Ted Gioia über die Musikindustrie nach „Blurred Lines“: Behindert das Urheberrecht musikalische Innovation?
Folgt man der Lobby der Musikindustrie, gilt das Urheberrecht als wichtigste Geschäftsgrundlage der Branche – und als Treiber von Innovation. Denn Künstler*innen aufzubauen und zu vermarkten, neue Musik komponieren, einspielen und produzieren zu lassen, das ist aufwändig und teuer. Der ganze Prozess lohnt sich nur, wenn die Beteiligten Aussicht auf Einnahmen und Profit haben. Das geht am besten über Urheberrechte.
So kommt dem Urheberrecht – und seinem angloamerikanischen Verwandten, dem Copyright Law – in der Musikindustrie eine Schlüsselstellung zu: Denn durch die Auswertung der Rechte verdienen Komponist*innen, Sänger*innen, Produzent*innen und weitere Beteiligte Geld. Dafür muss ein Song natürlich gut laufen: Zum Beispiel im Plattenladen, im Radio und bei Streaming-Plattformen oder als Hintergrundmusik in der Werbung. Bei all diesen Nutzungen können die Rechteinhaber*innen Geld verdienen.
Die Einnahmen geben die Plattenfirmen teilweise an ihre Künstler*innen weiter. Einen großen Teil behalten sie selbst ein und investieren, zum Beispiel in Technik, den Aufbau von Talenten und die Entwicklung neuer Stile. Das Urheberrecht funktioniert in diesem Kreislauf als wichtiger Anreiz, um musikalische Innovation zu schaffen, und entsprechend hart wird es von der Branche verteidigt.
Urheberrecht: Noch ein Anreiz für musikalische Innovation?
Ted Gioia, US-amerikanischer Musikjournalist und Autor diverser Jazz-Bücher, sieht die Musikbranche allerdings in einer Innovationskrise. Mitschuld habe dabei auch das Urheberrecht und wie die Branche damit umgehe.
Der „Ansturm auf alte Musik“: Altbestände werden zum Investment für die Finanzbranche
Gioia sieht im Wesentlichen zwei Trends: Zum Einen fixiere die Musikindustrie die Altbestände unverhältnismäßig stark – und vernachlässige es demgegenüber, neue Künstler*innen zu entdecken, erfolgreich aufzubauen und Genres zu entwickeln. Gioia spricht sogar von einem „rush to old music“, einem Ansturm auf alte Musik.
Das hat mit dem Urheberrecht zu tun, das die Auswertung alter erfolgreicher Songs attraktiver mache als die Schaffung neuer Stücke. In der Folge seien in den letzten Jahren verstärkt Investment-Firmen auf den Markt gedrängt, die die Copyrights an ganzen Katalogen aufkaufen würden, um daraus Profit zu schlagen. Bob Dylan zum Beispiel verkaufte Ende 2020 die Copyrights an all seinen Texten und Kompositionen. Und ein paar Monate später dann auch die Rechte an den Aufnahmen.
Die Investment-Firmen stammen dabei nicht unbedingt aus der Musikindustrie selbst, wie faz.net berichtet: Auch der Finanzsektor und Firmen zur Vermögensanlage mischen heutzutage kräftig mit bei der Spekulation mit Musikrechten.
Dass das funktioniert, liegt am angloamerikanischen Copyright Law: Denn im Gegensatz zu Deutschland kann man in den USA oder Großbritannien die eigenen Urheberrechte einfach handeln, verkaufen und abtreten. Ein solches Geschäft ist besonders für diejenigen Künstler*innen interessant, die am Ende ihrer Karriere stehen und mit einem Schlag noch einmal viel Geld verdienen möchten. Ohne also auf die jährliche Ausschüttung von Tantiemen warten zu müssen.
Blurred Lines: Nachhaltige Verunsicherung und Risikoscheu in der Branche
Folgt man Ted Gioia, so ist die Vorliebe zum Alten auch verbunden mit einer Abneigung gegenüber dem Neuen. Das liege besonders an dem Urteil im „Blurred-Lines“-Streit, das die Musikbranche nachhaltig verunsichert habe, wie Gioia schreibt:
Überwindet ein Song die Hürden und wird ein Hit, ist das Risiko einer Urheberrechtsverletzung größer als je zuvor. Die Risiken sind enorm gewachsen seit der „Blurred-Lines“-Entscheidung im Jahr 2015, und im Ergebnis fließt das zusätzliche Geld weg von den heutigen hin zu alten (oder verstorbenen) Künstler*innen. (Übs. G. F.)
