Raus aus den Regalen
Das kulturelle Erbe digital verfügbar zu machen, ist für die europäischen Gedächtnisorganisationen, für Museen, Archive und Bibliotheken, eine große Herausforderung. Es fehlt nicht nur an Geld für die Digitalisierung, sondern die Institutionen geraten auch systematisch in Konflikt mit dem Urheberrecht. Die Inhaber der Rechte an vielen Büchern, Fotos oder Musikstücken sind häufig lange vor Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist schon nicht mehr auffindbar.
Mittlerweile hat die EU eine Richtlinie vorgeschlagen, mit der das Problem dieser sogenannten „verwaisten“ Werke gelöst werden soll. Vorgesehen ist, dass die Mitgliedsstaaten entweder eine sogenannte Schrankenregelung einführen, also eine Ausnahmegenehmigung für Gedächtnisorganisationen, die dann verwaiste Werke auch ohne Genehmigung des Rechteinhabers öffentlich zugänglich machen dürften. Oder dass sie erweiterte kollektive Lizenzen ermöglichen, also vertragliche Vereinbarungen zwischen Organisationen der Rechteinhaber einerseits und den Kultureinrichtungen andererseits.
Im Deutschen Bundestag hat Die Linke sich für eine Schrankenlösung stark gemacht, die SPD hat eine Lizenzregelung vorgeschlagen. Die Regierung hat angekündigt, das Problem im Zusammenhang mit der nächsten Urheberrechtsnovelle anzugehen.
Intensive Lobbyarbeit zu vergriffenen und verwaisten Werken
Vor diesem Hintergrund findet in letzter Zeit eine intensive Lobbyarbeit der Verleger statt. Sie läuft auf die Forderung hinaus, man solle nicht nur für verwaiste, sondern auch für vergriffene Werke eine Regelung finden. Auf EU-Ebene ist dazu am 20. September 2011 ein „Memorandum of Understanding“ veröffentlicht worden, eine gemeinsame Willenserklärung von Bibliotheken, Verlagen, Autoren und Verwertungsgesellschaften.
Auch in Deutschland drängen diese „beteiligten Kreise“ derzeit die Bundesregierung, möglichst nicht die EU-Regelung abzuwarten, sondern schon vorher ein Gesetz zu verabschieden, dass vergriffene und verwaiste Werke in ein und demselben Abwasch erledigt.
Was ist der Unterschied? Verwaiste Werke sind stets auch vergriffen. Wenn der Urheber eines bestimmten Buchs nicht mehr auffindbar ist, wird dieses Buch in der Regel auch nicht mehr verkauft. Umgekehrt sind natürlich nicht alle Autoren verschollen, deren Bücher nicht mehr im Handel sind. Vielmehr verschwinden Bücher heutzutage nach etwa einem halben Jahr aus den Regalen. Sie sind dann nur noch gebraucht erhältlich: vergriffen, aber in der Regel nicht verwaist.
Für vergriffene Werke gibt es bereits eine gesetzliche Regelung
Anders als die Verleger es derzeit der Politik einzureden versuchen, bedarf es für vergriffene Werke jedoch keiner gesetzlichen Regelung, da es schon eine gibt. Wer die Rechte an einem vergriffenen Werk nutzen möchte, kann den Rechteinhaber kontaktieren und einen Vertrag mit ihm schließen.
Es ist nicht lange her, dass ein großes Unternehmen heftige Kritik dafür einstecken musste, dies nicht getan zu haben. Als Google in den USA ein Abkommen schließen wollte, das digitale Nutzungen gescannter Bücher ohne vorherige Genehmigung der Autoren erlaubt hätte, war das Geschrei in Europa groß. Im Zusammenhang mit dem Google Book Settlement war von „kalter Enteignung“ die Rede (so Alexander Skipis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels in einer Presseerklärung) – der Weltkonzern stand monatelang als Urheberrechtsverletzer am Pranger. Tatsächlich hatte Google nur versucht, was seine Kritiker jetzt selbst tun möchten, nämlich das Problem der verwaisten Werke zu lösen und dabei zugleich ein Geschäftsmodell für die Vermarktung vergriffener Werke zu etablieren.
Opt-out-Verfahren wie beim Google-Book-Settlement
Wer als Autor mit den Vertragsbedingungen nicht einverstanden war, hätte sich bei Google melden müssen, um zu erwirken, dass seine Bücher aus der elektronischen Anzeige entfernt werden – ein Opt-out-Verfahren, wie es das erwähnte „Memorandum of Understanding“ jetzt ebenfalls vorschlägt. Die Lizenzierung vergriffener Werke für die Online-Zugänglichmachung soll nach diesem Vorschlag über Verwertungsgesellschaften erfolgen.
