Organisierte Kreativität: Forscher untersuchen die Quadratur des Kreises
„Heureka!“, „Geistesblitz“ oder „der Kuss der Muse“ – es gibt viele Umschreibungen für unerwartete Eingebungen oder eine besonders zündende Idee. Wie es dazu kommt, bleibt für einen selbst oft unerklärlich. Ideen scheinen zu kommen, wann es ihnen passt. Sie zu erzwingen, geht nur schlecht.
Dabei setzen Unternehmen und andere Organisationen immer mehr auf die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln, neue Fragen zu stellen oder neue Lösungen zu finden, ist heute eine gefragte Ressource, die in vielen Stellenbeschreibungen auftaucht, nicht nur in der Kreativwirtschaft.
Kreativität ist als Modewort in aller Munde. Oft bleibt jedoch unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Handelt es sich bei Kreativität um etwas, das kollektiv erzeugt werden kann, zum Beispiel in Organisationen oder Gruppen – oder bleibt Kreativität abhängig von der Eingebungskraft Einzelner?
Kreativität als Ressource der Pharma- und Musikindustrie
Eine Forschungsgruppe aus Betriebswirtschaftlern, Wirtschaftsgeographen und Soziologen geht diesen Fragen in dem Projekt „Organized Creativity“ nach. In dem am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der FU Berlin angesiedelten Projekt arbeiten 15 Forscherinnen und Forscher verschiedener Universitäten in Deutschland und Österreich zusammen.
Sigrid Quack, Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, erklärt, dass eine neue Idee allein nicht ausreiche, um als kreativ zu gelten. Entscheidend sei vielmehr, dass das Neue von anderen Gruppen zugleich als wertvoll angesehen wird, so dass sich weitere Handlungen daran anschließen. Solche kreativen Prozesse will die Forschungsgruppe empirisch untersuchen, etwa durch Interviews, mit Hilfe von Beobachtungsdaten und Dokumentanalysen. Das Forschungsfeld sind vor allem Unternehmen der Pharma- und Musikindustrie.
In beiden Branchen entsteht Neues, dessen Erfolgsbedingungen in der Zukunft nur schwer planbar sind: „Sowohl in der Pharma- als auch in der Musikindustrie haben wir mit Situationen der Unsicherheit zu tun. Unsicherheit heißt hier auf der einen Seite, dass sich Risiken nicht kalkulieren lassen“ so Quack. Auf der anderen Seite sei Unsicherheit auch „konstitutiv für kreative Prozesse, wenn man ins Ungewisse hinein etwas Neues schafft“.
Abschied vom Heureka-Moment – verdeckte Zusammenarbeit
Der Soziologie Tobias Theel untersucht, wie in der Musikindustrie durch organisierte Zusammenarbeit Kreativität ermöglicht werden soll. Er sagt: „Neues kann nur erschaffen werden, wenn es unbestimmte Situationen gibt. Es kann nichts Neues geben, wenn schon vorher gewusst wird, was entstehen wird.“
Den immer wieder beschriebenen Moment, in dem das Neue in einer Art Eingebung entsteht, hält Theel dabei für überbewertet. Man unterschätze dabei Vorarbeiten anderer und das Zusammenwirken aller Beteiligten – Prozesse, die auf den ersten Blick unsichtbar bleiben: „Auch einzelne Menschen bringen kreative Produkte hervor, die auf verdeckten Kollaborationen beruhen. Es gibt nicht den Heureka-Moment, bei dem nur in einem einzelnen Menschen etwas Kreatives entsteht. Von diesem Gedanken muss man sich verabschieden. Neues passiert immer in Bezug oder in Abgrenzung auf etwas anderes“.
Theel interessiert sich besonders für die musikwirtschaftliche Arbeitsteilung, in der neue Ideen und Trends entwickelt werden. Die einzelnen Glieder in der Herstellungskette sind für die Konsumentin oft unsichtbar: Verlage, Marketingberater, Verwertungsgesellschaften, Vertragsbeauftragte, Instrumentenhersteller, Artists-and-Repertoire-Abteilungen, befreundete oder konkurrierende Künstler, Grafikdesigner und andere Beteiligte wirken an einem kreativen Produkt mit. Auch wenn am Ende der Musikproduktion die Platte im Laden zu kaufen ist und nur der Name der Band oder einer einzelnen Künstlerin auf dem Cover steht.
