„Recht auf Vergessenwerden“: Europa nimmt Google in die Pflicht
Hat der Europäische Gerichtshof im Mai 2014 wirklich ein „Recht auf Vergessenwerden“ geschaffen, als die Richter entschieden, dass Google den Link auf einen Zeitungsartikel über den Spanier Mario Costeja González entfernen muss? Je genauer man hinschaut, desto komplexer wird es: Die Richter des höchsten europäischen Gerichts räumten den Nutzern mit dem Urteil das Recht ein, Links zu Suchergebnissen unter bestimmten Bedingungen entfernen zu lassen.
Dann, wenn die Ergebnisse bei einer Suchanfrage mit dem Namen auftauchen, nicht aber, wenn andere Suchbegriffe zur gleichen Ergebnisseite führen. Unter der Bedingung, dass die verlinkten Daten inadäquat, irrelevant oder nicht mehr relevant sein müssen. Und der Link muss auch nur dann entfernt werden, wenn der Forderung nicht ein öffentliches Interesse gegenübersteht, das überwiegt.
Mit einem neu geschaffenen „Recht auf Vergessenwerden“ hat das Urteil wenig zu tun. Den Löschanspruch gibt es im Grunde schon seit dem Jahr 1995, als die europäische Richtlinie zum Datenschutz in Kraft trat. Neu ist aber, dass ein solcher Löschanspruch nun auch für Suchmaschinen gilt. Google unterhält zwar eine Tochtergesellschaft in Spanien und bietet dort auch seine Onlinedienste an. Das Unternehmen war aber bislang offenbar der Ansicht, dass europäisches Datenschutzrecht hier nicht greift.
Dass der Eindruck entstand, die Richter hätten ein völlig neues Recht aus der Taufe gehoben, zeigt auch, wie sehr Google und andere Onlinedienste die Welt geprägt haben. 1995, als die Richtlinie beschlossen wurde, lernten sich die späteren Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page gerade erst bei einem Orientierungskurs an der Universität Stanford kennen.
Kleine Sache für Google?
Auch die EU-Justizkommissarin Viviane Reding wollte wohl dem Eindruck eines völlig neuen Rechts entgegenwirken. In einem BBC-Interview im Juni erklärte sie, dass es für Google kein großes Problem sein könne, mit den neuen Anfragen zur Entfernung von Links umzugehen. Schließlich müsse das Unternehmen auch bislang schon Millionen von Löschanfragen wegen Urheberrechtsverletzungen bearbeiten.
„Verglichen mit Urheberrechtsangelegenheiten ist das eine kleine Sache“, sagte Reding. Damit hat sie einerseits Recht. Denn Suchergebnisse sind schon lange das Produkt einer komplexen Gleichung. Sobald Google die Ergebnisse gefiltert und sortiert hat, fließen auch die Anträge von Rechteinhabern, Gerichten und Behörden mit ein, von denen Google dazu aufgefordert wird, Verweise auf urheberrechtsverletzende oder strafbare Inhalte zu löschen.
Dass in diese Gleichung nun auch die Privatsphäre ganz normaler Bürger einfließen kann, ist zunächst einmal keine schlechte Idee. Der Europäische Gerichtshof argumentiert im Urteil zu Recht, dass Suchmaschinen heute „den in einer Ergebnisliste enthaltenen Informationen Ubiquität verleihen“, sie also allgegenwärtig sind. Es handelt sich laut den Richtern um Informationen, die ohne Suchmaschine „nicht oder nur sehr schwer hätten miteinander verknüpft werden können“. Ein Aspekt, den Google übergeht, wenn Konzernsprecher damit argumentieren, dass eine Suchmaschine nichts anderes sei als ein moderner Bibliothekskatalog, in dem man etwa einen Zeitungsartikel sucht.
Dennoch trifft Redings Vergleich mit dem Urheberrecht nicht ganz zu. Vor allem für die Entertainment-Industrie funktioniert das dortige Modell bislang gut: Sie kann auf einen Streich gleich hunderte Webadressen melden, die dann meist auch aus dem Index gelöscht werden. Dass dabei immer auch ein paar rechtmäßige Inhalte versehentlich auf automatisch erstellten Löschlisten landeten, nahm man bislang in Kauf. Immerhin kann ein Betroffener aber eine Gegendarstellung an Google senden, um einen Streitfall überprüfen zu lassen; zudem werden rund drei Prozent der Anfragen von Google als unbegründet abgewiesen.
