Schattenbibliotheken: Wie sich das Netz den Zugang zu Wissenschaft und Journalismus erzwingt
Schattenbibliotheken machen – teils am Rande zur, teils in der Illegalität stehend – wissenschaftliche, belletristische oder journalistische Literatur verfügbar. Und das oft in großem Stil, mit Millionen von Aufsätzen, Büchern, Magazinen oder anderen Formaten.
Verschiedene Schattenbibliotheken berufen sich auf Guerilla Open Access. Die radikale Bewegung macht sich seit Jahren stark für freies Wissen ohne Bezahlschranken, restriktive Lizenzen oder andere Hürden, die den freien Fluss von Informationen einengen oder verhindern. Urheberrechtsschutz wird da schnell zur Nebensache.
Große Teile des Materials in Schattenbibliotheken sind urheberrechtlich geschützt. Und in den meisten Fällen wurden dafür keine Rechte geklärt, Lizenzen erworben oder anderweitige Vereinbarungen mit den Rechteinhabern getroffen. Auch Verwertungsgesellschaften sind außen vor. Es gibt also in den meisten Fällen keine Rechtsgrundlage für den Betrieb von Schattenbibliotheken. Entsprechend regelmäßig haben diese auch Ärger mit Verlagen.
Die großen Schattenbibliotheken wie SciHub, LibGen oder Anna’s Archive sind zentral verwaltet. Es gibt aber auch dezentrale Formen: Hier organisieren sich die Nutzer*innen und helfen sich auf Zuruf gegenseitig aus. Wie funktioniert das alles? Warum all die Mühe? Und zu welchem Preis?
Großes Angebot – aber auch großer Ärger
LibGen (kurz für: Library Genesis) ist eine große Schattenbibliothek und stammt ursprünglich aus Russland. Auf der Website finden sich mehrere Millionen von wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern, aber auch Comics, Belletristik oder Magazine. Das riesige Angebot ist kostenlos und ohne technische Schutzvorkehrungen (wie DRM-Technologien) nutzbar. Das macht die Website so attraktiv für Interessierte.
In Russland selbst ist der staatliche Ehrgeiz, urheberrechtsverletzende Handlungen zu ahnden, nicht besonders ausgeprägt. Trotzdem hatte LibGen schon Ärger mit Verlagen und ihren Klagen, auch Seitensperren kamen vor. Und doch taucht das illegale Angebot immer wieder auf, wiederhergestellt von Sicherheitskopien und scheinbar ohne Einschränkungen. Die Domain wird einfach umgezogen und dabei gleich mehrfach neu eröffnet.
Mit großer Wahrscheinlichkeit verschleiern die LibGen-Betreiber ihre Identitäten und Standorte im Netz über sogenannte Proxy-Dienste. Ob die Klagen der Verlage also dazu führen, dass LibGen seine Dienste einstellt, lässt sich bezweifeln.
Je höher die Bezahlschranken, desto wendiger die Schattenbibliotheken
So ähnlich läuft es mit der Schattenbibliothek SciHub (kurz für: ScienceHub), die auf wissenschaftliche Fachartikel und Bücher spezialisiert ist. Die Begründerin, eine Programmiererin aus Kasachstan namens Alexandra Elbakyan, hatte SciHub aus Frust über die unüberwindbaren Bezahlschranken der Wissenschaftsverlage entwickelt. Ihre Idee: Der gesamten Welt freien Zugang zu wissenschaftlichem (und in aller Regel: öffentlich finanziertem) Wissen ermöglichen.
Die Nutzungszahlen von SciHub belegen: Die Website ist auf dem ganzen Globus sehr beliebt, bei Forschenden genauso wie Studierenden, in reichen wie in armen Gegenden der Welt. Der Zugang zu wissenschaftlicher Literatur ist also ein Problem, das die Forschung als Ganzes betrifft und nicht nur ein Privatproblem einzelner Länder oder Nutzungsgruppen. Schattenbibliotheken sind, wie Dorothea Strecker schreibt, ein Krisensymptom der Wissenschaft.
Aufgrund mutmaßlicher Urheberrechtsverletzungen war SciHub in den letzten Jahren vor allem in Indien mit langwierigen Klagen konfrontiert. Das hat dazu geführt, dass eine Weile keine neuen Artikel hinzukamen. Mittlerweile scheint SciHub das Upload-Embargo hinter sich gelassen zu haben.
