Verstößt Artikel 17 der EU-Urheberrechts-Richtlinie gegen EU-Grundrechte?

Die Artikel 17-Studie der GFF (PDF) bezieht sich direkt auf ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), das auf eine Klage von Polen zurückgeht. Polen gehört zu den sechs Ländern, die 2019 im EU-Ministerrat gegen die Urheberrechtsrichtlinie votierten. Aufgrund der Klage muss der EuGH klären, ob Artikel 17 gegen die Meinungs- und Informationsfreiheit verstößt, weil er bestimmte Plattformen zur automatischen Sperrung von Urheberrechtsverletzungen verpflichtet.
Laut der Gesellschaft für Freiheitsrechte* ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für den nächsten Sommer zu erwarten. Bis dahin muss die EU-Urheberrechts-Richtlinie in den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt sein. Daher will die GFF mit ihrer Studie die Debatte um die Ausgestaltung der Richtlinie in Deutschland und Europa um grundrechtliche Betrachtungen bereichern.
iRights.info: Sie schreiben in Ihrer Studie, Artikel 17 der EU-Richtlinie sehe eine unzulässige allgemeine Überwachungspflicht vor. Sind Filtertechnologien, die privatwirtschaftliche Internetplattformen für nutzergenerierte Inhalte einsetzen, tatsächlich eine „Überwachung“, im Sinn von Überwachungs-Kameras, Geheimdiensten und ähnlichem?
Joschka Selinger: Anders als der Name vermuten lässt, und anders als bei der Überwachung durch staatliche Geheimdienste, geht es dabei nicht in erster Linie um den Datenschutz. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat schon 2012 entschieden, dass die Pflicht zur Einrichtung eines Filtersystems, das alle Uploads überwacht, neben den Grundrechten auf Privatsphäre und Datenschutz der Nutzer*innen auch deren Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die die Berufsfreiheit der betroffenen Plattformen verletzt.
Julia Reda: Die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Beleidigungstatbeständen hat den Einsatz von Uploadfiltern unter sehr engen Voraussetzungen erlaubt. In unserer Studie zeigen wir, dass diese Rechtsprechung nichts daran ändert, dass Artikel 17 eine verbotene allgemeine Überwachungspflicht darstellt. Das liegt insbesondere daran, dass sich die Sperrverpflichtung nicht auf konkrete illegale Nutzungen geschützter Werke beschränkt, deren Rechtswidrigkeit vorher durch ein Gericht festgestellt wurde.
iRights.info: Die Richtlinie sieht Lizenzpflichten für Plattformen vor und ermöglicht, dass Verwertungsgesellschaften künftig kollektive Lizenzen mit erweiterter Wirkung vergeben könnten, etwa um nutzergenerierte Inhalte lizenzrechtlich „einfangen“ zu können. Mit Verweis auf diese Mechanismen äußern Verwerter, Urheberverbände und Verwertungsgesellschaften, dass Uploadfilter wahrscheinlich wenig zu filtern hätten und daher weder Meinungsfreiheit noch Grundrechte einschränkten.
Julia Reda: Die Plattformen müssen nur solche Inhalte sperren, für die sie keine Lizenz erwerben konnten. Aber Rechteinhaber*innen werden weder durch Artikel 17 noch durch die Möglichkeit erweiterter kollektiver Lizenzen dazu gezwungen, den Plattformen überhaupt Lizenzen anzubieten. Sie können stattdessen jederzeit die Sperrung ihrer Werke verlangen, dann muss die Plattform bestmögliche Anstrengungen unternehmen, um den Upload solcher Inhalte zu verhindern – was angesichts der enormen Mengen an Daten, die auf Plattformen wie YouTube oder Twitter hochgeladen werden, nur durch Uploadfilter möglich ist. Ein Verzicht auf Uploadfilter wird trotz der Möglichkeiten von erweiterten kollektiven Lizenzen nicht möglich sein.

Joschka Selinger ist Jurist und bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte zuständig für die Kommunikationsfreiheiten. Foto: Frederick Vidal, CC BY-SA 4.0
Joschka Selinger: Für die meisten Arten von Content gibt es keine zentrale Rechteverwaltung, von der die Plattformen Lizenzen einholen könnten. Große Teile der Filmbranche sind gänzlich uninteressiert, Lizenzen mit Social Media-Plattformen auszuhandeln, weil sie ihre Inhalte lieber exklusiv vermarkten. Selbst in der Musikbranche, mit einer vergleichsweise starken kollektiven Rechtewahrnehmung, können nicht alle Werke lizenziert werden, etwa weil Streit über die Verwertungsrechte besteht.
