Open COVID: Freie Lizenzen für offenes Wissen in der Coronakrise
In der Coronakrise schnellt der Wissensaustausch in der Forschung in bislang ungekannte Höhen und ist kollaborativer denn je: Auch über Grenzen hinweg werden Daten und Erkenntnisse geteilt, um Therapien und Impfstoffe zu entwickeln. Gleichzeitig kann der rechtliche Schutz von Herstellungsverfahren, Erfindungen und anderen geistigen Gütern in der Pandemie zum Hindernis werden. Es geht um die freie Herstellung von Schutzausrüstung wie Atemmasken, Arzneimittel, Labordiagnostik und Ersatzteilen, die dieser Tage so dringend nötig sind und bei der etwa auch Patente eine Rolle spielen.
Erste Firmen wie Labrador Diagnostics geben bereits Techniken für die Pandemiebekämpfung frei, wie die ehemalige EU-Abgeordnete und Urheberrechtsexpertin Julia Reda schon im März berichtete. Doch manche wollen ihre Patent- und anderen Schutzrechte nicht komplett freigeben. Etwa, weil sie sich darauf verlassen, ihre Entwicklungskosten über Lizenzeinnahmen für Schutzrechte zu amortisieren; sie waren möglicherweise ein Anreiz zur Innovation.
Deshalb sollte auf das Bedürfnis von hilfsbereiten Rechteinhabern eingegangen werden, sehr weitreichende Freigaben von Erfindungen, Urheberrechten oder Designs zu erteilen – begrenzt auf die Pandemiedauer.
Die Stunde der Commons
Solche Bedingungen lassen sich im Allgemeinen individuell aushandeln. Nur: Sowohl für Lizenzgeber als auch für Lizenznehmer entstünde ein immenser Aufwand, individuell die Bedingungen abzustecken – gerade, wenn Güter für die Allgemeinheit freigegeben werden sollen. In Notlagen gehen dann Reichweiten und wertvolle Zeit verloren.
Wichtig sind also klare und verlässliche Bedingungen, damit die Allgemeinheit weiß, was mit einer Freigabeerklärung erlaubt ist. Deshalb schlägt gerade jetzt die Stunde von freien Standardlizenzen.
Der Open COVID-Pledge
Hierfür hat ein Bündnis von Vertreter*innen mehrerer US-amerikanischer Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen zusammen mit der Mozilla Foundation und dem Creative Commons Network die Open COVID Pledge ins Leben gerufen. Die Initiative hat speziell für die Zeit der Coronapandemie einen Lizenztext formuliert, den etwa Forschungsinstitute, Pharma- und Medizinunternehmen verwenden können. Mit ihrer Open COVID License können Akteure aus öffentlicher und privater Forschung ihre geistigen Güter freigeben. Wer die Lizenz verwendet, gibt eine Absichtserklärung ab:
Mit dem Open-COVID-Pledge erteilen wir (der „Pledgor“) die unten beschriebene Lizenz, um die Entwicklung und Verbreitung der Technologien zu beschleunigen, die zur Beendigung der COVID-19-Pandemie und zur Abschwächung der Auswirkungen der Krankheit erforderlich sind.
(Übersetzung durch den Autor)
Ein „Pledgor“ (frei übersetzt „Versprechensgeber“) räumt mit der Lizenz anderen sehr weitreichende Nutzungsrechte ein, sei es an Erfindungen oder anderen rechtlich geschützten Gütern wie Designs und Herstellungsverfahren – ohne Bezahlung. Das ist wichtig, weil die freie Verwendung von geistigen Gütern oft nicht der gesetzlichen Ausgangslage entspricht. Vielmehr sind oft aufwendige Recherchen nötig, um in industriellen Produktionen nicht fremde Rechte zu verletzen.
Konkret heißt es im Lizenztext:
Der Pledgor gewährt jeder Person und Organisation, die die Lizenz akzeptiert, eine nicht-exklusive, lizenzgebührenfreie, weltweite, vollständig bezahlte Lizenz (ohne das Recht zur Unterlizenzierung) zum Herstellen, Herstellenlassen, Verwenden, Verkaufen, Importieren und Reproduzieren, Anpassen, Übersetzen, Verteilen, Ausführen, Anzeigen, Modifizieren, Herstellen abgeleiteter Werke und anderweitig alle Patent-, Urheber- und sonstigen Rechte an geistigem und gewerblichem Eigentum (außer Marken und Geschäftsgeheimnissen) an Produkten, Dienstleistungen, Stoffzusammensetzungen, Maschinen, Herstellungsgegenstände, Verfahren und urheberrechtlich geschützten Werken, zu deren Lizenzierung wir gemäß diesen Bedingungen berechtigt sind (das „lizenzierte geistige Eigentum“), um die „COVID-19-Pandemie“ (wie von der Weltgesundheitsorganisation „WHO“ definiert) zu beenden und die Auswirkungen der Krankheit zu minimieren, einschließlich zur Diagnose, Prävention, Eindämmung und Behandlung der COVID-19-Pandemie.