Wissenschaftliche Texte: Teure Mini-Monopole des Wissens
Hat eine Forscherin keinen Zugriff auf einen bestimmten wissenschaftlichen Text, kann sie nicht einfach auf einen anderen ausweichen (wie es bei vielen journalistischen Angeboten ginge).
Wenn es sich nicht um Open-Access-Angebote handelt, muss für einen legalen Zugriff die eigene Unibibliothek ein Abonnement mit dem publizierenden Verlag geschlossen oder den Titel einzeln erworben haben.
Das ist oftmals sehr kostspielig: Ohne Abonnement verlangen Verlage schon mal 30 oder 50 US-Dollar (oder noch mehr) für einen einzelnen wissenschaftlichen Aufsatz. Für Bücher oder Nachschlagewerke oft sogar dreistellige Beträge. Das ist gerade in ärmeren Ländern eine Menge Geld.
Schattenbibliotheken arbeiten zusammen und erschweren so die Sperrung
Libgen und SciHub beruhen darauf, dass ihnen Angehörige von Universitäten, die legalen Zugriff auf die Verlagsangebote haben, umfangreiche Leaks überlassen. Teils auch die Accounts zu den Verlagsdatenbanken selbst. So lassen sich die Texte massenhaft herunter- und in die Schattenbibliotheken wieder hochladen.
Auch Anna’s Archive, eine Meta-Suchmaschine und Schattenbibliothek in einem, begründet ihre Arbeit mit dem hehren Anspruch, Wissen und Kultur aus dem angeblichen Würgegriff der Verlage zu befreien. Das ist nicht nur, aber auch ein Marketing-Argument, eine Schutzbehauptung, um die massenhafte Missachtung und Verletzung von Urheberrechten zu rechtfertigen und etwaigem Schadensersatz aus dem Weg zu gehen.
Wenn der Geist nicht wieder in die Flasche geht
Derzeit sind auf Anna’s Archive nach eigenen Angaben mehr als 22 Millionen Bücher und 97 Millionen Aufsätze abrufbar. Mit dieser immensen Menge ist sie vermutlich die umfangreichste Schattenbibliothek. Die Website greift auf verschiedene Quellen zu, unter anderem das oben beschriebene LibGen oder die auf eBooks spezialisierte Schattenbibliothek Z-Library.
Außerdem stellt Anna’s Archive den eigenen Open-Source-Quellcode allgemein zur Verfügung. Jeder, der sich technisch auskennt, könnte so die Funktionsweise der Website kopieren und selbst zum Großpiraten werden. Juristisch ratsam ist das natürlich nicht. Aber es wird klar: Hat man den Geist mal aus der Flasche befreit, wird es schwer, ihn dort wieder einzusperren.
Digitale Selbsthilfegruppen
Bereits vor den großen Schattenbibliotheken war es unter Forschenden und Studierenden gang und gäbe, sich gegenseitig Texte zu mailen. Denn unter Kolleg*innen und Gleichgesinnten hilft man sich aus. Schließlich kann man nicht wissen, ob man nicht selbst mal auf Hilfe angewiesen ist. Und im besten Falle gibt es dazu Literatur-Empfehlungen.
Frühe Schattenbibliotheken wie das UbuWeb oder aaarg.org verstanden sich daher auch als Bildungsprojekte: Texte waren in thematische Einheiten zusammengefasst, es gab inhaltlichen Austausch, Empfehlungen und Diskussionen. Das änderte freilich nichts an den urheberrechtlichen Problemen.
ICanHazPDF
Halb offen, halb versteckt läuft der Austausch heute über den Twitter-Hashtag #ICanHazPDF. Wer diesen Hashtag benutzt, kann einen bestimmten Text anfragen und darauf hoffen, dass eine andere Person ihn besorgt und weiterleitet.
Um zu verhindern, dass Texte mehrfach besorgt und verschickt werden oder es gar zu juristischen Verwicklungen kommt, hat sich eine gewisse Etiquette etabliert. So sollen die Anfragenden beispielsweise ihren Tweet wieder löschen oder auf andere Weise markieren, sobald sich ihre Anfrage erledigt hat.
