Rechtswissenschaft als Open Education: Mit OpenRewi zur gemeinschaftlichen Lehre
Digitale Arbeitsweisen haben das Potenzial, juristische Texte als Prozesse zu sehen, die fortlaufend aktualisiert und verbessert werden können. Als Open Science Fellow der Wikimedia-Stiftung habe ich gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen die Initiative OpenRewi gegründet, um genau das umzusetzen. Unser Ziel ist es, frei lizenzierte und qualitativ hochwertige Open-Access-Rechtsliteratur gemeinsam zu schreiben.
Open-Access-Texte sind schrankenlos zugänglich, was zweifelsohne gewinnbringend ist. Eine anstrengende Erfahrung der Pandemie ist das Nichtvorhandensein genau jener elektronischen Publikation, die für eigene Arbeiten gerade dringend gebraucht wird. Allerdings ist Open Access nur ein Mosaikstück der wesentlich breiteren Bewegung für Open Science, zu der auch „Open Educational Ressources“ (OER) und Open Education gehören. Zusammengenommen geht es darum, qualitativ hochwertige Bildungsmaterialien allen Interessierten zugänglich zu machen, indem eigene Beiträge geteilt werden. Zusammenarbeit steht dabei im Zentrum. Nicht nur mit den Kolleg*innen, sondern auch mit den Studierenden, die aktiv in die Erstellung der Materialien einbezogen werden.
Freie Bildungsmaterialien
Aller frühen Cyberutopien zum Trotz haben die nicht vorhandenen Reproduktionskosten digitaler Güter und die globale Vernetzung durch das Internet nicht zur grenzenlosen Verbreitung des menschlichen Wissens geführt. Stattdessen werden die Nachteile einer rein analogen Buchproduktion künstlich in den digitalen Bereich übertragen. Kopiergeschützte PDFs und abgeschlossene Lernsysteme beherrschen gerade auch die juristische Bildungslandschaft.
Erst durch freie Lizenzen wie Creative Commons wird es möglich, OER zu schaffen: Das sind Bildungsmaterialien, die kostenlosen Zugang und Nutzung, aber vor allem freie Bearbeitung und Weiterverbreitung ermöglichen. Hier schlummern unentdeckte Möglichkeiten für die juristische Lehre. Rechtswissenschaftler*innen bearbeiten durch das inhaltliche Diktat des Staatsexamens häufig verwandte Themen. Hinzu kommt die notwendige Orientierung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Anstatt das Rad alle paar Semester neu zu erfinden, könnten die bestehenden Texte schlicht genutzt und verbessert werden. So gewonnene Zeit würde freiwerden für die eigene Forschung oder mehr direkten Dialog mit den Studierenden.
OER sind keine neue Erscheinung. Seit 2001 werden sie immer wieder von der UNESCO thematisiert. Es gibt Stellungnahmen und Initiativen und doch läuft die Verbreitung langsamer als gewünscht. Viele Initiativen stehen nur lose gekoppelt nebeneinander und versuchen, jeweils sehr spezifische Probleme zu lösen. Selbst wenn OER existieren, ist die Auffindbarkeit nicht selbstverständlich. Sie fehlen in fachspezifischen Recherchetools wie etwa Juris. Zwar gibt es Repositorien, aber das manuelle Einpflegen ist ein zusätzlicher Zeitaufwand für die Autor*innen. Eine angenehme Ausnahme sind die Verwaltungsrechtsbücher von Nikolas Eisentraut, dessen Vorarbeit eine Inspiration für OpenRewi war.
Andere Lizenzen – andere Praktiken
Eine freie Lizenz und die digitale Verbreitungsmöglichkeit sind für sich genommen nicht ausreichend, um OER wirklich zu etablieren. Über Jahrzehnte eingeübte Praktiken des Publizierens und Lehrens lassen sich nicht ohne Weiteres auf offene Bildungsressourcen anwenden. Anstatt einen Text allein zu schreiben und ihn einer Masse von Studierenden zur Rezeption zur Verfügung zu stellen, werden die Rezipient*innen Teil des Entstehungsprozesses.
