Wann ist ein Werk ein Werk? Zur Bestimmung der Schöpfungshöhe im Urheberrecht

Ailura, CC BY-SA 3.0 AT, via Wikimedia Commons
Die „Schöpfungshöhe“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, also nicht im Gesetz selbst definiert. Wie lässt sich die Schöpfungshöhe also beurteilen, wann ist sie für ein geistiges Erzeugnis erreicht? Diese Frage gilt es, für jeden konkreten Fall einzeln zu beurteilen. Trotz dieser Unwägbarkeiten lassen sich Kriterien aufstellen, an denen sich Werkschaffende orientieren können.
Schöpfungshöhe im Kontext: Herkunft und Hintergrund des Rechtsprinzips
Die Schöpfungshöhe legt den notwendigen Grad der Individualität fest, den ein geistiges Erzeugnis für den Status als Werk erreichen muss. Die Rechtsfigur dient dazu, urheberrechtlich geschützte Arbeiten von gemeinfreien Leistungen und einfachen Alltagserzeugnissen abzugrenzen.
Eine solche Abgrenzung ist aus mehreren Gründen notwendig: Ist ein geistiges Erzeugnis nach dem Urheberrechtsgesetz (UrhG) geschützt, genießt die Erzeugerin umfangreiche Befugnisse. Sie darf entscheiden, wer das Werk nutzen und verbreiten darf. Auch darf sie für die Nutzung und Verwertung eine Vergütung verlangen. Hinzu kommt die relativ lange Schutzdauer für Werke: Die Restriktionen hinsichtlich der Nutzung und Verwertung gelten 70 Jahre nach dem Tod der Urheberin fort. Gäbe es das Instrument der Schöpfungshöhe nicht, könnten auch Fakten und Ideen monopolisiert werden.
Wie sich die Schöpfungshöhe in der Anwendung bestimmt
Ob ein geistiges Erzeugnis Schöpfungshöhe erreicht oder nicht, hängt von zwei Voraussetzungen ab:
- Es muss ein Gestaltungsspielraum bestehen: Welche Rahmenbedingungen sind der Urheberin bei der Erschaffung ihres Erzeugnisses vorgegeben? Hat sie hier einen Spielraum?
- Die Urheberin muss den Gestaltungsspielraum kreativ ausnutzen.
Beispiele zur Erfüllung der Voraussetzungen
Konkreter werden diese beiden Voraussetzungen anhand von praktischen Beispielen:
Wann liegt ein Gestaltungsspielraum vor? Beim Protokollieren eines wissenschaftlichen Versuchs besteht typischerweise kein Gestaltungsspielraum. Hier sind sowohl die äußere Form (durch die Struktur des Protokolls) als auch der Inhalt des Schriftstücks (detaillierte Beschreibung des Versuchsablaufs) vorgegeben. – Anders verhält es sich beim Verfassen eines Blogbeitrags über den Versuch: Zwar ist auch hier das Thema vorgegeben. Die Autorin kann aber entscheiden, wie sie den Versuch darstellt, welche Inhalte sie weglässt und ob sie noch andere Themen in dem Beitrag aufgreifen will.
Wann wird der Gestaltungsspielraum kreativ ausgenutzt? Lässt sich die Urheberin lediglich von funktionalen oder technischen Erwägungen leiten, hat sie den Gestaltungsspielraum nicht kreativ ausgenutzt. Die Auswahl muss vielmehr Ausdruck der Persönlichkeit der Urheberin sein. Dazu dient der Bau eines Tisches als Beispiel: Fertigt die Tischlerin den Tisch aus Teakholz, da dieses besonders wetterbeständig ist, hat sie ihren Gestaltungsspielraum nicht kreativ ausgenutzt, da sie von funktionalen Erwägungen geleitet war. Verpasst die Tischlerin dem Tisch dagegen eine Platte aus Mosaiksteinen, die in künstlerischer Weise zusammengesetzt sind und kombiniert diese dann noch mit einer besonders geschwungenen Form der Tischbeine, kann man von einem kreativen Ausnutzen sprechen. Denn durch diese Vorgänge kommt die Persönlichkeit der Tischlerin in dem Tisch zum Vorschein und er wird dadurch „besonders“.
Die Anforderungen an das Ausnutzen des Gestaltungsspielraums sind niedrig angesetzt. Geschützt wird hier schon die so genannte kleine Münze. Sie gilt für Werke, die gerade eben noch die notwendige Schöpfungshöhe erreichen.
Schöpfungshöhe bei den einzelnen Werkarten
Sprachwerke in- und außerhalb der Wissenschaft
Arbeiten, die sich der Sprache als Mittel bedienen, können ein Sprachwerk sein.
