Netflix in Deutschland: Durch den Rechtedschungel – und um ihn herum
In Frankreich darf Netflix, wie jeder andere Streamingdienst dort, nur Filme zeigen, die vor mindestens drei Jahren erschienen sind. Ganz so schlimm ist es in Deutschland nicht, wo Netflix vorgestern gestartet ist, einen Tag nach Frankreich. Aber diese Restriktion verdeutlicht die Haltung, mit der die europäische Film- und TV-Industrie den Streaminganbietern im Allgemeinen und dem US-amerikanischen Weltmarktführer Netflix im Speziellen begegnet.
Die Abfolge der Veröffentlichungsfenster im Filmgeschäft
Zunächst muss sich Netflix – wie die schon länger am Markt präsenten Videostreaming-Anbieter iTunes, Maxdome oder Amazon Instant Video – der Abfolge der Veröffentlichungsfenster (Release windows) beugen, die die Filmstudios und TV-Produzenten vorgeben.
Nehmen wir einen handelsüblichen Hollywood-Blockbuster-Film als Beispiel. Der Film erscheint zuerst im Kino. Dann, einige Monate später, erscheint er auf DVD und Blu-ray. Als nächstes kommen Videotheken und mit ihnen ihre Online-Äquivalente an die Reihe: iTunes und das Store-Angebot von Maxdome, zum Beispiel. Erst danach sind die Abonnementdienste von Watchever über Netflix bis Amazon Instant Video an der Reihe.
Ob und wann ein Blockbuster überhaupt auf einem dieser Dienste verfügbar ist, hängt davon ab, welche Verträge zwischen den Streaminganbietern und den Studios, oder allgemein, den Rechteinhabern geschlossen wurden. Es kann sein, dass ein Film kurz nach der Verfügbarkeit in der Videothek auf Netflix landet. Es kann aber auch ein paar Jahre dauern. Oder es passiert gar nicht. Oder er erscheint nur auf Watchever. Oder nur auf Watchever und Amazon. Oder nur auf Amazon.
Auch der Marktführer muss durch den Rechtedschungel
Netflix ist weltweit dominierend im Streamingsektor für Filme und Serien. Aber auch ein global agierender Marktführer muss sich durch die nationalen Rechtedschungel kämpfen. Etwa, um für jedes Land die Streaminglizenzen neu auszuhandeln. Das führt unter anderem dazu, dass die Netflix-Bibliothek in jedem Land anders aussieht.
US-Netflix hat ein anderes Angebot als UK-Netflix und DE-Netflix ist noch einmal anders. Das bedeutet, dass man nicht zugunsten von Netflix auf den Gang in die Videothek verzichten kann. Eine Mischung aus iTunes, Netflix und vielleicht einem oder zwei weiteren Streaminganbietern hingegen mag einer gut sortierten Videothek nahe kommen.
Leicht zu bedienende App, ausfallsicherer Service
Gleichwohl bringt Netflix für seine Nutzer Vorteile mit: Der Dienst hat über die Jahre das eigene Angebot verbessert und kann nun auf Erfahrungswerte als seit Jahren führender Streaminganbieter zurückgreifen. Die Netflix-Apps für Fernseher, Konsolen, Rechner, Tablets und Smartphones sind leicht zu bedienen – und zum Start in Deutschland verfügbar.
Watchever-Kunden, die letztes Jahr versucht haben, die letzten Folgen von Breaking Bad gleich nach der Veröffentlichung über Stream anzuschauen, werden zu schätzen wissen, dass Netflix auch zu Stoßzeiten nicht einfach ausfällt. Der Empfehlungsalgorithmus von Netflix gilt als einer der besten seiner Art. Man kann also festhalten, dass Netflix Klassenbester in einer Kategorie ist – und doch wird von TV-Enthusiasten heute wohl zu viel Hoffnung in den Branchenprimus gesteckt.
Mehr Serien als Filme
Zum Deutschland-Start setzt Netflix, das kann man deutlich sehen, mehr auf Serien als auf Filme. Das ist nicht verwunderlich. Netflix hat auch in den USA in den letzten Jahren den Fokus zunehmend auf den Einkauf von Serien verlagert. Die Gründe sind mehr oder weniger offensichtlich: Serien bieten sich an für den Konsum via Netflix-„Bingewatching“ – dem Schauen vieler Folgen oder ganzer Staffeln hintereinander. Das steigert die Bindung an Netflix, weil man pro Serie mehr Zeit mit Netflix verbringt, als man das pro Film tun würde.