Die falsche Schreibweise geht übrigens auf das Internet-Meme I Can Has Cheezburger zurück, ist also Ausdruck von Internet-Slang.
Zwischen Bibliothek und Piraterie
Nach ähnlichem Prinzip funktionieren die diversen Telegram-Gruppen, in denen teils mehrere hundert Teilnehmende zugegen sind. Sie fragen Texte aus wissenschaftlichen und journalistischen Quellen an und stellen sich diese gegenseitig zur Verfügung.
In den Gruppen kursieren Links zu Archivierungstools (wie beispielsweise Archive Today), die viele journalistische Artikel ohne Bezahlschranke enthalten. Auch pfiffige, technisch anspruchsvolle Anleitungen zur Umgehung der Bezahlschranken sind dort zu finden.
Die Corona-Pandemie und die damals geschlossenen Bibliotheken hatten ihren Einfluss: Während dieser Zeit sind diverse der obskuren Telegram-Gruppen entstanden. Besonders Studierende waren darauf angewiesen, von zuhause aus die Bezahlschranken der Verlage zu überwinden und möglichst unkompliziert an Texte für ihr Studium zu kommen, etwa um Hausarbeiten zu schreiben oder sich auf Prüfungen vorzubereiten.
Der Zutritt zu den Gruppen ist nicht immer einfach: Teilweise muss man den genauen Gruppen-Namen kennen, teilweise sind auch Einladungen nötig. Das dürften Schutzvorkehrungen sein. Aber der Reiz des Halbseidenen macht die Gruppen natürlich auch interessant.
So schnell kommt das Katz- und Maus-Spiel nicht an sein Ende
Ein bisschen wirkt der Kampf gegen Schattenbibliotheken wie der Mythos um den Kopf der Hydra, der – einmal abgeschlagen – gleich doppelt wieder nachwächst. Genauso unkontrollierbar sind digitale Kopien, die – an der einen Stelle unterdrückt – einfach woanders wieder auftauchen.
Egal ob große Schattenbibliothek oder digitale Selbsthilfegruppe: Die Preispolitik der Verlage scheint die rechtlich fragwürdigen Angebote anzutreiben: Wenn einzelne Texte zu überhöhten Preisen oder nur bei Abschluss eines teuren Abonnements zu kriegen sind, wendet sich gerade das junge, technikaffine Publikum von legalen Angeboten ab.
Ist der Zugang zur Literatur verwehrt, erzwingen sich Findige einfach einen neuen. Das musste auch die Musik- und Filmindustrie in der großen Welle der Online-Piraterie der 2000er-Jahre schmerzhaft lernen. Erst Streaming-Services, die eine Kombination aus konsumfreundlichen All-inclusive-Angeboten und einzeln erwerbbaren Titeln anboten, brachten die Wende in der Branche.
Trotz Strafverfolgung, Klagen und technisch forcierter Abschaltung sind die Schattenbibliotheken kaum kleinzukriegen. Im Gegenteil: Sie scheinen mehr und größer zu werden, sich dabei auch geschickter zu schützen, wendiger und widerstandsfähiger zu agieren. Ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel mit Verlagen und Strafverfolgungsbehörden ist entstanden. Und das wird es auf absehbare Zeit auch bleiben: Dafür ist die Nachfrage nach unkompliziertem Zugang zu journalistischen, belletristischen oder wissenschaftlichen Texten einfach zu groß.
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2 Kommentare
1 Fabian am 1. Dezember, 2023 um 13:33
Es wäre interessant zu sehen, wie sich diese Dynamik in Zukunft entwickelt und welchen Einfluss sie auf die Verbreitung von Wissen haben wird. Danke für diesen aufschlussreichen Beitrag!
Beste Grüße,
Fabian
2 Jessica Becker am 11. Dezember, 2023 um 13:42
Hallo Georg,
es ist, als würde man eine verborgene Welt entdecken, die im Schatten der offiziellen Kanäle existiert. Die Vorstellung, dass Informationen in solchen geheimen Bibliotheken verborgen sind, verleiht dem Wissenserwerb einen Hauch von Abenteuer. Deine Recherche gibt einen faszinierenden Einblick in diese unbekannte Seite des digitalen Zeitalters. Danke für die Erkundung dieser verborgenen Pfade des Wissens!
Liebe Grüße,
Jessica
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