Nach dem Kontrollverlust

Als Google 2010 für sein Streetview-Feature mit Kameras ausgestattete Autos durch deutsche Straßen fahren ließ, sorgte das für Aufruhr. Dass die Hausfassade – als begrenzende Außenseite dessen, was bis dahin als Privatsphäre verstanden wurde – im Internet abgebildet werden sollte, ging vielen zu weit. Datenschützerinnen entrüsteten sich, die BILD-Zeitung lancierte eine großangelegte Kampagne, und feuilletonistische Leitartikler geißelten Googles Datensammelwut. Schließlich lenkte das Unternehmen ein und ermöglichte es den deutschen Nutzerinnen, die eigene Hausfassade wieder aus dem Internet ausblenden zu lassen. So viele erzürnte Bürger nutzten diese Möglichkeit, dass Streetview – eine online begehbare Repräsentation vieler Städte – in Deutschland quasi unbenutzbar ist. Statt einer Stadt zeigt das virtuelle Deutschland triste Schluchten aus verschwommenen Anonymisierungsquadraten. In den USA wird seitdem gerne über „Blurmany“ gewitzelt.
Darüber, dass eine Abbildung der Hausfassade als Verletzung der Privatsphäre verstanden wurde, machte sich vor allem das englischsprachige Ausland lustig. Doch die Reaktion der Deutschen lässt sich auch anders erklären. Das Internet und die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche hatte 2010 bereits ein Ausmaß erreicht, das viele Menschen erschreckte. Sich dieser Welt zu verweigern, das eigene Offlinedasein vielleicht sogar mit einem gewissen Stolz vor sich herzutragen, wurde immer schwerer. Wie lässt sich noch mit den Enkeln kommunizieren, wie der Urlaub buchen, wo werden Bücher gekauft, wenn die Buchläden alle dichtmachen? Gibt es für dieses Gefühl – für diese Angst, gleichzeitig belagert zu sein und zurückgelassen zu werden – ein besseres Symbol als das Streetview-Auto von Google? Auf einmal steht das Internet vor der Haustür und macht Fotos.
Google Streetview ist ein sehr später Schritt in dem Prozess der Weltverdatung, der schon lange zuvor in Gang gesetzt wurde. Der argentinische Autor Jorge Luis Borges hatte die Entwicklung ganz undigital vorhergesehen, als er 1960 in seiner Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft“ eine Karte beschrieb, die die ganze Welt im Maßstab eins zu eins abbildet und sie folglich umspannt. Während eine solche Weltkarte in der Virtualität des Digitalen ganz wunderbar mit der echten Welt koexistieren kann, ergibt sie in der Welt des Analogen keinen Sinn. Doch auch Borges bezog sich gedanklich auf frühere Technologien der Weltverdatung: die Medien.
Mit Sprache, Schrift und Buchdruck standen den Menschen immer effizientere Werkzeuge zur Verfügung, um ihre Geschichten zu erzählen und Wissen zu verbreiten: Von „Medien“ wussten die Menschen nichts, eigentlich existierte nur Literatur. Im 19. und 20. Jahrhundert kamen mit Grammophon, Foto und Film technische Medien hinzu, die den Gattungsbegriff „Medien“ erst notwendig machten. Sie verdateten die Welt zum ersten Mal nicht über den Umweg der menschlichen Wahrnehmung, filterten sie – abgesehen von der Entscheidung über den Moment der Aufnahme und der Auswahl des Blickwinkels u.ä. – nicht durch gedankliche Verarbeitung. Wo sie nicht bewusst als Mittel kreativer Interpretation eingesetzt werden, bilden sie stur physische Gegebenheiten ab. Statt Worte oder Pinselstriche speichern sie elektromagnetische Wellen und Schall. Die Welt drückt sich über den Umweg der jeweiligen Wellenform direkt in diesen Medien aus. Erst mit den technischen Medien wurden „die Medien“ überhaupt geschaffen. Wo alles Schrift, Druck und Wort war, brauchte es keinen Medienbegriff, da reichten die Literaturwissenschaften.
„Unser Schreibwerkzeug arbeitet an unseren Gedanken mit“, wusste Friedrich Nietzsche, der am Ende seines Schaffens halbblind anfing, auf einer der ersten Schreibmaschinen seine Texte zu verfassen. Es sollte aber bis in die 1960er-Jahre dauern, bis der Kanadier Marshall McLuhan die erste grundlegende Medientheorie formulierte. Dass Medien die technologische Grundlage unserer Kultur bilden und ihre Beschaffenheit diese Kultur wesentlich beeinflusst, ist eine der vielen Bedeutungen von McLuhans berühmtem Satz: „Das Medium ist die Botschaft“.
