Urheberrecht versus Bildung und Wissenschaft – Forscher weisen Wege aus dem Dilemma
Wenn ein Lehrer an einer Realschule oder eine Wissenschaftlerin an einer Universität mit dem Urheberrecht in Berührung kommen, dann ist das meist ein eher frustrierendes Erlebnis: darf ein Arbeitsblatt mit urheberrechtlich geschützten Fotos ins Intranet der Schule oder gar auf eine Webseite hochgeladen werden? Wieviele Seiten eines Lehrbuchs darf ich im digitalen Semesterapparat zur Verfügung stellen? Warum schickt mir die Bibliothek das gewünschte Buchkapitel auf Papier per Post und nicht einfach als PDF per Mail?
Diese und viele weitere Fragen stellen sich nicht nur Lehrende an Schulen und Forscher an Hochschulen, sie stehen auch im Fokus einer kürzlich veröffentlichten Studie des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (PDF) mit dem Titel „Ökonomische Auswirkungen einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht“.
Studie im Auftrag des Bildungsministeriums
Die Studie entstand im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das sich seinerseits am Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (PDF) orientierte. Dort hielten die Regierungsparteien ihr Versprechen fest, das Urheberrecht zumindest im Bildungs- und Wissenschaftsbereich fit für das digitale Zeitalter zu machen.
Wichtigster Ansatzpunkt dafür sind spezifische Ausnahmen vom Grundsatz „Alle Rechte vorbehalten“ für die Bereiche Bildung und Forschung. Während normalerweise keine Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte ohne individuelle und aufwändige Rechteklärung erlaubt ist, dürfen EU-Mitgliedsländer zur Förderung von Bildung und Forschung Ausnahmen im Urheberrecht vorsehen – sogenannte „Schranken“.
Auch im aktuellen Urheberrecht gibt es eine Reihe von derartigen Ausnahmebestimmungen, allerdings sind diese unflexibel, unzeitgemäß und unübersichtlich, wie auch aus den Ergebnissen der Düsseldorfer Studie klar hervorgeht.
Prüfungsauflagen zu hoch, Rechtsbestimmungen unpraktikabel
Für ihre Untersuchung erhielten die Forscherinnen und Forscher Antworten von 303 wissenschaftliche Bibliotheken und 133 Stadtbibliotheken. Deren Rückmeldungen zeichnen ein düsteres Bild von der aktuellen Rechtslage.
Die meisten Kommentare wurden beispielsweise zum Versand digitaler Kopien abgegeben, der nur in sehr engen Grenzen erlaubt ist (laut Paragraf 53a des Urheberrechtsgesetzes).
So müsste in jedem Einzelfall geprüft werden, ob ein Verlagsangebot zu „angemessenen Bedingungen“ vorliegt. Nur wenn ein solches fehlt, darf die Bibliothek einen Aufsatz auch digital verschicken. Für viele kleinere Bibliotheken sei so eine Prüfung „fast nicht machbar, also lässt man es lieber“.
Manche Rückmeldungen lesen sich wie Erzählungen eines Schildbürgerstreichs. So würden Fernleihen häufig „elektronisch angefordert, von der gebenden Bibliothek an die Leitbibliothek geliefert, dort ausgedruckt und über unsere Bibliothek an die Besteller ausgeliefert, die sie dann zur einfacheren Handhabung wieder einscannen.“
In anderen Fällen, wie dem Zweitveröffentlichungsrecht oder elektronischen Leseplätzen, bleiben Rechte wegen komplizierter und unpraktikabler Bestimmungen ungenutzt und machen so den Zugang zu Wissen unnötig schwierig.
Kein Wunder, dass Urheberrechtsverletzungen auch im Wissenschaftsbereich an der Tagesordnung stehen, wie folgendes Interviewzitat illustriert: „Im Grunde haben die meisten Wissenschaftler keine genaue Ahnung vom Urheberrecht und verstoßen permanent gegen eine enge Auslegung der Urheberrechts.“
Wissenschaftsverlage würden durch Schranken nicht gefährdet
Als Ausweg aus dieser Misere empfehlen die Studienautorinnen und -autoren eine von mehreren Varianten einer allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht einzuführen.
Es würden dann nicht mehr einzelne Nutzungsweisen detailliert und kompliziert geregelt sondern vordringlich auf den Zweck und Kontext der Nutzung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich abgestellt.
Dass durch eine derartige Erweiterung von Ausnahmen die Verlagslandschaft bedroht wäre, glauben die Autoren und Autorinnen nicht. Im Gegenteil, sowohl Bildungsmedien- als auch Wissenschaftsverlage „verfügen über Marktmacht“ und es sei „unwahrscheinlich, dass die Erweiterung der Schranken des Urheberrechts die Marktmacht […] zu durchbrechen vermag“. Spürbare Erlösrückgänge seien demnach durch die angedachten Schrankenerweiterungen nicht zu erwarten.