Zudem gibt es keine europäischen Verwertungsgesellschaften, die Foto-, Film-, oder Softwareinhalte lizenzieren könnten. Ohnehin gelten erweiterte kollektive Lizenzen nur für das Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaats. Um das Problem der Uploadfilter zu entschärfen, bräuchte es aber eine europaweite Regelung. Sonst entsteht trotz kollektiver Lizenzvergabe ein rechtlicher Flickenteppich, bei dem die Plattformen in jedem Land andere Inhalte durch Uploadfilter sperren müssen.
iRights.info: In Ihrer Studie monieren Sie, die in Artikel 17 formulierten Schutzvorkehrungen gegen ungerechtfertigtes Sperren legaler Inhalte wären unzureichend.
Joschka Selinger: Die Verfahrensvorkehrungen für den Schutz gegen die Sperrung legaler Inhalte in Artikel 17 kann man grob unterteilen: In durchsetzbare spezifische Vorschriften und generelle Vorschriften, die eher ein Ziel formulieren. Unsere Studie zeigt, dass die spezifischen, durchsetzbaren Schutzvorkehrungen allesamt erst dann greifen, wenn ein Inhalt bereits gesperrt wurde.
Diese Schutzvorkehrungen können also nicht verhindern, dass ein legaler Remix oder eine Parodie beim Upload von einem Filter gesperrt wird. Der Schaden für die Meinungsfreiheit ist dann schon eingetreten. Die generellen Schutzvorkehrungen können das nicht verhindern. Artikel 17 Absatz 7 verbietet zwar die Sperrung legaler Inhalte, er enthält aber weder eine Durchsetzungsmöglichkeit noch Anhaltspunkte, wie eine nationale Umsetzung dieses Ziel erreichen soll.
Julia Reda: Wozu das führt, zeigen die Umsetzungsvorschläge in Frankreich und den Niederlanden, die bislang überhaupt keine spezifischen Schutzvorkehrungen gegen fälschliche Sperrungen enthalten. Artikel 17 sieht auch keine Informations- oder Transparenzpflichten vor. Das heißt, die Nutzer*innen haben keine Möglichkeit um zu erfahren, warum ein Filter eine Entscheidung getroffen hat. Das verschärft den Eingriff in die Meinungsfreiheit, weil es zu chilling effects führt: Nutzer*innen werden von der Nutzung der Plattformen abgeschreckt, wenn ein undurchsichtiger Algorithmus ohne Erklärung ihre Uploads entfernt.
iRights.info: Wie sollten die aus Ihrer Sicht fehlenden Durchsetzungsvorschriften aussehen?
Joschka Selinger: Damit Overblocking verhindert oder zumindest minimiert wird, müssen Schutzvorschriften schon beim Upload eingreifen. Daher fanden wir die Möglichkeit zum Pre-Flagging gut, die im ersten Diskussionsentwurf des Justizministeriums stand. Sie besagt, dass alle Nutzer*innen die Inhalte schon beim Upload als rechtmäßige Nutzung kennzeichnen können. Diese Inhalte hätten zunächst online gehen und erst nach einer Beschwerde des Rechtsinhabers gesperrt werden können.
Leider wurde dieses Prinzip im aktuellen Referentenentwurf bereits so weit verwässert, dass die Nutzer*innen in vielen Fällen überhaupt keine Chance hätten, Inhalte als legal zu kennzeichnen. Damit sie ein Gleichgewicht zu den Interessen der Rechteinhaber*innen erhalten, müssten die Nutzer*innen in die Lage versetzt werden, die Kontrolle über den Upload zu behalten. Wenn der Uploadfilter entscheidet, was online gehen darf, kommt wirksamer Rechtsschutz meist zu spät.
iRights.info: Weshalb verstoßen die in der Richtlinie formulierten Regelungen Ihrer Meinung nach gegen Grundrechte?

Julia Reda war von 2014 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und setzt sich seit langem als Politikerin und Aktivistin mit dem europäischen Urheberrecht auseinander. Seit 2020 arbeitet sie bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und ist dort Koordinatorin für das Projekt control ©, in dessen Rahmen die vorliegende Studie veröffentlicht wurde. Foto: Diana Levine, CC BY-SA 4.0
Julia Reda: In unserer Studie haben wir die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Inhaltefiltern und Meinungsfreiheit analysiert. Die Rechtsprechung zeigt klar, dass die Schutzvorkehrungen in Artikel 17 nicht ausreichen, um eine Verletzung der Meinungsfreiheit der Nutzer*innen zu verhindern, die durch die automatische Sperrung rechtmäßiger Inhalte erfolgen würde. Die Schutzvorkehrungen verstoßen also nicht selbst gegen die Grundrechte, aber sie reichen auch nicht aus, um sie zu schützen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, kurz: EGMR, hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass die Sperrung von Inhalten, bevor ein Gericht deren Rechtmäßigkeit beurteilt hat, einen besonders schweren Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt, der einer Vorzensur gleichkommt. Deshalb müssen Gesetze, die zu solchen präventiven Einschränkungen führen, nach der Rechtsprechung des EGMR klare und effektive Schutzvorkehrungen enthalten.