Der Streit um „Blurred Lines“ dreht sich im Kern um die Frage, ob ein „Sound-a-Like“, also eine Anlehnung eines Songs an einen anderen, bereits als Urheberrechtsverletzung zählt. Geklagt hatten die Nachfahren des Soulmusikers Marvin Gaye: Sie hatten eine zu große Ähnlichkeit zwischen Gayes „Got to give it up“ und dem gut 30 Jahre später erschienenem „Blurred Lines“ beanstandet und vor Gericht gewonnen – woraufhin die Beklagten Millionenbeträge an Gayes Familie zahlen mussten.
Gioia bilanziert, dass die Streitigkeiten um „Blurred Lines“ in der Musikindustrie zu Angst und Risikoscheu geführt haben. Denn nun habe man große Angst davor, dass die eigenen Lieder zu ähnlich klingen könnten wie fremde Hits von früher. Plattenfirmen und Urheber*innen wollten teure Klagen und Rechtsstreitigkeiten unbedingt vermeiden, insbesondere wenn die Nachforderungen erst Jahre oder Jahrzehnte später kommen. Eine solche Umgebung sei aber Gift für die Entwicklung von Ideen und die Beschreitung neuer musikalischer Pfade.
Über den Streit um „Blurred Lines“ berichtete iRights.info vor etwa zwei Jahren. Als Reaktion auf den Streit entstand ein Kunstprojekt um gemeinfreihe Melodien.
Wer noch weiterlesen will: In der englischsprachigen Wikipedia ist der Fall um „Blurred Lines“ ausführlich dokumentiert.
„Is Old Music Killing New Music?“
Die Musikindustrie gilt als Branche, die vor etwa 20 Jahren als erstes von digitalen Kopiertechniken herausgefordert, geradezu durchgeschüttelt wurde und sich mit Downloads und Streaming ein neues, stabiles Geschäftsmodell erarbeiten musste. Schon damals stand das Urheberrecht im Mittelpunkt der Diskussion.
Heute liegt die Sache etwas anders: Immer noch ist die Auswertung von Copyrights, von Urheber- und Leistungsschutzrechten der Dreh- und Angelpunkt der Musikindustrie. Mit der Finanzindustrie tritt jedoch eine neue Akteurin auf den Plan und die Spielregeln scheinen sich zu verändern: Musik wird zur Spekulationsware, neue Auswertungsmöglichkeiten für das Bewährte werden nötig, Risiken bei der Suche nach musikalischen Neuheiten dagegen gescheut.
Die Branche fußt damit nicht nur auf dem Urheberrecht: Ironischerweise scheint gerade ihre Innovationskraft zumindest teilweise davon bedroht.
Die Vergangenheit nimmt Einfluss auf die Gegenwart
Gioia macht zwar nicht nicht das Urheberrecht alleine für die Entwicklung verantwortlich. Als langjähriger Beobachter der Branche zeigt er aber schlüssig, wie die Vergangenheit (in Form von Urheberrechten) bis in die Gegenwart hineinwirkt und die Schaffung von Neuem behindern kann, allen innovativen Distributionsformen (wie Downloads oder Streaming) zum Trotz.
Allzu pessimistisch gibt sich Gioia angesichts der Entwicklungen dennoch nicht: Auch wenn die Industrie derzeit wenig in die Förderung des musikalischen Nachwuchses investiere, so entstehe fortlaufend neue, tolle Musik, die es zu entdecken gelte:
Neue Musik entsteht immer dort, wo man sie am wenigsten erwartet, und wenn die Mächtigen nicht aufpassen. Das wird wieder passieren. Das muss es auch. Die Entscheider*innen, die unsere Musikinstitutionen kontrollieren, haben den Faden verloren. Wir haben Glück, dass die Musik zu mächtig ist, als dass sie sie töten könnten. (Übs. G. F.).
Seine Analyse hat Gioia unter dem Titel „Is Old Music Killing New Music?“ für das US-amerikanische Magazin The Atlantic aufgeschrieben. Die hier verwendeten Zitate stammen von dort.
1 Kommentar
1 Budapest_08 am 27. Februar, 2024 um 12:56
Interessanter Fall mit “Blurred Lines” und schade, dass so viele Sänger und Sängerin sich da anderweitig bedienen und es vor allem nicht zugeben. Heute ist doch auch technisch viel mehr möglich – daran sollte sich die Musikbranche doch orientieren!
Ganz lieben Dank nochmals
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