Von der EU lernen? Russland führt ein „Recht auf Vergessenwerden“ ein
Anfang Juli wurde von der Staatsduma ein Gesetz verabschiedet, das ein „Recht auf Vergessenwerden“ in Russland einführt. Es kam für die Internetbranche völlig überraschend, denn das legislative Verfahren war bemerkenswert kurz: In nur fünf Wochen wurde das Gesetz auf den Weg gebracht.
Seine Initiatoren erklärten ihr Bestreben mit Verweis auf den Präzedenzfall 2014 in der Europäischen Union, das Google-Spain-Urteil; außerdem mit dem Schutz vor Cybermobbing, vor Rufschädigung, der Verletzung der Privatsphäre und vor Datenmissbrauch. Die Idee für ein Gesetz wurde bereits im Herbst 2014 von Igor Schtschjogolew geäußert, dem ehemaligen Minister für Kommunikation, derzeit Berater des Präsidenten.
Stimmt die Analogie mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs und welche Konsequenzen hat das russische „Recht auf Vergessenwerden“? Ist es die nächste Etappe staatlichen Drucks auf das Runet, wie das russischsprachige Internet genannt wird? Im vergangenen Jahr wurde eine Reihe restriktiver Internetgesetze verabschiedet, die Blogger, öffentliches WLAN und persönliche Daten betreffen.
Diese Sorge kursierte erneut in der russischen Internet-Community, als die Abgeordneten am 16. Juni dem Gesetz zustimmten. Genauer: der ersten Fassung von Änderungen zum „Gesetz über Information, Informationstechnologien und Informationsschutz“ und bei der Zivilprozessordnung.
Initiatoren verweisen auf Europa
Yandex, der größte Suchmaschinenbetreiber und der IT-Branchenverband RAEK liefen Sturm gegen die als „odiös“ empfundenen Regelungen. Sie warnten vor einer Gefahr für die Meinungs- und Informationsfreiheit, der Verschleierung unliebsamer Fakten aus der Vergangenheit und einer Missachtung der Funktionsweise von Suchmaschinen. Dabei sahen sie sich Parlamentariern aller vier Dumafraktionen gegenüber, die auf die „analoge Praxis“ in der EU verwiesen.
„Recht auf Vergessenwerden“
Im Mai 2014 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Google Links auf Zeitungsartikel über einen Spanier löschen muss (C-131/12). Nutzer können demnach von Suchmaschinen verlangen, dass sie Links unter bestimmten Bedingungen entfernen: Wenn die Ergebnisse bei einer Namenssuche auftauchen, die Daten zum Beispiel „inadäquat“ oder „nicht mehr relevant“ sind und kein öffentliches Interesse am Zugang überwiegt. Einige Kritiker und Befürworter des Urteils sehen den Begriff „Recht auf Vergessenwerden“ aber als schief an.
Die Parlamentarier zeigten sich jedoch kooperativ und ließen sich auf Beratungen mit Vertretern der Branche und der Präsidialadministration ein, zumal die Rechtsverwaltung der Duma den Gesetzesentwurf als widersprüchlich und fehlerhaft beurteilte. Am 3. Juli wurde die endgültige Fassung mit 379 Stimmen bei zwei Gegenstimmen beschlossen. Das Gesetz tritt am 1. Januar 2016 in Kraft.
Es begründet ein Recht der Bürger, von Suchmaschinen die Entfernung von Suchergebnissen zu verlangen, die mit dem eigenen Namen verknüpft sind. Voraussetzung für die Löschpflicht sind dabei falsche, nicht aktuelle Informationen oder solche, die gesetzeswidrig verbreitet werden. Dazu zählen Verstöße gegen das erwähnte Informationsgesetz (Nr. FZ-149), das den Datenschutz, den Informationszugang und andere Aspekte von Informations- und Kommunikationsnetzen regelt. Ausgenommen sind Informationen über Ereignisse, die „Anzeichen einer juristischen Straftat enthalten, deren Strafdauer noch nicht abgelaufen ist“.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Der Gesetzgeber zählt somit konkrete Fälle auf, in denen Links entfernt werden müssen. Dagegen genießt das Recht auf Löschung in der EU keinen absoluten Schutz. Der Europäische Gerichtshof leitet das Recht aus der EU-Datenschutzrichtlinie ab und mahnt die Entfernung bei inadäquaten, irrelevanten und übermäßigen Suchergebnissen an. Jedoch plädiert er ausdrücklich für eine Interessenabwägung zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem schutzwürdigen Interesse der Privatperson. Suchmaschinen werden vom EuGH nicht nur als Vermittler von Inhalten, sondern als Datenverarbeiter angesehen.
Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede zwischen dem „Recht auf Vergessenwerden“ in Russland und in der EU nicht allzu groß zu sein. Bei genauerem Hinsehen werden die Unterschiede sichtbar. Das neue Gesetz in Russland definiert eine Suchmaschine als „ein Informationssystem, das auf Anfrage eines Nutzers eine Suche im Internet nach einer bestimmten Information vornimmt und dem Nutzer Verweise auf Webseiten zum Zweck des Zugangs zur gesuchten Information auf Webseiten, die anderen Personen gehören, herausgibt“. Damit sind vom Gesetz in erster Linie Yandex, Google.ru, die Suchmaschine von Mail.ru, Microsoft Bing und Rambler betroffen. Ausländische Anbieter sind insoweit betroffen, als sie Werbung verbreiten, die sich an russische Verbraucher richtet.
Will nun ein Bürger Links mit unerwünschten Verweisen entfernen lassen, muss er einen begründeten Löschantrag stellen. Dazu muss er mit Identitätsnachweis Angaben zu seiner Person und zur betreffenden Webseite beim Suchmaschinenbetreiber einreichen. Innerhalb von zehn Tagen muss der Verweis entfernt oder eine begründete Ablehnung geliefert werden. Betroffen sind nur die Links aus dem Suchindex, die Information selbst bleibt unangetastet. Bei einem Ablehnungsbescheid kann der Bürger das Gericht seines Wohnsitzes anrufen und den Anspruch gerichtlich durchsetzen. Werden Gerichtsurteile nicht befolgt, drohen Geldstrafen von bis zu drei Millionen Rubel, rund 47.600 Euro.
Keine Ausnahmen für Politiker und Beamte
Besonders deutlich zeigen sich die Unterschiede im Umgang mit Löschverlangen von Personen des öffenlichen Lebens. Während in der EU hier Ausnahmen vorgesehen sind, ist es in Russland anders: Ein Änderungsantrag mit Ausnahmen von der Löschpflicht bei Politikern und Beamten, den der Abgeordnete Dmitrij Gudkow – einzige Gegenstimme bei der Abstimmung in erster Lesung – einbrachte, wurde abgelehnt.
Zudem entfaltet der russische Weg über die Legislative eine andere Kraft als der europäische über die Judikative: Gesetze haben naturgemäß eine andere Qualität als Gerichtsurteile, zumal das EuGH-Urteil keine absolute Pflicht begründet, sondern eine Balance zwischen privaten und öffentlichen Interessen anmahnt. Und doch liegt gerade hier der neuralgische Punkt des „Rechts auf Vergessenwerden“. Dient es dem Schutz der Privatsphäre oder schränkt es die Informationsfreiheit ein? In der EU sind die Meinungen sehr gespalten. In Russland kritisieren die Gegner das Gesetz als verfassungswidrig, als Verstoß gegen die Freiheit der Meinung und des Wortes aus Verfassungsartikel 29, außerdem als Verstoß gegen die Informationsfreiheit aus Artikel 8 des Informationsgesetzes.
Ob sich die Befürchtungen als wahr erweisen, wird sich erst prüfen lassen, nachdem das Gesetz am 1. Januar in Kraft getreten sein wird. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen Internetfirmen das Gesetz technisch und organisatorisch adäquat umsetzen, die Gerichte trotz der bekannten Schwächen des Rechtsstaats mit den Klagen verantwortungsvoll umgehen und das apokalyptische Szenario für das Runet nicht eintritt, wie es zwei russische Webdesigner ausgemalt haben. Wer es sehen möchte, gebe auf zabvenie.com – zabvenie bedeutet „vergessen“ – zum Beispiel „Путин“ (Putin) in die Suchmaske ein.
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