Die Stellung als Autor*in wird relativiert. Zwar müssen sie auch bei der Verwendung unserer freien Lizenz genannt werden, aber die Abgeschlossenheit des eigenen Werkes wird durch die Möglichkeit der Wiederverwendung aufgebrochen. Material ist nur ein Vorschlag, der von späteren Autor*innen aufgegriffen und verändert werden kann. Das führt zu einer stärkeren Prozeduralisierung der Wissensfindung. Ein Text ist nie wirklich fertig. Wie Ino Augsberg hinsichtlich der Wikipedia ausführt, steigt die Legitimität eines derartigen Textes mit der Zeit, solange er nicht geändert wird.
Auch etablierte Bahnen der Qualitätskontrolle werden verlassen. Wenn OER auf einer Lernplattform oder in einem Repositorium veröffentlicht werden, entfällt das Peer-Review eines etablierten Verlages. Stattdessen erfordern OER andere Verfahren der Qualitätssicherung, wie ein fest integriertes offenes Peer-Review-Verfahren durch Kolleg*innen.
Kollektives Schreiben mit kollaborativen Tools
Diese Herausforderungen versuchen wir bei OpenRewi aufzugreifen und in eine neue, produktive Herangehensweise an die juristische Lehre zu verwandeln. Es beginnt mit der Zusammensetzung der Autor*innen in verschiedenen Teams. Jedes Team hat ein Veröffentlichungsziel, das gemeinsam erreicht werden soll. Ich selbst bin gemeinsam mit Dr. Dana Valentiner Mitherausgeber im Team Grundrechte, das zurzeit ein Lehr– und Fallbuch erarbeitet. In den Projekten gibt es keine zentrale Planung der Herausgeber*innen mit langen individuellen Schreibphasen der Autor*innen im Anschluss. Stattdessen wird gemeinsam konzipiert und iterativ gearbeitet. Das Schreiben erfolgt in monatlichen Booksprints, die durch ein Planungs- und Evaluationstreffen gerahmt werden. Durch diese festen Zeitintervalle wird möglichst früh mit der konkreten Arbeit begonnen. Auftretende Probleme und neue Ideen werden gelöst oder inkorporiert.
Vorbild für die Organisation in Booksprints ist die gerade in der IT-Industrie populäre agile Arbeitsweise. Unsere eingesetzte Technologie ist ein Spiegel dieser Ideale. Statt Word und E-Mail benutzen wir Mediawiki und Nextcloud.
Nextcloud ist eine Kollaborationsplattform. Eine iterative, agile Arbeitsweise erfordert nicht nur Transparenz hinsichtlich der bearbeiteten und verteilten Aufgaben, sondern auch ein hohes Maß an direkter Kommunikation. Anstelle von Mails nutzen wir, neben regelmäßigen Zoom-Konferenzen, Individual- und Gruppenchats. Aufgaben werden auf einer großen gemeinsamen Pinnwand geteilt. Das strukturiert komplexe Zusammenhänge. Kurze, unmittelbare Kommunikation gepaart mit der konkreten Arbeit an einem gemeinsamen Ziel überbrückt die von der Pandemie aufgerissenen Zwischenräume.
Wir schreiben in einem Wiki auf dem Portal Wikibooks. Jeder Teil eines Textes kann verändert werden. Änderungen sind sofort öffentlich. Die Entstehungsgeschichte ist zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar. Die Transparenz und Zugänglichkeit des Verfahrens ist für unseren Prozess kontinuierlicher Evaluation besonders wichtig. Jeder monatliche Booksprint beinhaltet eine Phase des offenen Peer Reviews. Anstelle der sonst üblichen passiven Stellungnahme werden Änderungen und Kommentare nah am Text selbst vorgenommen. Auch die Bezugnahme der Kapitel aufeinander durch intensive Verlinkungen wird durch andere Autor*innen vorgenommen.
