Vorratsdatenspeicherung: Was war, was wird
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Es ist sechs Jahre her, seit die Europäische Union dem Drängen der britischen Ratspräsidentschaft nachgab und die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verabschiedete. Eigentlich sollte diese Richtlinie zur Harmonisierung des EU-Binnenmarkts und zur Ermittlung und Verfolgung schwerer Straftaten sowie der Bekämpfung des Terrorismus dienen. Seit der Einführung wurde jedoch immer klarer, dass diese beiden Ziele nicht im Entferntesten erreicht wurden.
In diesem Jahr gab die schwedische EU-Kommissarin Cecilia Malmström offen zu, dass die Richtlinie gescheitert ist. Ende 2011 schrieben European Digital Rights (EDRi) und 37 Bürgerrechtsorganisationen einen offenen Brief an die Kommission. Sie fragten nach dem aktuellen Stand bei der Überprüfung der Richtlinie und der bevorstehenden Folgenabschätzung. Im Juli 2012 bestätigte Malmström dann gegenüber der deutschen Presse, was sie EDRi bereits in ihrem Antwortschreiben erklärt hatte: Da die EU-Länder die Speicherdauer, den Zugang zu den Daten und die Kostenübernahme vollkommen unterschiedlich regelten, führte die Maßnahme zu einer Fragmentierung des Binnenmarkts.
Außerdem stellte die Kommission frustriert fest, dass die Mitgliedsstaaten ihrer Verpflichtung nicht nachkommen konnten, Statistiken vorzulegen. Und schließlich musste die Kommission erkennen, dass es in mehreren Mitgliedsstaaten überhaupt keine Definition für „schwere Straftaten“ gibt und dort durch die Richtlinie der ungehemmte Zugriff auf die Daten vorprogrammiert war. So deckte die polnische Datenschutz-Organisation Panoptykon im April 2012 auf, dass die dortigen Behörden 2011 insgesamt 1,85 Millionen Mal auf die gespeicherten Telekommunikationsdaten zugriffen.
Was passiert nun mit der Richtlinie und welche politischen Optionen bleiben der liberalen Kommissarin? Wird die Richtlinie minimal oder grundlegend überarbeitet – oder gar komplett aufgehoben? Vier Faktoren erleichterten Malmström in diesem Jahr die Qual der Wahl: Der Europäische Gerichtshof (EuGH), der Ministerrat, die E-Privacy-Richtlinie und ACTA. Die EU-Kommissarin muss sich also bis 2014 nicht mehr zu weit aus dem Fenster lehnen.
1. Der Europäische Gerichtshof
Nachdem die Richtlinie in diesem Jahr auch in Rumänien, Tschechien und in Österreich umgesetzt wurde, ist Deutschland das einzige Land, in dem dies noch nicht geschehen ist. Laut Malmström kann die Kommission hier keine Ausnahme machen. Daher zog sie im Mai 2012 gegen Deutschland vor den EuGH – trotz der gleichzeitigen Kulanz gegenüber Mitgliedsstaaten, die entgegen ihrer vertraglichen Verpflichtung keine Statistiken lieferten. Fast zeitgleich wurde der Gerichtshof damit beauftragt, zu prüfen, ob die Richtlinie mit der Grundrechte-Charta sowie der Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass es in diesen beiden Verfahren im kommenden Jahr schon Urteile geben wird.
2. Der Ministerrat
Da viele der Mitgliedsstaaten im EU-Ministerrat für eine Vorratsdatenspeicherung sind, sieht sich die Kommission politisch nicht in der Lage, die tiefgreifenden Probleme der Richtlinie zu lösen oder sie gar aufzuheben. Die Kommission könnte zwar Maßnahmen vorschlagen, von denen sie weiß, dass die Mitgliedsstaaten sie akzeptieren werden – wie zum Beispiel, die Speicherfrist zu verkürzen. Großbritannien aber stellt sich hier quer, fordert eine Ausweitung und plant gerade mit der Communications Data Bill das bislang umfassendste Gesetz zur Internetüberwachung, das je ein Mitgliedsstaat eingeführt hat.
3. Die E-Privacy-Richtlinie
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Eine Überarbeitung der Vorratsdaten-Richtlinie würde nur Sinn ergeben, wenn gleichzeitig die E-Privacy-Richtlinie refomiert würde. Artikel 15 dieser Richtlinie erlaubt es momentan den EU-Ländern, Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung mit sehr vagen und unspezifischen Schutzmaßnahmen einzuführen. Auch eine komplette Aufhebung der Richtlinie würde also das Problem der Vorratsdatenspeicherung nicht lösen.
4. ACTA
Die Kommission ist seit dem Debakel mit dem Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) in all den Punkten, die irgendwie mit dem Internet zu tun haben, extrem vorsichtig geworden. Gerade Cecilia Malmström hat schon negative Erfahrungen gemacht: Sie handelte sich während der Diskussion um europaweite Internetsperren den Spitznamen „Censilia“ ein.
Die liberale EU-Kommissarin klammert sich nun an all diese Faktoren und hält daran fest, dass es mit der Richtlinie nicht vor und nicht rückwärts geht. Zumindest bis zum Ende ihrer Amtszeit 2014, die mit den schwedischen Reichstagswahlen zusammenfällt.
Kirsten Fiedler arbeitet als Advocacy Manager bei der Nichtregierungsorganisation European Digital Rights (EDRi), die in Brüssel 32 Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen vertritt. Sie bloggt über Netzpolitik und engagiert sich bei der belgischen NURPA sowie beim Digitale Gesellschaft e.V. Auf Twitter heißt sie @Kirst3nF.
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