Die deutsche VG Wort hat sich die Rechte ihrer Autoren bereits einräumen lassen, per Beschluss auf der Mitgliederversammlung. Nach ihrer Rechtsauffassung haben Autoren, wenn sie nicht innerhalb von sechs Wochen widersprochen haben, die Verwertungsgesellschaft beauftragt, die entsprechenden Rechte für sie wahrzunehmen.
Verlage wollen Einfluss wahren
Auch wenn die tatsächliche Lizenzierung letztlich noch unter einem Genehmigungsvorbehalt steht, ist das ein eher hemdsärmeliges Verfahren. Es gibt aber einen Grund, weshalb die Verlage erreichen möchten, dass die Politik vergriffene und verwaiste Werke in einen Topf wirft und die Verwertungsgesellschaften mit der Verwaltung beauftragt. Nur so können sie sicherstellen, dass sie ihren Einfluss behalten. Denn weder an verwaisten noch an vergriffenen Werken halten sie in nennenswertem Umfang Rechte.
In der Regel übertragen Autoren diese Rechte nämlich nur zeitlich begrenzt, und ohnehin können sie sie zurückrufen, wenn der Verlag sie über eine längere Zeit hinweg nicht nutzt. Die logische Folge: Verlage dürften eigentlich, was die Onlinezugänglichmachung verwaister und vergriffener Werke angeht, gar nicht mitreden.
Indem sie jedoch die Verwertungsgesellschaft vorschicken, schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits stellen sie sicher, dass diese Werke auch in Zukunft nicht in einer Weise genutzt werden können, die ihren eigenen Verwertungen Konkurrenz macht. Andererseits können sie so an allen Zahlungen partizipieren, die die Verwertungsgesellschaft in Zukunft von Bibliotheken und sonstigen Einrichtungen verlangen wird. Erfahrungsgemäß sind die nicht ganz unbedeutend.
Autoren könnten selber lizenzieren
Was wäre die Alternative? Man könnte Autoren eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, die es ihnen ermöglichen würde, Rechte an vergriffenen Werken, die derzeit nicht genutzt werden, in Eigenregie zu lizenzieren. Sie könnten dann beispielsweise E-Book-Rechte getrennt von Print-On-Demand-Genehmigungen vergeben oder Rechte für kommerzielle Werbezwecke getrennt von solchen zur nichtkommerziellen Nutzung.
Idealerweise könnten sie die Preise für jede einzelne Nutzungsart entweder selbst festlegen oder dies einem Algorithmus überlassen, ebenso wie sie etwa den Umfang einer kostenlosen Vorschau selbst konfigurieren könnten. Umgekehrt könnten Nutzer, also etwa Bibliotheken, Portale oder sonstige Diensteanbieter, die gewünschten Rechte automatisiert erwerben, in beliebiger Kombination.
Kurz, man könnte es so ähnlich machen, wie Google es seinerzeit mit der Book Rights Registry versucht hat, aus der dann nichts wurde. Nur dass man es nicht als Opt-out-, sondern als Opt-in-Lösung gestalten würde. Das würde natürlich voraussetzen, dass man zwischen verwaisten und vergriffenen Werken klar unterscheidet. Für verwaiste Werke könnte es dann eine gesetzliche Lösung geben, für vergriffene eine Lizenzlösung. Einen Versuch wäre es wert. Zumal kaum zu begründen sein dürfte, warum man die Autoren kurzerhand entmündigen und ihnen die Verwaltung ihrer Rechte aus der Hand nehmen sollte, statt es ihnen zu ermöglichen, mit diesen Rechten eigenverantwortlich zu wirtschaften.
Ist das Verbotsrecht des Urheberrechts noch zeitgemäß?
Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, ob das individuelle Verbotsrecht als urheberrechtliches Grundprinzip im 21. Jahrhundert überhaupt noch geeignet ist. Die Frage muss gestellt werden. Wird sie jedoch nur dort stellt, wo das Interesse der Verwerter an diesen Verbotsrechten ausnahmsweise erloschen ist, zeigt dies einmal mehr, dass die Urheber in diesem Konflikt keine Lobby haben.
Redlicher wäre es, in Erinnerung zu rufen, womit das Problem der mangelnden Sichtbarkeit verwaister und vergriffener Werke im digitalen Raum tatsächlich zusammenhängt: Damit, dass Urheberrechtsschutz von selbst entsteht, ohne Registrierungspflicht. Und damit, dass die urheberrechtliche Schutzfrist siebzig Jahre über den Tod des Urhebers hinausreicht, also viel zu lang ist.
Würde man hieran etwas ändern, bräuchte man über vergriffene Werke schon bald kein Wort mehr zu verlieren.
Ilja Braun arbeitet als Übersetzer, Journalist und als Referent der
Linksfraktion für die Enquetekommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ in Berlin und Köln.
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