Menetekel-Journalismus und Recherche-Fibel
Die ersten Seiten von „Vernetzte Gesellschaft – Vernetzte Bedrohungen“ klingen wie schwermütige Moll-Akkorde – bedrohlich, verunsichernd, beängstigend – und sollen den Leser einstimmen auf die nachfolgende Aufführung: Gegeben wird eine klassische Dystopie, das düstere Zukunftsbild einer Gesellschaft, in der die dunkle Seite der Macht gewonnen hat.
Die Titel-Illustration lässt lahmen Rätselseiten-Humor vermuten. Doch das täuscht, denn Joachim Jakobs, Journalist und Datenschutzaktivist, geht von Beginn an humorlos und rasant auf sein Thema los: Der spektakuläre Fall vom Datenklau per USB-Stick mitten im Bundesnachrichtendienst dient ihm als Einstieg und Exempel. Dieser Einzelfall ist seiner Ansicht nur eine von endlos vielen Methoden, mit denen sich Angreifer an Daten zu schaffen machen würden – und immer öfter auch erfolgreich. Und daraus ergibt sich eine wachsende Bedrohung für uns alle.
Jakobs zweite These folgt aus dem Urteil des Kölner Landgerichts von 2013. Dieses hatte verfügt, dass die Adressdaten von Kunden des Streaming-Dienstes Redtube herausgegeben werden durften – und das Anfang 2014 wieder zurückgenommen wurde. Ein Abmahn-Anwalt hatte den Richter des Kölner Landgerichts überlistet, so Jakobs, da letzterer technisch nicht verstanden hatte, was beim Streaming passiert. Jakobs schließt daraus, dass zu viele Menschen in Firmen, Verbänden oder Behörden hinsichtlich Datenverarbeitung, Datensicherung und Datenschutz zu unwissend sind. Es findet ein Klein-Klein an Maßnahmen statt, aber in der Summe hätten bisherige Aktivitäten die Wirtschaft, speziell den Mittelstand, nicht hinreichend sensibilisiert.
Viele Beispielfälle, kaum nähere Beschäftigung
Der Autor lässt einen Reigen an Ereignissen und Vorfällen, an Einschätzungen und Bewertungen, an Prophezeiungen und Projektionen von Fachleuten, Beteiligten oder Besorgten auf den Leser herab prasseln: Datenschutz-Havarien und Sicherheits-Versagen, überkomplexe Sprachsynthese-Systeme, Software für Bilderkennung, biometrische Datenerfassung und -verarbeitung, autonome Überwachungs- und Drohnen-Kameras, mit Sensoren vollgestopfte Sicherheitsroboter, Drohneneinsätze und Drohnenfails und und und.
Wie der Autor seine bemerkenswert umfangreichen Recherchen aneinander reiht, erscheint manchmal etwas willkürlich. Das liegt größtenteils daran, dass er viel zu selten bei einem einzelnen Aspekt verweilt und sich nicht näher mit den einzelnen Beispielfällen, deren Rahmenbedingungen, Entstehungsgeschichten oder anderen Hintergründen beschäftigt.
Beispiel Drohnen und die vielfältigen Dimensionen, die umbemannte, fernlenkbare Fluggeräte aufmachen: Autonome Paketzustellungen werfen andere Fragen zu Sicherheit, Kontrollverlust und Regulierung auf als kamerabewehrte Aufklärungsflüge oder militärische Bombenabwürfe. Doch Jakobs belässt es dabei, aus Einzelvorfällen generelle Gefahren abzuleiten oder heraufzubeschwören.
Man verliert sich in Einzelfällen
Mitunter fransen die Texte aus, weil sie die Eingangsfrage des Kapitels oder des Absatzes nicht aufgreifen. So bleiben die konkreten Zusammenhänge häufig unklar und die Leser vergessen im Sog der Einzelfälle, um was es gerade geht.
Dabei stellt Jakobs immer wieder gute Fragen. Etwa, wenn er berichtet, dass Microsofts Xbox die Gesichter der Spielenden erkennt. Er fragt, wo sind diese Gesichtsfotos gespeichert: im Gerät, auf Microsoft-Servern in Deutschland oder in den USA? Die Antwort bleibt er aber schuldig, denn interessanter erscheinen ihm Negativbeispiele und Besorgnis-Auslöser. Etwa die Spielzeugfiguren eines weltbekannten Herstellers, die online mit der künstlichen Intelligenz von Supercomputern vernetzt sind, damit sie sich wie Gesprächspartner benehmen können – aber sie könnten prinzipiell autonom Daten im Kinderzimmer sammeln, so die Andeutung.
Irgendwann fragt sich der Leser: Wie lange geht das eigentlich noch so weiter im Buch?
Die Antwort lautet: Praktisch bis zum Schluss, immer hintereinander weg. Fall um Fall um Fall, Bericht um Bericht, Andeutung um Andeutung, Prophezeiung um Prophezeiung. Es sind viele punktuelle Informationen, die nach und nach auf die riesengroße Bedrohungsleinwand getupft werden. Journalistischer Pointilismus, leider mit viel dunkelgrauem Unmut und schwarzem Pessimismus und ohne grüne Hoffnung.