Medientheorie bedeutet, den Blick abzuwenden vom Reich der Ideen, das seit Platon als vorherrschendes Kulturparadigma regierte, hin zu den materiellen Grundlagen dieser Ideen: den Techniken des Schreibens, Druckens, Fotografierens und des Speicherns von Daten. Erst bei der Beschäftigung mit „Hardware“ als dem technischen Möglichkeitsraum von Äußerungen, wird deutlich, wie diese Hardware um sich herum Systeme von Narrativen und Strukturen schafft, in deren Gewebe sich alles bewegt, was wir überhaupt denken können.
Der Medienphilosoph Friedrich Kittler hat diese Systeme „Aufschreibesysteme“ genannt und anhand des Einbruchs der technischen Medien in die Gesellschaft analysiert. In seinem Buch „Aufschreibesysteme 1800/1900“ zeigt er, dass sich mit dem Aufkommen der neuen Medientechniken nicht nur die publizistische Landschaft, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen und sogar das Denken selbst verändert haben. Der Begriff des Aufschreibesystems ist für unsere Zwecke zweifach wichtig: Erstens, weil er mehr ist als nur ein Synonym für „Medium“, sondern darüber hinaus das ganze Drumherum umfasst, das ein Medium bei seiner Einführung bewirkt – die kulturellen Praktiken, die Institutionen, die gesellschaftlichen Veränderungen. Die Betonung liegt hier auf „System“. Zweitens – die Betonung liegt nun auf dem „Aufschreiben“ – stellt der Begriff das Speichern, die Verdatung in den Mittelpunkt, um die es uns hier geht.
Die Psychoanalyse zum Beispiel hätte es unter den Bedingungen des „Aufschreibesystems 1800“ – in einer ausschließlich literarischen Kultur – nicht geben können. Im Gegensatz zu den Praktiken der Schriftkultur hat die Psychoanalyse nicht mehr den „Geist“ und die „Bedeutung“ als Gegenstand, sondern das „Gehirn“ und die „Spur“. Sie fragt nicht, was gedacht oder gemeint ist (wie zum Beispiel noch in der Hermeneutik), sondern: „Was geht in der Patientin vor?“ Wie ein Grammophon zeichnet der Analytiker dazu alles auf: jede Silbe, jeden Versprecher, jedes Räuspern, jedes Zaudern, jede sprachliche Fehlleistung. Welche Subroutinen des Unbewussten am Werk sind, wird nicht durch die Interpretation dessen erfahren, was die Kranke sagt, sondern durch genaue Beobachtung all dessen, was unwillkürlich geschieht. Und wo das Aufschreibesystem 1800 noch das erkennende Subjekt am Werk sieht, kann Freud im Aufschreibesystem 1900 feststellen, dass dieses nicht „Herr im eigenen Haus“ ist. Das Durchbrechen des Monopols der Schriftkultur war die notwendige Voraussetzung zur Entthronung einer bestimmten Vorstellung von „Geist“ und „Vernunft“ und damit auch einer bestimmten Vorstellung des Menschen.
Heute stecken wir wieder mitten in einem solchen Medienumbruch. Das Aufschreibesystem 1900 ist immer noch präsent, in einigen Bereichen sogar noch dominant, doch der Einbruch des Computers und des Digitalen bedroht es grundlegend. Wie lässt sich dieser Umbruch beschreiben? Was macht das Aufschreibesystem 2000 aus? Waren die Computer in den Laboren der Universitäten und Unternehmen noch große Rechenungetüme zur Kalkulation komplexer wissenschaftlicher, technischer oder ökonomischer Probleme, verwandelten sie sich Ende der 1970er-Jahre in Medien. Texte konnten auf ihnen gelesen werden, nach und nach zeigten sie auch Grafiken und bald schon Fotos. Als die Prozessoren immer schneller wurden, ließen sich Musik und sonstige Tonaufnahmen auf ihnen abspielen und kurz darauf sogar Videos ansehen. Der Computer begann, das Familienalbum, den Plattenspieler und den Fernseher zu ersetzen. Mit dem Anschluss an das Internet und seinen nicht endenden Strom an Texten, Bildern und Videos ist endgültig das universelle Medium aus ihm geworden. Der Computer macht seitdem, was alle Medien vor ihm auch machten – nur schneller, billiger, einfacher und radikaler.
Diese Eigenschaft digitaler Technologie wird im Marketing „Medienkonvergenz“ genannt. Um zu klären, was das Aufschreibesystem 2000 ausmacht, müssen wir untersuchen, welche Sonderstellung der Computer als medialer Tausendsassa in der Mediengeschichte einnimmt. Ist er überhaupt ein Medium unter anderen? Er scheint sich zunächst Kittlers Medienarchäologie zu entziehen, denn der Blick auf die Hardware scheint zumindest nicht mehr auszureichen. Vielmehr ist es die Software – Bildbetrachtungsprogramme, Webbrowser und Mediaplayer –, die den Computer zu dieser konvergenten Medienmaschine macht.
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Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
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