Offene Gesellschaft oder geheimer Staat

Stairs, CC BY Andreas Levers
Geheimhaltung und Journalismus – diese beiden Dinge vertragen sich nicht. Sie sollen und dürfen sich auch gar nicht vertragen, wenn sie ihrer jeweiligen Aufgabe gerecht werden wollen. Journalistinnen und Journalisten sollen Dinge öffentlich machen, sollen berichten, damit möglichst viele Menschen sich informieren, sich eine Meinung bilden können.
So ist es kein Wunder, wenn ein Journalist – wie der Autor dieses Textes – findet, dass es viel zu viele Geheimnisse gibt. Und es ist sicher auch nicht verwunderlich, wenn Mitarbeiter eines Geheim(sic!)dienstes gegenteiliger Meinung sind. Denn staatliche Geheimhaltung soll es Regierungen ermöglichen, ihr Handeln zu planen, ohne dass politische, wirtschaftliche oder militärische Gegner sofort davon erfahren und sich darauf einstellen.
Das wäre für eine begrenzte Zeit auch in Ordnung, aber leider bleibt es dabei nicht. Geheimnisse sind eine strategische Ware.
NSA-Untersuchungsausschuss: Geschwärzt und gebläut
Die Bundesregierung setzt sie beispielsweise gezielt ein, um Aufklärung über Sauereien zu verhindern. Im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages ist das gut zu beobachten. Die Akten, die die Regierung den Abgeordneten für ihre Ermittlungsarbeit überlässt, sind sämtlich heftig geschwärzt oder gebläut und dadurch gern bis zur Sinnlosigkeit entstellt. Aufklärung wird damit zu einem Puzzle, bei dem aus Satzfragmenten und Andeutungen ein Bild zusammengesetzt werden muss.
Kooperationen zwischen zwei Geheimdiensten zum Beispiel werden auch noch mehr als zehn Jahre nach ihrem Ende mit der Begründung als „streng geheim“ eingestuft und weggeschlossen, alles andere würde Methoden der Dienste verraten. Dabei verbergen sich in genau diesen Kooperationen die Probleme. Bei ihnen wurde das Recht gebeugt und gebrochen, wurden Grundrechte verletzt.
Zehn Jahre sind in der Aufklärung digitaler Signale im Übrigen eine Ewigkeit, die Methoden haben sich in dieser Zeit längst verändert. Doch im Untersuchungsausschuss darf öffentlich nicht einmal der Name der Operation „Glotaic“ genannt werden, der längst in allen Zeitungen stand. Was bedeutet, dass albernerweise immer nur von „Glo-Punkt-Punkt-Punkt“ die Rede ist.
Dem immerhin einstimmig beschlossenen Untersuchungsausschuss des Bundestages werden sogar zentrale Beweise vorenthalten. Die sogenannten Selektoren, die Suchworte, mit denen der BND im Auftrag der NSA in Daten stöberte, bleiben trotz aller Proteste unter Verschluss. Niemand außerhalb der Regierung darf sie sehen.
Geheimnis und Demokratie
Solange Menschen versuchen, sich über andere einen Vorteil zu verschaffen, wird es Geheimnisse geben, keine Frage. Wo aber ist die Grenze? Wo ist der Weg, der für eine demokratische, für eine offene (!) Gesellschaft der beste ist? Geheim, geheimer, staatsgeheim? Wer legt fest, was die Öffentlichkeit erfahren darf und was sie nichts angeht? Und wer kontrolliert das?
Die kurze Antwort lautet: die Behörde, die die Geheimnisse verursacht hat. Der Bundesnachrichtendienst bestimmt, welche seiner Aktionen für Jahrzehnte im Panzerschrank zu verschwinden hat. Das Bundeskanzleramt verfügt, ob ein Vertrag mit der National Security Agency der USA je das Licht der Öffentlichkeit erblicken darf. Nur sie können Geheimhaltungsfristen verlängern oder verkürzen, nur sie dürfen Geheimhaltungsgrade herabstufen. So steht es in der sogenannten Geheimschutzordnung, so ist es Gesetz.
Doch die lange Antwort ist wie immer nicht so einfach.
Öffentlichkeit – ein altes Heilmittel
Politik und Regierungshandeln müssen transparent sein, sonst funktioniert Demokratie nicht. Wähler vereinen Macht auf Gewählte, sie haben daher ein Recht zu erfahren, was die damit anstellen und ob sie im Sinne derer handeln, die sie gewählt haben. Es braucht also Wege, Regierungen zu kontrollieren.
Denn leider funktionieren Menschen ohne Regeln und ohne Angst vor Strafe eher schlecht. Das gilt für Vierjährige genauso wie für ausgewachsene Politiker. Wer nicht fürchten muss, dass sein Handeln entdeckt wird, der handelt gern auch mal nur in seinem eigenen Sinne und nicht unbedingt zum Wohl der Allgemeinheit. Wer glaubt, nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können, hat nur noch ein paar moralische Schranken – im besten Fall. Macht braucht Kontrolle. Eine wirksame Kontrollmöglichkeit sind Transparenz und Öffentlichkeit.
„Publicity is justly commended as a remedy for social and industrial diseases. Sunlight is said to be the best of disinfectants; electric light the most efficient policeman“, schrieb der Richter Louis Brandeis im Dezember 1913 in „Harpers Weekly“. Übersetzt: Öffentlichkeit werde zu Recht als Heilmittel für gesellschaftliche und wirtschaftliche Krankheiten empfohlen. Sonnenlicht gelte als das beste Desinfektionsmittel, elektrisches Licht als der effektivste Polizist.