Kreativität im industriellen Maßstab
Der Vergleich von Pharma- und Musikindustrie ist auf den ersten Blick ungewöhnlich, aber naheliegend. Beide Branchen sind entscheidend auf neue, kreative Produkte angewiesen, gleichzeitig aber auch stark durch Bürokratie organisiert und hierarchisch strukturiert. Das steht der experimentellen, offenen Seite der Kreativität oftmals im Weg. Rekombinationen und neue Verbindungen, die Neues entstehen lassen, werden erschwert, so die Vermutung der Forscher.
In der Pharmaindustrie wird die Entwicklung neuartiger Medikamente und chemischer Verbindungen in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen forciert. Das Gegenstück dazu bilden die Artists-and-Repertoire-Abteilungen in den Majorlabels der Musikindustrie. Neue Künstler werden von ihnen systematisch entdeckt, betreut und aufgebaut. Beide Branchen sind sehr neugierig auf Entdeckungen und schöpferische Ideen – dementsprechend sind sie auf die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen angewiesen. Gleichzeitig müssen sie sich an restriktive Umgebungen anpassen, zum Beispiel rechtliche Rahmenbedingungen.
Nicht zu wenig, aber nicht zu viel Schutz
Ein Teilprojekt untersucht Auswirkungen der Rechte des geistigen Eigentums auf kreative Prozesse. Für die Pharmaindustrie spielen Patente eine entscheidende Rolle, in der Musikindustrie sind es vorrangig die Urheberrechte auf Kompositionen oder Stücke. Soziologin Quack sagt, dass der rechtliche Spielraum entscheidend für die Entwicklung neuer Ideen sein kann, weil Neues immer auf Bestehendes zurückgreift. „Da stellt sich natürlich die Frage, wie zugänglich sind diese vorher schon geschaffenen Werke oder Forschungsergebnisse für die nächsten kreativ Schaffenden? Und was sind die Möglichkeiten, sie zu nutzen?“
Leonhard Dobusch, Professor für Organisation an der Universität Innsbruck, beschäftigt sich mit der kleinteiligen Arbeit von Patentanwälten im Pharmabereich. Sie suchen gezielt nach Bewegungsspielraum zwischen den vorhandenen Patenten, der strategisch genutzt werden kann. Der Schutz von immateriellen Gütern durch Patent- und Urheberrecht ist einerseits notwendig, um Ergebnisse auf dem Markt verwertbar zu machen. Das soll eigentlich zu Kreativität anregen.
Er kann kreative Prozesse und Weiterentwicklungen aber anderseits hemmen oder sogar verhindern – zum Beispiel wenn die Rechteklärung zu viele Ressourcen bindet und neue rechtliche Unsicherheiten entstehen. „Damit wollen wir uns besonders beschäftigen: Fühlen sich Musiker und Forscher dadurch eingeschränkt? Aber auch: Werden sie de facto eingeschränkt?“, so Quack.
Wahrscheinlich braucht es zur Kreativität beides, vermuten die Forscher: Freiheit zur Rekombination und Abweichung vom Normalprogramm, aber auch Grenzen, um schöpferische Prozesse abzuschließen und Ideen in Produkte zu überführen. Wenn Kreativität als ein individueller Vorgang gedacht wird, erscheint sie oftmals als zufällig und flüchtig, als das Gegenteil von Planbarkeit. Die Forschergruppe dreht die Perspektive um: Kreativität ist für sie ein kollektiver Prozess, der auf sichtbarer und versteckter Kooperation beruht.
1 Kommentar
1 Schmunzelkunst am 1. Februar, 2017 um 18:25
Zum Glück hat es die bildende Kunst da leichter. Sie lässt auch die absurden Ideen gelten (Fluxus, Dada, Surrealismus etc.). Wie bei den Zahlen in der Mathematik ist die Menge der irrationalen Ideen überabzählbar und damit ungleich mächtiger als die der rationalen. Der bildende Künstler hat also viel mehr Spielraum. Aber ist das nicht in der Musik und insbesondere der Pharmaindustrie ein wenig auch so ;-).
MfG
Johannes
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