Aufschlussreich – leider etwas tendenziös
Gleichwohl leistet Jakobs mit seinem Buch einen Beitrag für die gesellschaftlichen Debatten zu Big Data, Überwachungsstaat und Datensicherheit, zur Verantwortung der Politik und zum Verhalten jedes Einzelnen hinsichtlich computergestützter Datenverarbeitung und vernetzter Kommunikation. Wer will, kann „Vernetzte Gesellschaft. Vernetzte Bedrohungen“ lesen wie einen dicken Recherche-Ordner und selbst weiter recherchieren.
Jakobs beherrscht den vom „Spiegel“ bekannten und kultivierten Stil, Berichte und Meldungen, Einschätzungen und Bewertungen nicht nur flott miteinander zu verbinden, sondern auch einer klaren, oft tendenziösen Ausgangsthese unterzuordnen. Auf diese Weise werden die einzelnen Abschnitte und Kapitel zu Mitteln der Beweisführung. Denn im Grunde steht schon am Anfang fest, dass die beschworene Bedrohung eben nicht nur gefühlt, sondern begründet sei. Anders ausgedrückt: Das Unheil naht, und folgenden Fälle werden dies belegen. Menetekel-Journalismus at its best.
Allerdings konstruiert er häufig Zusammenhänge, die sich eigentlich nicht erschließen. Ein Beispiel: Er berichtet von dem bekannten Fall, als der Paketdienstleister DHL im September 2014 hunderte Mailadressen seiner Kunden veröffentlichte, verursacht angeblich durch einen Softwarefehler, nicht durch einen Hackerangriff, wie auch vermutet wurde. Im selben Atemzug zitiert er eine Meldung aus dem Tagesspiegel von 2011, nach der Kita-Erzieher auf einem Spielplatz hunderte nicht zugestellter Sendungen fanden, um die sich die Post nicht gekümmert hätte. Was das eine aus der digitalen Welt – ob nun Softwareleck oder Datenhack – mit dem anderen aus der analogen Welt – ob nun Vergesslichkeit oder Missmanagement – zu tun haben soll, dazu sagt Jakobs nichts.
Schutzmöglichkeiten und Lösungen
Man könnte sich angesichts dieser vollen Packung Mahnung und Verkündung wünschen, dass der Autor auch mal über Gelungenes berichtet, positive Fälle zitiert, etwa von geglückter Hacker-Abwehr oder wirksam greifenden Sicherheitsmaßnahmen. Jakobs türmt aber lieber Besorgnis erregende Versagens- und Fehlleistungen, Defizite und Versäumnisse auf. Das kann man so machen, aber mitunter bleibt er dabei wichtige Antworten schuldig.
So sagt er beispielsweise nichts dazu, wo die Grenze des galoppierenden Fortschritts bei komplexer und vernetzter Datenverarbeitung liegen soll, an welcher Stelle die Menschen die Datentechnik bremsen oder ruhen lassen oder rückbauen sollten. Derlei übergeordnete, philosophische Fragen klammert er aus und lässt den Leser damit allein.
Im Abschlusskapitel nennt er zumindest Schutzmöglichkeiten und Lösungen für die ganzen besorgniserregenden Datenschutzprobleme: umfassende Sicherheitskonzepte für Unternehmen, sichere Passwörter, freie und offengelegte Hard- und Software, digitale Signaturen und Verschlüsselung. Das alles ist zwar nicht neu und eher kurz beschrieben, aber wenigstens vorhanden.
Üppiger Quellenspeicher
„Vernetzte Gesellschaft. Vernetzte Bedrohungen“ ist vor allem eine ausführliche, aber auch ausufernde Betrachtung von hunderten Fallstudien, an denen deutlich wird, dass unser Umgang mit Computern, Daten und Netzwerken fahrlässig ist. Mit fast 1.000 Quellen, die im Anhang alle einzeln belegt und verlinkt sind, ist es ein beeindruckendes und überwältigendes Werk, eine üppige Recherche-Fibel.
Trotz aller Kritik: Das Buch eignet sich als Quellenspeicher und Nachschlagewerk. Womöglich sollte der Verlag es als „online begehbares Recherche-Archiv“ formatieren, ordentlich verschlagwortet und strukturiert abgelegt, offen und frei nutzbar.
Joachim Jakobs: Vernetzte Gesellschaft – Vernetzte Bedrohungen
E-Book und Print, Cividale Verlag Berlin, 2015, ISBN: 978-3-945219-16-4.
2 Kommentare
1 Joachim Jakobs am 3. Dezember, 2015 um 18:18
Einerseits kritisiert der Rezensent die Fülle der Beispiele, andererseits empfiehlt er das Buch als Quellenspeicher. Das scheint mir ein Widerspruch in sich zu sein.
2 Henry Steinhau am 3. Dezember, 2015 um 18:39
@Joachim Jakobs: Nein, kein Widerspruch. Ich bemängele an der Aneinanderreihung der vielen Beispiele, dass diese häufig nicht tiefer reflektiert und oft auch nicht den Eingangsfragen eines Kapitels/Abschnitts inhaltlich zugeordnet werden. Leser, die Aufklärung über Zusammenhänge erwarten, werden oft allein gelassen mit der Zuordnung oder Hinführung zum Übergeordneten. Doch Leser, die „nur“ nach Fällen und Quellen suchen, finden hier viel Ausgangsmaterial.
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