Bei Löschanträgen aus Datenschutzgründen will Google jedoch ganz anders vorgehen und fast nichts den Algorithmen überlassen. Hier soll ein Webformular lediglich automatisch prüfen, ob ein Nutzer alle nötigen Angaben gemacht hat, erklärt das Unternehmen auf Anfrage europäischer Datenschützer. Alle folgenden Entscheidungen würden „von Menschen getroffen“.
Das ist einerseits begrüßenswert, denn das Löschverfahren bei Urheberrechtsverletzungen wäre ein fragwürdiges Vorbild. Doch zugleich wird Google dadurch selbst immer stärker zu einer Art Richter. Das fordert das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zwar nicht direkt, doch da Google die erste Anlaufstelle ist, wenn jemand Links aus Suchmaschinen entfernen lassen möchte, müssen die Mitarbeiter zwischen dem Recht auf Privatsphäre und der Meinungs- und Informationsfreiheit abwägen. Was es bedeutet, wenn Google für Millionen von Nutzern letztlich zu einer Art Privatgericht in der ersten Instanz wird, muss sich noch zeigen.
Startschwierigkeiten oder ein Fehler im System?
Deutliche Zweifel an dieser Rolle Googles kamen bereits in den ersten Wochen nach dem Urteil auf. So entfernte Google scheinbar unbesehen eine Reihe von Links auf Presseartikel, darunter im Guardian und auf der BBC-Website. Dazu gehörte etwa ein Bericht über den schottischen Schiedsrichter Douglas McDonald, der nach einer Torentscheidung zurücktreten musste; zudem entfernte Google den Link auf einen kritischen Kommentar des BBC-Journalisten Robert Peston über den Investmentbanker Stan O’Neal.
Kritiker sahen sich bestätigt, dass das Urteil einer Zensur Vorschub leiste. Andere vermuteten, Google komme es zumindest nicht ganz ungelegen, auch Links bei klar erkennbarem öffentlichen Interesse zu entfernen — erwecke es doch den Eindruck, dass der Europäische Gerichtshof ein völlig unbrauchbares Urteil gesprochen habe. Für Googles neue Rolle als Hüter von Löschansprüchen sprechen beide Deutungen nicht.
Kurze Zeit später stellte Google jedoch einige der Links wieder her. Man sei erst noch am Anfang, die Verfahren noch „work in progress”, erklärte Rechtschef David Drummond; dabei seien Fehler unterlaufen. Um zu bestimmen, was im öffentlichen Interesse liegt, zieht Google demnach mehrere Faktoren in Betracht: Beispielsweise, ob es sich bei dem Antragsteller um einen Politiker, einen Prominenten oder sonst eine öffentliche Person handelt. Außerdem gehe es darum, ob die Inhalte Presseberichte sind und wie alt sie sind.
Um die Kriterien und das Prozedere zu klären, hat Google einen Expertenbeirat einberufen. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gehört dem zehnköpfigen Gremium an, auch Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ebenso Luciano Floridi, Professor für Informationsethik in Oxford. Der Rat begab sich im Oktober und November 2014 auf Reise durch Europa, holte weitere Meinungen und Stellungnahmen ein und soll nun einen Bericht erarbeiten.
Manche Datenschützer sahen in der Tour eine ausgefeilte PR-Strategie, doch falls sie das war, so wurde auf den durchaus kontroversen Sitzungen dennoch deutlich, wie weitreichend die Fragen sind, die das Urteil aufwirft. Im Guardian schrieb Beiratsmitglied Floridi: „Die Versuchung liegt darin, die Debatte als Nullsummenspiel darzustellen, in dem nur einer gewinnen kann: Team Privacy gegen Team Free Speech.“
Floridi sieht die „Sedimentierung“ von Informationen als eine der Kernfragen, auf die das Urteil hindeutet, ohne sie wirklich befriedigend beantworten zu können. Schließlich waren in analogen Zeiten Informationen oft schwieriger zu beschaffen, je älter sie waren. Das konnte nachteilig sein für alle, die nach diesen Informationen suchten, schützte aber auch den Einzelnen.
Während manche bereits von einem Triumph Europas gegenüber Google schwärmen und andere reflexartig „Zensur“ rufen, zeigt sich, dass die Diskussion noch am Anfang steht. Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil zwar richtige Fragen aufgeworfen, doch seine Antworten bleiben selbst auch fragwürdig – etwa, wenn von einem allgemeinen Vorrang des Datenschutzes gegenüber der Informationsfreiheit die Rede ist. Die eigentliche Herausforderung wird darin liegen, ob Lösungen und Modelle gefunden werden, die beiden Ansprüchen gerecht werden.
Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
Was sagen Sie dazu?