Die handwerkliche Leistung läge hier bei der Verwendung einzelner Wörter. Diese für sich haben noch keine Schöpfungshöhe. Der oben genannte Gestaltungsspielraum besteht in der Zusammensetzung der Wörter zu einem oder mehreren Sätzen bis hin zu längeren Texten. Nutzt die Autorin diesen allerdings nicht aus, wenn sie zum Beispiel ausschließlich die in ihrer Berufsgruppe üblichen und vorgegebenen Formulierungen verwendet und der Ausdruck deckungsgleich mit dem Inhalt ist, hat das Ergebnis dieser Arbeit die Schöpfungshöhe nicht erreicht. Beispielhaft hierfür ist oben genanntes Versuchsprotokoll.
Durch die oben genannte kleine Münze können auch Alltagstexte wie Social-Media-Posts im Einzelfall Schöpfungshöhe haben.

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Musikwerke
Die handwerkliche Leistung läge hier bei der reinen Tonfolge, wie zum Beispiel einer Tonleiter. Auch einzelne Akkorde für sich erfüllen die Voraussetzungen der Schöpfungshöhe noch nicht. Deshalb können sich auch Interpretinnen von Popmusik derselben vier Akkorde bedienen, ohne eine Urheberrechtsverletzung zu begehen.
Die Urheberin muss die Tonfolge oder Akkorde derart miteinander kombinieren, dass der Eindruck von Geschlossenheit entsteht. Typisches Beispiel hierfür wäre ein Popsong, der durch kreativen Einsatz von Tempo, Lautstärke, Rhythmik und Harmonik eine Art Geschichte erzählt.
Dass die Abgrenzung von Musikwerken zu Arbeiten unterhalb der Schöpfungshöhe auch in der gerichtlichen Praxis nicht immer eindeutig entschieden wird, zeigt das Beispiel des Werbejingles. Bei diesem wurde die Schöpfungshöhe teilweise von Gerichten bejaht, aber zum Teil auch verneint.

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Kunstwerke
Ob Architektur, Malerei, Grafik– all das kann unter den Begriff des Kunstwerkes im Sinne des UrhG fallen. Auch so genannte angewandte Kunst – also die künstlerische Darstellung von Alltagsgegenständen fällt unter den Begriff. Hier gilt ebenso: Kunst bedeutet nicht zwangsläufig auch Werk. Auch hier muss die Künstlerin einen bestehenden Gestaltungsspielraum kreativ nutzen und nicht nur technisch-funktional.
Dies wurde jüngst wieder vom Bundesgerichtshof in seinem Urteil zum urheberrechtlichen Schutz von Birkenstock Sandalen erörtert.
Lichtbildwerke
Lichtbildwerke entstehen im Bereich der Fotografie.
Die handwerkliche Leistung wäre hier die möglichst naturgetreue und unveränderte Wiedergabe der Vorlage. Wird eine Fotografin von einem Museum dafür beauftragt, dessen Sammlung fotografisch festzuhalten und ist sie dabei an die Museumsvorgaben gebunden und soll die Sammlungsobjekte naturgetreu und unverändert ablichten, ist die Schöpfungshöhe nicht erreicht.
Ansonsten kann die Fotografin ihren Gestaltungsspielraum sowohl während des Fotografierens durch Inszenierung ihres Objekts als auch in der Nachbearbeitung durch Applizieren von Filtern oder Retouche-Arbeiten kreativ ausnutzen.

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Filmwerke
Hier ergeben sich häufig Abgrenzungsschwierigkeiten bei Dokumentarfilmen. Sollen diese lediglich das Geschehen vor der Linse dokumentieren, ohne dabei in kreativer Weise durch Schnitt und Auswahl des Materials das Geschehen in Szene zu setzen, ist die Schöpfungshöhe nicht erreicht. Auch hier legen die Gerichte die Latte aber teilweise sehr niedrig an. Beispielsweise kann auch die Übertragung eines Fußballspiels aus der Champions League Schöpfungshöhe erreichen, da dem Bildregisseur hinreichend Raum für individuelle Gestaltungen verbleibt.
Mythen rund um Schöpfungshöhe
Gerade weil die Schöpfungshöhe eine Rechtsfigur mit derart abstraktem Charakter ist, ranken sich um sie einige Mythen und Vorurteile.
Mythos Nr. 1: Besonders harte Arbeit führt zur Schöpfungshöhe.
Es kommt für den urheberrechtlichen Schutz nicht darauf an, dass die Schaffende einen hohen Arbeitsaufwand in die Schöpfung investiert hat oder dass die Leistung intellektuell besonders anspruchsvoll ist. Es kommt allein auf das oben genannte Bestehen eines Gestaltungsspielraumes und das Ausnutzen dessen an.
