claus Wischmann (Co-Regie, Produzent), Schnitt: Ralf Streese, Regie-Assistenz: Chrysanthi Goula. 2018, 84 Minuten, Produktionsfirma: Sounding Images.
Der Film wird seit April in ausgewählten Kinos im deutschsprachigen Raum gezeigt, oft mit Anwesenheit von Beteiligten. Informationen und Trailer zum Film auf der Webseite, dort finden sich auch kommende Termine für Kinovorführungen sowie Kontaktinformationen für Anfragen.
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