Daher gibt es beispielsweise den Artikel fünf des Grundgesetzes: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
Fortschritte bei gesellschaftlicher Kontrolle
Freie Medien sollen die Regierung kontrollieren und die Öffentlichkeit so gut wie möglich informieren. Dazu gehört auch, dass sie im Zweifel Geheimnisse verraten. Daher steht seit einigen Jahren im Strafgesetzbuch, dass sie dafür nicht bestraft werden dürfen. Im Paragrafen 353a gibt es seit 2012 einen Abschnitt 3a, der dafür sorgt, dass Medien Dienstgeheimnisse entgegennehmen und veröffentlichen dürfen.
Trotzdem setzt sich dieser Gedanke nur mühsam durch. OK, es gibt Fortschritte. Das Konzept der Open Data ist so einer: Open Data will Regierungshandeln transparent machen, indem die Statistiken und Daten, die mit Steuergeld erzeugt wurden, jedem zur Verfügung gestellt werden – damit alle von dem so generierten Wissen profitieren können und nicht nur ein paar Wenige. Denn auch Wissen bedeutet Macht.
Plattformen wie Wikileaks wollen diese Idee ebenfalls fördern, wollen originale Quellen veröffentlichen, damit jeder sich ein Bild machen kann. Für eine demokratische Gesellschaft ist das gut. Garantiert es doch, dass Missstände nicht unentdeckt bleiben. Oder, wie ein hochrangiger Geheimdienstler im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages sagte: „Ich bin immer davon ausgegangen, dass sowieso alles raus kommt.“ Gut so.
Der geheime Staat wächst
Nimmt die Zahl der staatlichen Geheimnisse also ab? Eher nicht. Beispiel USA: Dort führt das Information Security Oversight Office (ISOO) eine jährliche Statistik über die Menge der amtlich geheim gehaltenen Dokumente. Demnach sinkt in den USA zwar die Zahl derjenigen, die Dokumente als geheim oder streng geheim einstufen dürfen seit vielen Jahren. Auch die Zahl der Originaldokumente, die geheim sind, verringert sich seit 2004 stetig.
Die Menge der geheimen Informationen jedoch ist gleichzeitig seit 2008 enorm gestiegen. Denn auch alle Akten und Schriftstücke, die sich auf geheime Unterlagen beziehen oder aus ihnen zitieren, sind geheim. Solche Derivate des Geheimen werden in den USA jedoch immer mehr.
Indirekt zeigt sich das Wachsen des geheimen Staates auch an den Ausgaben für die entsprechenden Dienste und Operationen, black budget genannt. Das steigt seit Jahren unaufhörlich. Im Jahr 1998 betrug das Budget aller amerikanischen Nachrichtendienstaktivitäten 26,7 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2013 gab die US-Regierung bereits 52,6 Milliarden Dollar aus. Eine Zahl übrigens, die die Öffentlichkeit Edward Snowden verdankt, denn der Etat der Spione ist selbstverständlich geheim.
In Deutschland sieht der Trend genauso aus. Im Jahr 2000 gab der Bund dem Bundesnachrichtendienst 331 Millionen Euro. Im Jahr 2015 betrug dessen Etat bereits 615 Millionen Euro, also fast doppelt so viel. Der für das Bundesamt für Verfassungsschutz stieg in der gleichen Zeit von 113 auf 210 Millionen Euro. Die Zahl der Menschen in Deutschland hat sich in den 15 Jahren nicht verdoppelt, die Ausgaben für die Überwacher und Spione schon.
Wer hat eigentlich wieviele Geheimnisse?
Wie viele Geheimnisse es hierzulande gibt, ist nicht so leicht zu ermitteln. Die Menge der geheim gestempelten Dokumente wird nicht zentral gesammelt und schon gar nicht veröffentlicht. Die Wähler sollen nicht einmal erfahren, wie viele Geheimnisse es gibt. Schon das ist eigentlich ein Skandal.
Und wer bei Bundesministerien nach solchen Zahlen fragt, erfährt auch gleich noch, wie relativ Geheimnisse eigentlich sind und wie abhängig von dem guten Willen der geheim haltenden Behörde. So antwortet das Bundesverteidigungsministerium bereitwillig, man habe insgesamt 197.889 Akten im Bestand, davon seien 6.493 mit dem Geheimhaltungsgrad „VS-Vertraulich“ eingestuft, weitere 11.967 seien „VS-Geheim“ und 19 „VS-Streng Geheim“. Fast zehn Prozent der Akten des Verteidigungsministeriums sind somit in irgendeiner Form verschlossen – und die Auskunft darüber ist kein Problem.
Das Bundesinnenministerium, zu dem die Polizei und der Verfassungsschutz gehören, antwortet hingegen, eine Statistik darüber werde nicht geführt. Es sei auch nur mit einem „unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand“ zu ermitteln, wie viele Akten als geheim eingestuft sind. Denn die Verschlusssachen-Bestandsverzeichnisse gebe es nur in Papierform, sie müssten manuell durchgesehen werden. Was bedeutet: Es gibt eine Statistik, aber niemand will sie zugänglich machen.
Und das Bundeswirtschaftsministerium sagt gleich gar nichts. Die Bestandsverzeichnisse seien genauso geheim wie die Akten, die in ihnen aufgelistet seien, daher erteile man keine Auskunft über sie.
Wie soll angesichts einer solchen Haltung kontrolliert werden, ob Dinge zu Recht geheim sind oder ob sie nicht doch besser an die Öffentlichkeit gehören? Wie soll die Gesellschaft verhindern, dass auf diese Art ein verdunkelter, ein tiefer Staat im Staat wächst, der sich jeder Überwachung entzieht? In einer offenen Gesellschaft muss ein demokratischer Weg existieren, Geheimhaltungsgrade, Geheimhaltungsfristen und verschlossene Dinge zu überprüfen. Es wird Zeit, diesen Weg zu schaffen.
Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
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