Mythos Nr. 2: Je länger das Werk, desto schützenswerter.
Es ist nicht erforderlich, dass das Werk eine bestimmte Länge hat. Auch kurze Texte wie viele Gedichte, Aphorismen oder sogar manche Aussagen in den Sozialen Medien können Schöpfungshöhe haben. Allerdings gilt auch: Je kürzer das Werk, desto weniger Gestaltungsspielraum besteht.
Mythos Nr. 3: Nur besonders künstlerische Arbeiten haben Schöpfungshöhe.
Die Schöpfungshöhe darf nicht verwechselt werden mit einer Auszeichnung für besonderes kreatives Talent. Die Hürde für den urheberrechtlichen Schutz ist relativ niedrig angesetzt durch den Schutz der kleinen Münze.
Mythos Nr. 4: Unterschiedliche Werkarten haben unterschiedliche Anforderungen an die Schöpfungshöhe.
Historisch galten je nach Werkart tatsächlich unterschiedliche Anforderungen an die Schöpfungshöhe. In der Zwischenzeit folgen die deutschen Gerichte – vielleicht auch angelehnt an die unionsrechtliche Rechtsprechung – einem einheitlichen Verständnis. Unterschiede bestehen dagegen im der Urheberin zur Verfügung stehenden kreativen Spielraum wie an den Beispielen oben verdeutlicht wurde.
Fazit
Die Beurteilung der Schöpfungshöhe ist in der Praxis wesentlich komplizierter als in der Theorie. In jedem Fall sind die genannten zwei Voraussetzungen – das Bestehen eines Gestaltungsspielraumes und das kreative Ausnutzen desselben – für die Beurteilung entscheidend. Die Voraussetzungen gelten dann unabhängig von der Werkart.
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DOI für diesen Text: https://doi.org/10.59350/irights.32592 · automatische DOI-Vergabe für Blogs über The Rogue Scholar
2 Kommentare
1 Eberhard am 24. Juni, 2025 um 17:53
Vielen Dank, daß Sie dieses wichtige Thema hier ansprechen!
Allerdings bleibt eine Frage ausgespart, die momentan viele Menschen umtreibt:
Wie ist es mit der Schöpfungshöhe bei Texten, Bildern oder musikalischen Kompositionen, die mittels generativer KI erzeugt wurden?
Genügt die Entscheidung, die KI mit einem bestimmten Prompt in Gang zu setzen und zur Ausgabe eines bestimmten Resultats zu bewegen, dafür, dass das Resultat als “persönliche geistige Schöpfung” der Person, die den Prompt erstmals eingegeben hat, gewertet wird?
Oder muß die Prüfung der Schöpfungshöhe sich auf die Prompts konzentrieren – manche könnten schutzfähig sein, andere nicht?
Die Rechtsfolgen der Zurechnung solcher maschinell generierten Texte, Bilder usw. zu der Person, die ihre Produktion veranlaßt hat, oder ggf. durch Rahmenverträge auch zu der Firma, in deren Auftrag die Person möglicherweise ihre Prompts eingibt, wären ziemlich weitreichend.
So würden in Zukunft alle Vorkommnisse von irgendwelchen Zeichenketten oder Materialkonfigurationen, die mit Teilen solcher urheberrechtlich geschützten Resultate übereinstimmen, als Urheberrechtsverletzung gelten, und zwar selbst dann, wenn das Zweitvorkommnis z.B. durch Eingeben zufällig eines wortgleichen Prompts in dieselbe Software zustande gekommen sein sollte.
Und für das Detektieren solcher Übereinstimmungen werden zunehmend KI-gestützte Filter eingesetzt.
2 Lea Singson am 25. Juni, 2025 um 09:34
Hallo, vielen Dank für den Kommentar!
Das Erstellen von Erzeugnissen mittels generativer KI ist in der Tat ein wichtiges und spannendes Thema. Es ist rechtlich allerdings an anderer Stelle zu verorten als bei der Schöpfungshöhe. Für den Schutz eines Erzeugnisses als Werk durch das Urheberrecht muss das Erzeugnis mehrere Anforderungen erfüllen. Die Schöpfungshöhe ist eine davon. Daneben ist es erforderlich, dass eine persönliche – also menschliche – Schöpfung vorliegt. Bei Ihrem Beispiel des reinen Promptens einer generativen KI wäre das Resultat als maschinenerzeugt anzusehen und damit keine persönliche Schöpfung. Anders kann die Beurteilung wiederum sein, wenn die menschliche Leistung bei dem KI-erzeugten Resultat über den initialen Prompt hinausgeht. Vielleicht finden Sie dazu diesen Artikel hilfreich: https://irights.info/artikel/oer-cc-lizenzen-generative-ki/32090
Liebe Grüße aus der Redaktion!
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