TV-Serien sind auf kreativer Seite in den letzten Jahren in den USA aus dem Schatten der Filme getreten. Die besseren Geschichten werden heute in Serienform erzählt. Während Hollywood immer mehr auf Nummer Sicher bei Filmen zu setzen scheint, wo immerhin hunderte Millionen US-Dollar in zwei Stunden Material fließen, überbieten sich die TV-Sender auf dem hochlukrativen US-Kabelmarkt mit wagemutigen Serienideen. Serien sind also attraktives Material für Netflix und Co.
Eigene Inhalte – eigene Rechte
Damit aber nicht genug. Netflix und Amazon haben begonnen, eigene Serien zu produzieren. Netflix’ „House Of Cards“ hat bereits mehrere Preise in den USA gewonnen. Warum investieren Streaminganbieter in eigene Inhalte? Die Antwort findet man im Anfang dieses Textes: Für selbst produzierte Inhalte müssen die Streaminganbieter keine Rechte aus dem beschriebenen Rechtedschungel heraushandeln, weil sie diesen Rechtedschungel schlicht umgehen.
Eine eigene Netflix-Serie kann in allen Märkten, in denen Netflix aktiv ist, gleichzeitig verfügbar gemacht werden, ohne separat mit den Rechteinhabern zu verhandeln. Eine eigene Netflix-Serie wird künftig – aktuelle Sky-Ausnahmen dahingestellt – nur auf Netflix verfügbar sein. Das gleiche gilt für Amazon-Serien. Mit exklusiven Inhalten wollen sich die Streaming-Anbieter unverzichtbar machen.
Netflix hat angekündigt, dass man auch Serien für Frankreich und für Deutschland produzieren will. Ob das nur Lippenbekenntnisse an die lokalen Märkte sind oder tatsächlich Teil der Internationalisierungsstrategie ist, wird man noch sehen. In Frankreich hat Netflix zumindest mit „Marseille“ bereits eine französische Serie bestellt.
Nicht nur Videothek sondern vor allem Produzent
An dieser Stelle dürfte bereits deutlich werden, wo die Reise hingeht: Netflix und Co. sind nur zum Teil die Nachfolger der Videotheken. Sie sind auch und vor allem die Nachfolger der TV-Sender als Produktionshäuser. Künftig werden wir also nicht mehr überlegen, ob wir den aktuell laufenden Primetime-Film auf Sat.1 oder jenen auf RTL schauen. Wir werden stattdessen entweder Netflix oder Amazon oder Watchever danach anwählen, wo ein Film oder eine Serie nach unserem Geschmack beim jeweiligen Anbieter bereit liegt.
Die Frage ist nicht, ob es so kommen wird. Die Frage lautet stattdessen, wie weit dieses Szenario in der Zukunft liegt. Netflix und Amazon werden aufgrund simpler Skaleneffekte in wenigen Jahren sehr viel mehr Marktanteile haben. Zudem ist damit zu rechnen, dass sie über die nächsten Jahre mit eigenen Inhalten punkten werden. Beides wird dazu beitragen, dass sich die Position der Streaminganbieter bei Lizenzverhandlungen sukzessive verbessert. Amazon und Netflix können mit den US-Produzenten von Serien und Filmen über ganze Pakete verhandeln – welcher deutsche Sender kann schon solche großen und teuren Lizenzbündel für ganz Europa kaufen?
Deutschland ist kein Breitband-Land
Stört nur noch ein kleines Detail: Deutschland ist kein Breitband-Land. In den Metropolen können die Menschen Streamingangebote genießen, auf dem Land haben aber viele selten die Möglichkeit, die empfohlene DSL6000-Anbindung zu erwerben. Es ist im reichen Industrieland Deutschland noch 2014 nicht unüblich, dass Internetverbindungen auf dem Land selbst für Youtube und Skype zu langsam sind. An Watchever und Netflix ist in solchen Fällen erst recht nicht zu denken. Das beschränkt den adressierbaren Markt natürlich erheblich.
Es wird sich zeigen, ob sich irgendwann genug Unmut in der Bevölkerung ansammelt, so dass politisch Abhilfe geschaffen wird. Netflix und Co. könnten hier mittelfristig zum Katalysator werden, weil sie Breitbandanbindungen sehr viel attraktiver machen.
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