Auch Warnungen vor einer geringeren Publikationszahl oder -qualität halten sie für unbegründet. So „spielt die Aussicht auf finanzielle Erträge […] in vielen Wissenschaftsdisziplinen eine untergeordnete Rolle“ und auch die Qualitätssicherung über Begutachtungsverfahren erfolgt in der Regel unvergütet.
Zugang zu Forschungsergebnissen könnte beschleunigt werden
In der Tat stehen Wissenschaftler unter „Publikationsdruck“, wenn sie im Wissenschaftsbetrieb verbleiben oder Drittmittel einwerben möchten. Eine Lockerung urheberrechtlicher Bestimmungen könnte vielmehr helfen „die Generierung neuer Forschungsergebnisse zu beschleunigen […] sofern zum Beispiel Barrieren für die Anwendung neuer Informationsverarbeitungsinstrumente, etwa in Form von Data Mining und Text Mining, abgebaut werden“.
Ein weiteres Potential von erweiterten Schrankenbestimmungen sehen die Studienautorinnen und -autoren in möglichen Umschichtungen von Bibliotheksbudgets, die vor allem kleineren Verlagen zu Gute kommen könnten: „Wenn die Bibliotheken in Folge der Schrankenerweiterung einen geringeren Anteil ihrer Erwerbungsetats in die Breite streuen, dafür aber verstärkt die Literaturbestände in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen diversifizieren, können Nischenverlage, die hochspezialisierte Wissenschaftsliteratur veröffentlichen, davon profitieren.“
Laut Studie ist eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke realisierbar
Angesichts der Vielzahl der angeführten Vorteile und nur geringen Gefahren für die Verlagsseite, fällt das „rechtspolitische Ergebnis“ im letzten Kapitel der Studie eindeutig aus: „Eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke [ist] realisierbar.“
Für manche konkreten Empfehlungen, wie dem (Fern-)Verleih von E-Books oder einem besseren Zugang zu digitalen Archiven, seien Änderungen auf EU-Ebene erforderlich. Doch eine weitgehende Bildungs- und Wissenschaftsschranke sei auch ohne Weiteres in Deutschland möglich.
Tatsächlich existiert sogar ein ebenfalls vom Bildungsministerium beauftragter, konkreter Regelungsvorschlag von Katharina de la Durantaye, der genau jene Möglichkeiten innerhalb des deutschen Urheberrechts auszuschöpfen versucht.
Die Fakten liegen mit der Studie jedenfalls auf dem Tisch. Am Zug ist jetzt die Politik.
„Ökonomische Auswirkungen einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht“, von Justus Haucap, Ina Loebert, Gerald Spindler und Susanne Torwart. Düsseldorf University Press 2016.
2 Kommentare
1 Lehrer am 7. August, 2016 um 18:52
Interessanter Artikel. Da die Verlagslobby (in ihrem Sinne) gute Arbeit leistet und die Politiker keine Ahnung von der Materie haben bzw. sich wie auch immer von der Lobby beeinflussen lässt, halte ich eine zeitnahe Reform für unwahrscheinlich …
2 Matthias Ulmer am 24. August, 2016 um 13:11
Letztlich hat die Studie nur eine Aussage: Monopolisten haben Marktmacht, Marktmacht bedeutet Freiheit bei der Preissetzung, dann können Absatzrückgänge beliebig durch Preissteigerungen ausgeglichen werden.
Das ist ein Lehrsatz der ökonomischen Theorie, von der ja gemeinhin bekannt ist, dass sie mit der Realität wenig gemein hat. Nur leider ist das offensichtlich in der Wissenschaft unbekannt.
Man hätte prüfen können, ob er sich in der Praxis nachweisen lässt. Man hätte prüfen können, ob die betroffenen Verlage wirklich Monopole haben. Man hätte prüfen können, ob das für alle Medien gilt.
Möglicherweise gilt das Uralt-Ergebnis von Haucap für fünf Wissenschaftsverlage und bei denen für einen Teil ihrer Zeitschriften. Dann wäre es ein denkbarer Vorschlag, für diese eine Schranke zu formulieren.
Die Monopolthese gilt aber nicht für den Lehrbuchbereich, nicht fürs Schulbuch, nicht für geisteswissenschaftliche Monografien, nicht für 99% der übrigen Verlage. Ja, nach der Schrankendefinition sind auch Romane, Kinderbücher, ja das gesamte Schrifttum betroffen, sobald es in Bildungseinrichtungen, darunter auch Stadtbüchereien genutzt wird. Wären die Autoren der Studie seriös vorgegangen, dann hätten sie das auch untersucht.
Da es aber nur darum ging, zu bestätigen, dass eine Schranke niemandem schadet, bestand kein Interesse daran mehr als die fünf Verlage und ihre Zeitschriften zu untersuchen. Und die Dürftigkeit der Studie ist vermutlich nicht mal aufgefallen, weil weder im Ministerium noch hier bei iright sich jemand für den Inhalt interessiert, da ja das Ergebnis das ist, was man wollte. Ein traumhaft schönes Beispiel für Simulation von Wissenschaft!
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