Schutzfristverlängerung: „Die Lobbydynamik ist klar”
iRights.info: Professor Kretschmer, in der vergangenen Woche hat sich der Rechtsausschuss des EU-Parlaments dafür ausgesprochen, die Schutzfrist für Musikaufnahmen EU-weit einheitlich auf 95 Jahre zu verlängern. Sie sind ein ausgesprochener Kritiker der Schutzfristverlängerung. Geben Sie die Sache nun verloren?
Martin Kretschmer: Nein, überhaupt nicht. Die politische Lage im Rechtsausschuss war durch eine Koalition des Berichterstatters Brian Crowley – einem irischen Parteifreund des Binnenkommissars McCreevy – und des französischen Gaullisten Toubon bestimmt. Im Dezember sprach sich der Technologieausschuss gegen die Verlängerung aus, nur gab es dazu keine Presseerklärung. Im Plenum wird erst im März in erster Lesung abgestimmt und in allen Fraktionen gibt es Dissens. Im komplizierten europäischen Entscheidungsverfahren hat außerdem der Ministerrat das letzte Wort. Ich hoffe, dass es keine Einigung vor der Europawahl im Juni geben wird. Danach wird ein neuer EU-Kommissar zuständig sein.
Sie sagen also, es gibt noch eine Chance, die Schutzfristverlängerung zu verhindern. Was könnte denn der Normalbürger unternehmen, um sich bei der EU für die Beibehaltung der bisherigen Schutzfrist stark zu machen?
Für Urheberrechtsfragen ist es immer schwierig, eine Öffentlichkeit herzustellen, obwohl letztendlich wir alle davon betroffen sind: jeder, der Musik hört, jeder, der Musik macht. Die Debatte um Softwarepatente hat gezeigt, dass Netzbürger, die die Informationsgesellschaft ernst nehmen, erheblichen Druck auf Abgeordnete ausüben können. Politiker müssen die katastrophalen Auswirkungen einer Verlängerung der Schutzfrist jedoch erst einmal wahrnehmen. Wir belasten unsere Kultur und unsere Innovationsfähigkeit für eine ganze Generation mit nutzlosen Monopolrechten. Jeder, der diesen Zusammenhang sieht, oder im Musikleben selbst erfahren hat, sollte an seinen Europaabgeordneten schreiben.
Als außenstehender Beobachter könnte man den Eindruck gewinnen, die Frage der Schutzfristverlängerung erfährt auf EU-Ebene eine Vorzugsbehandlung. Manche würden auch sagen, da geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Können Sie diesen Eindruck bestätigen? Welche Kräfte wirken da im Verborgenen?
Die politischen Umstände, die uns die vorgeschlagene Schutzfristverlängerung eingebrockt hat, sind äußert dubios. Es gab kein vorbereitendes Papier (white paper) der Kommission. Unabhängige Gutachten hatten sich einheitlich gegen eine Verlängerung ausgesprochen, z.B. Studien der Cambridge University und – im Auftrag der europäischen Kommission – des Instituts für Informationsrecht der Universität Amsterdam. Gezielte Lobbyarbeit der multinationalen Plattenfirmen scheint jedoch zu einer plötzlichen Kehrtwende geführt zu haben, die Kommissar McCreevy dann von seinen Beamten durch Daten abstützen ließ, die die Musikindustrie selbst geliefert hatte. Der Öffentlichkeit wurde ein Märchen vom alternden Studiomusiker untergejubelt, obwohl jede einschlägige Analyse zeigt, dass die Millionen bei den Rechteinhabern, also den Plattenfirmen, landen werden, nicht bei den Musikern, die ihre Rechte vertraglich abgetreten haben.
EU-Kommissar Charlie McCreevy argumentiert, die Schutzfristverlängerung würde den Begleitmusikern helfen, zusätzliches Einkommen aus alten Aufnahmen zu erzielen. Der vom Rechtsausschuss verabschiedete Vorschlag sieht vor, 20 Prozent der durch die Schutzfristverlängerung erzielten zusätzlichen Einnahmen dafür durch Verwertungsgesellschaften verteilen zu lassen. Kann das Ihrer Meinung nach funktionieren?
Die Informationslage zu Tonaufnahmen, die vor einem halben Jahrhundert entstanden sind, ist höchst undurchsichtig. Selbst wenn sich Musiker finden, die ihre Mitwirkung auf Platten der 60er Jahre durch zuverlässige Dokumente belegen können, würden ihnen unter dem Plan der Kommission typischerweise weniger als 60 Euro im Jahr zufallen.
Wem würden denn eigentlichen die restlichen 80 Prozent der Mehreinnahmen zugute kommen? Darüber konnte man der Pressemitteilung des Rechtssausschusses nichts entnehmen.
Die Rechte fast aller kommerziell wichtigen Aufnahmen der 50er und 60er Jahre, der so genannte Back-Katalog, liegen bei nur vier multinationalen Firmen: Universal, Sony, Warner und EMI. Die Innovationskraft der Musikindustrie kommt jedoch von unabhängigen Labels. Die sind weniger als 20 Jahre alt, und profitieren daher nicht von der vorgeschlagenen retrospektiven Verlängerung.
Dem Vorschlag des Rechtssausschusses zufolge sollen die Auswirkungen einer Schutzfristverlängerung nach drei Jahren evaluiert werden. Angenommen, man würde dann feststellen, dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Könnte man dann einfach zur alten Schutzfrist zurückkehren oder gäbe es da Probleme mit dem Recht am geistigen Eigentum? Wäre das dann eine Enteignung?
Ich habe diesen Änderungsantrag noch nicht eingesehen. Bezeichnenderweise wurde er erst am Vorabend der Abstimmung eingeschleust, und ist noch nicht veröffentlicht. Das sieht nach Kosmetik aus. Mir ist kein Fall bekannt, in dem die Schutzfrist nachträglich zurückgefahren wurde. Im Gegenteil. Die Lobbydynamik ist klar. Jedes Mal, wenn wertvolle Rechte, wie jetzt die klassischen Pop-Aufnahmen der 60er Jahre, ans Ende ihrer Frist geraten, wird sich derselbe Prozess wiederholen. Daher ist es so wichtig, dass diese Richtlinie gekippt wird.
Was sagen Sie dazu?