Die Hoffnung ist, dass auch Studierende und Examenskandidat*innen die Materialien kommentieren. Sie sind der Maßstab für Verständlichkeit. Ganz im Sinne der Open Education vermindern wir die Autorität des Textes und wollen zum kritischen Denken anregen. Die in der Massenuniversität eingeübte passive Rezeption aufzubrechen, wird jedenfalls nicht leicht.
Bücher auf diese Weise zu schreiben ergänzt die Rolle der Herausgeber*innen um weitere Aufgaben. Es geht eher darum, Ideen und Initiativen anzuregen als auf die Umsetzung eines zentralen Planes zu achten. Gleichzeitig müssen neue Impulse mit der restlichen Struktur des Buches in Einklang gebracht werden, damit die Verständlichkeit und Übersichtlichkeit des Lehrmaterials nicht leiden. Erst wenn der Schreib- und Feedback-Prozess bei Wikibooks nach mehreren Booksprints und externen Rückmeldungen beendet ist, kommt das Buch als „klassische“ Open-Access-Veröffentlichung in einen Verlag. Die flexible Version bei Wikibooks verschwindet nicht, sondern ist das Arbeitsfeld für die zweite Auflage.
Erste Früchte
Bereits nach drei Monaten kristallisieren sich im Grundrechte-Projekt erste interessante Ergebnisse heraus, obwohl unseren kreativen Energien durch die Vorgaben des Staatsexamens enge Grenzen gesetzt waren. Hinzu kam, dass wir bis heute völlig ohne physische Treffen arbeiten. Die meisten Teilnehmenden haben sich in der analogen Welt noch nie getroffen. Dennoch war die gemeinsame Diskussion erstaunlich lebhaft und produktiv.
Entgegen der üblichen Praxis in vielen Lehrbüchern über die Grundrechte haben wir sie anhand von thematisch orientierten Oberkapiteln gegliedert. Wir wollen den Studierenden die Zusammenhänge zwischen Grundrechten zeigen, die in Klausuren typischerweise gemeinsam auftauchen. Natürlich ist jede Strukturierung wiederum diskussionswürdig. Im Laufe der Booksprints wurden die Kapitel immer wieder neu angeordnet, was aufgrund der flexiblen Wiki-Struktur technisch kein Problem war.
Anhand der gesetzten Schwerpunkten zeigen sich die hochaktuellen Forschungsinteressen der beteiligten Nachwuchswissenschaftler*innen. Die Grundrechte werden ganz selbstverständlich als eng verwoben mit Europa-, Völker- und Landesverfassungsrecht dargestellt. Ein Grundrecht auf Klimaschutz und die Grundrechtsbindung privater Akteur*innen mit besonderer struktureller Macht sind nur zwei Anknüpfungspunkte an aktuelle Debatten.
Das Wissen in den Kapiteln selbst orientiert sich am Grundwissen. Auf grafisch hervorgehobenen tieferen Ebenen wird das Examenswissen ergänzt. So weit, so bekannt aus anderen Lehr- und Fallbüchern. Da wir rein digital arbeiten, haben wir über versteckte Klappboxen jedoch ebenfalls die Möglichkeit, eine kritische wissenschaftliche Perspektive zu gängigen Positionen in Schrifttum und Rechtsprechung zu positionieren oder historische Hintergründe zu ergänzen. In Fußnoten finden sich keine Kommentare, sondern lediglich Links auf – wenn immer möglich – ebenfalls frei zugängliche Quellen; bei Gerichtsentscheidungen häufig inklusive Verlinkungen auf die jeweils in Bezug genommene Randnummer des Urteils.