(Übersetzung durch den Autor, Hervorhebungen nicht im Original)
Die Lizenz knüpft an der Idee der Open-Content-Lizenzen („Jedermann-Lizenzen“) an, die längst ein etabliertes Instrument sind. Theoretisch stünden die geistigen Güter der ganzen Welt zur Nutzung zur Verfügung.
So könnte beispielsweise eine Entwicklungsfirma ihre Designdaten für die Herstellung von Atemmasken oder Beatmungsgeräten online stellen und sie während der Pandemie zum Gemeingut erklären. Während für die Herstellung von Medizinprodukten teils strenge (und wichtige) Vorschriften zur Produktsicherheit beachtet werden müssen, stünde das „Geistige Eigentum“ bei freigegebenen Gütern nicht mehr im Weg.
Die Initiative betont, dass kein Vertrag ausgehandelt und unterzeichnet werden muss: Wer die Güter nutzt, muss nur die Lizenzbedingungen beachten. Wer am COVID-Pledge teilnimmt, der sichert zudem zu, für sich keine exklusive Zulassung für die Herstellung von Impfstoffen oder Medikamenten zu beanspruchen. Und für die „Pledgors“ ist ein Sicherungsmechanismus vorgesehen, von Nutzenden der Lizenz nicht verklagt zu werden („defensive suspension“).
Wichtig ist vor allem: Die Lizenz ist streng zweckgebunden – die lizenzierten Güter dürfen nur für Bekämpfung und zum Abschwächen der COVID-19-Pandemie genutzt werden. Die Lizenz endet außerdem ein Jahr nachdem die WHO die Pandemie für beendet erklärt haben wird. Diese Übergangsphase soll dann individuelle Lizenzverhandlungen ermöglichen.
Auch für Bildungsinhalte
Hinter der Initiative stehen neben Vertreter*innen aus Wissenschaft und Industrie auch Akteur*innen von Creative Commons, darunter die US-amerikanische Juristin Molly Shaffer. Ihr zufolge haben bereits jetzt viele Rechteinhaber das Bedürfnis erkannt, dass „die Menschheit in diesem Moment alle geistigen Ressourcen benötigt, die wir derzeit aufbringen können – von Bildungsressourcen fürs Online-Lernen über Designs für Schutzausrüstung bis hin zu patentierten Arzneimitteln“.
Shaffer erwähnt mit den Bildungsinhalten einen weiteren Aspekt der Lizenz: Auch sie können über die COVID-Lizenz in der Zeit der Pandemie frei lizenziert werden. Denn die Lizenz umfasst auch Urheberrechte, unter die Bildungsressourcen häufig fallen.
Open-Content-Paket zur Pandemiebekämpfung
So ist die COVID-Lizenz ein umfassendes Open-Content-Paket für die Zeit der Pandemie. Die Pledge-Initiative macht mit ihr einen wichtigen Aufschlag. Solo-Entwickler*innen, Makerspaces und Industrie können sie einsetzen und nutzen.
Dabei müssen die „Pledgors“ Acht geben, dass die nötigen Rechte vorhanden sind, um Güter überhaupt so offen zu lizenzieren. Wer Güter wiederum entsprechend der Lizenz nutzt, muss beachten, dass Produkte auch Schutzrechte mehrerer Rechteinhaber beinhalten können. Davor, von Dritten in Anspruch genommen zu werden, schützt die Lizenz nämlich nicht. Deshalb hofft die Initiative auch, dass sich möglichst viele Rechteinhaber „von COVID-bezogenen Rechten“ der COVID-Pledge anschließen.
Im Gegensatz zu Creative Commons- und anderen Open-Content-Lizenzen ist der Pledge wohl mehr als Selbstverpflichtung gemeint, all seine geistigen Güter global zur Pandemiebekämpfung freizugeben – und sie nicht nur an einzelne Inhalte zu heften.
Übrigens: Auch der Gesetzgeber hat für Notlagen vorgesorgt. So kann der Staat zur Pandemiebekämpfung auf Patente zugreifen, etwa wenn Erfindungen und Verfahren ungenutzt bleiben, aber zur Seuchenbekämpfung dringend gebraucht werden. Außerdem gibt es im Patentrecht einen Mechanismus für Zwangslizenzen, der in einer Seuchenlage greifen kann. Die Verfahren sind aber langwierig.
Greift jetzt ein breites Open-Source-Ethos um sich, müssten Zwangsmittel auch gar nicht erst zur Anwendung kommen.
Update, 21. April 2020: Kürzlich vermeldete die Creative Commons Organisation, dass sich mehrere US-amerikanische Technologie-Konzerne der Initiative anschließen und eigene Patente für eine begrenzte Zeit öffnen, darunter Amazon, Facebook, Hewlett Packard, IBM und Microsoft. Sie wollen damit unter anderem Wissenschaftler*innen und Firmen, die an Forschung, Entwicklung und Verteilung von medizinischen Geräten und Mitteln arbeiten, in deren Bemühungen gegen die Ausbreitung und Auswirkungen der Corona-Pandemie unterstützen.
Offenlegung: Der Autor Fabian Rack ist Mitglied im Global Network von Creative Commons.
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