Der EGMR fordert insbesondere Transparenz und Überprüfbarkeit der Entscheidungen sowie effektive Rechtsbehelfsmechanismen, um die präventive Sperrung legaler Inhalte verhindern zu können. Für uns ist klar, dass die Schutzvorkehrungen in Artikel 17 diese Anforderungen nicht erfüllen. Diese Rechtsprechung des EGMR muss der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung der Grundrechtecharta berücksichtigen.
Joschka Selinger: In den Entscheidungen Schrems II und Digital Rights Ireland hat der EuGH deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber bei der Verabschiedung von europäischen Rechtsakten die betroffenen Grundrechte selbst in Einklang bringen und ein Mindestmaß an Schutzvorkehrungen einführen muss. Diese Aufgabe darf er nicht auf die Mitgliedstaaten oder gar private Unternehmen abwälzen.
Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erklärte der EuGH auch deshalb für nichtig, weil sie keine europaweit verpflichtenden Schutzvorkehrungen für die Grundrechte der Betroffenen enthielt. Die Urteile stammen zwar aus dem Bereich des Datenschutzes, aber hier hat der EuGH eine allgemeine Aussage über die zentrale Verantwortung des europäischen Gesetzgebers für die Grundrechte formuliert, die genauso auch für Artikel 17 gilt.
Die polnische Regierung hat unmittelbar nach Verabschiedung der Richtlinie eine Nichtigkeitsklage vor dem EuGH gegen die Vorschriften in Artikel 17 erhoben, die auf den Einsatz von Uploadfiltern hinauslaufen. Die mündliche Verhandlung zu dieser Klage fand kürzlich statt. Darin hat der EuGH die Prozessbeteiligten explizit gefragt, ob Artikel 17 den Anforderungen des Schrems II-Urteils gerecht wird. Unsere Studie kommt zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist.
iRights.info: Kürzlich veröffentlichten rund 50 Content Creators, die als Youtuber und auf anderen großen Plattformen über 50 Millionen Follower erreichen, eine Stellungnahme. Sie finden sich als „Prosumer“ – zugleich Nutzer*innen und Urheber*innen – weder im geltenden Urheberrecht noch in den Reformvorschlägen wieder und kritisieren die Uploadfilter. Was halten Sie davon?
Joschka Selinger: Die Content Creator und damit auch ihre Fans sind von der Umsetzung von Artikel 17 besonders betroffen. Gleichzeitig sind ihre Interessen in der Urheberrechtsgesetzgebung völlig unterrepräsentiert. Artikel 17 und der deutsche Umsetzungsentwurf gehen von einer Trennung von Urheber*innen und Nutzer*innen aus, die der Realität auf den Plattformen einfach nicht mehr entspricht.
Verbände der Unterhaltungsindustrie behaupten gerne, dass beispielsweise die geplante Ausnahme für kurze Inhalteschnipsel – bis 20 Sekunden Audio oder Video, bis 1000 Zeichen Text – den Kreativen schaden würde. Doch genau für diese Ausnahme setzen sich die Content Creator, die allesamt professionelle Kulturschaffende sind, besonders ein.
Julia Reda: Wie wichtig die Content Creator für die Kommunikation und Kultur im Internet sind, zeigt schon ihre beeindruckende Reichweite. Dass sie ihre Interessen klar artikulieren und Forderungen an die Politik richten, ist ein Gewinn für die Debatte. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik nicht den Fehler wiederholt, diese Stimmen zu ignorieren.
*Die Gesellschaft für Freiheitsrechte wurde 2015 als Zusammenschluss von Jurist*innen und Netzpolitiker*innen in Berlin gegründet. Der eingetragene, gemeinnützige Verein setzt sich nach eigenen Angaben mit strategischer Klageführung für Grund- und Menschenrechte.
1 Kommentar
1 Schmunzelkunst am 29. November, 2020 um 12:52
Zum Thema Pre-Flagging, wonach “Nutzer*innen die Inhalte schon beim Upload als rechtmäßige Nutzung kennzeichnen können”. Eine solche Erklärung, kann ich gern an dieser Stelle schon einmal pauschal für alle meine Beiträge abgeben ;-). Aber Spaß beiseite, wenn es gelingen sollte, einen Weg ohne Upload-Filter und kollektive Lizenzen zu finden, dann sollte man bei der Gelegenheit auch über die Abschaffung der umständlichen Privatkopie-Abgabe nachdenken. Siehe hierzu auch meinen Betrag https://irights.info/webschau/webschau-eu-urheberrechtsreform-und-artikel-13-pro-und-kontra/29417#comment-77603 MfG Johannes
Was sagen Sie dazu?