Bei Wikibooks kann sehr präzise auf einzelne Textstellen verlinkt werden. Fall- und Lehrbücher werden deshalb eng miteinander verwoben. Abstrakte Ausführungen kommen nur dorthin, wo sie auch tatsächlich benötigt werden. Zusätzlich durchbrechen wir den starren Textfluss durch Verweise auf interaktive Übungen, die das Buch mit Fragen, Formulierungsbeispielen und anderen Aufgaben ergänzen. Für viele Fälle gibt es kollaborativ erstellte Vortragsfolien, die sich am Ende einer jeden Falllösung finden.
Vor Corona, nach Corona
In einem frühen Entwurf des Projektes hatte ich den Start von OpenRewi als gemeinschaftliches Seminarwochenende mit intensiven Diskussionen und gegenseitigem Austausch imaginiert. Diese Pläne sind von der Pandemie überrollt worden. Ob die erzwungene Digitalität für den Verlauf des Projektes besser oder schlechter war, ist im Moment schwer zu beurteilen. Jedenfalls schien die Bereitschaft größer, sich digital aufeinander einzulassen.
Gleichzeitig war OpenRewi nur noch eine weitere Videokonferenz neben unzähligen Stunden in digitalen Echokammern. Umso dankbarer bin ich für die Bereitschaft der Kolleg*innen, sich in all die neuen Tools einzuarbeiten und großartige Texte zu schreiben. Der Lernprozess zur sinnvollsten Strukturierung der verschiedenen Kommunikationsflüsse ist bei OpenRewi noch lange nicht abgeschlossen.
Im Laufe der Arbeit hat sich auch gezeigt, dass wir in vielfältiger Weise von anderen offenen Infrastrukturen abhängig sind. Das betrifft primär die zugrundeliegende Software. Wenn sie nicht frei lizenziert (Open Source) wäre oder im Fall von Wikibooks zusätzlich von der Wikimedia-Stiftung gehostet würde, könnte eine Graswurzelinitiative wie OpenRewi derartig ausgefeilte Technologie schlicht nicht bezahlen. Aber auch externe Quellen (Monografien, Blogs, Urteile) müssen frei zugänglich sein, damit die Nachvollziehbarkeit unserer Gedanken nicht bei der Fußnote stoppt.
Zurzeit entstehen bei OpenRewi laufend neue Projekte in einer organischen Art und Weise. Was für unser Material gilt, soll auch für die eigene Arbeitsweise gelten. Erfahrungen werden geteilt, Vorlagen werden kopiert. Alle Projekte nutzen dabei dieselben Arbeitsstrukturen und Technologien.
Weit fortgeschritten ist das Projekt zum Strafrecht BT oder zum Migrationsrecht. Letzteres richtet sich nicht primär an ein universitäres Publikum, sondern an Praktiker*innen in den Refugee Law Clinics. Ähnliches gilt für das Projekt zum Recht des geistigen Eigentums. Gerade begonnen hat ein Projekt zum Staatsorganisationsrecht. Sehr spannend ist ebenfalls unser Projekt zum Public International Law, das auf Englisch publiziert und sich an eine internationale Zielgruppe wendet.
Die Pandemie hat mit aller Deutlichkeit in Erinnerung gerufen, dass unsere neu eingeübten digitalen Praktiken das Potenzial enthalten, kollaborative Materialien zu erstellen, die ein Gewinn für Forschung und Lehre sein können.
Der oben stehende Beitrag von Maximilian Petras erschien ursprünglich im Juni 2021 beim Verfassungsblog. Der Text steht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA. Für die Fassung hier bei iRights.info wurden lediglich Gendersternchen statt -doppelunkte verwendet.
Über die Initiativen OpenRewi und jurOA, die beide für einen offen(er)en Zugang zu rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen sorgen wollen, berichtete iRights.info im Dezember 2020.
1 Kommentar
1 Ingo Beitz am 30. August, 2021 um 21:58
Das ist ein tolles Projekt und zeigt, dass auch die Rechtswissenschaft im digitalen Zeitalter angekommen ist und von einer lebendigen Diskussion lebt. Es erleichtert auch den Einstieg für Studenten und Berufsanfänger, da die Hemmschwelle sehr klein ist. Wirklich prima!
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