Mario Purkathofer: „Wir zelebrieren eine Kultur des Remix“
Dominik Landwehr: Sie haben eine eigene Ausgabe des Buches „Der Mann ohne Eigenschaften“ des 1942 verstorbenen Robert Musil gemacht, indem Sie das Werk in Spiegelschrift setzten. Was war die Idee hinter dieser Bearbeitung?
Mario Purkathofer: Gemeinsam mit Manuel Schmalstieg von Greyscale Press haben wir den ersten Teil des Romans neu ediert und in einer Kleinauflage gedruckt. Auch der Titel des Buches ist in Spiegelschrift gesetzt. Da vermutet der Leser schon, dass etwas nicht stimmt; das wird dann bestätigt, wenn er das Buch öffnet.
„Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist ja eine hautnahe Beschreibung der Zeit des damaligen Kaiserreichs und der psychologischen Befindlichkeiten der Bewohner. Der erste Teil des Werks wurde von Musil auch abgeschlossen, während der zweite nur als Fragment vorliegt: Musil ist noch vor der Fertigstellung in Genf gestorben. Zum Buch gibt es jeweils einen Spiegel, das ist eine verblüffende Lesemaschine. Der zweite Teil des Werks wird von uns als Fragment auf einem USB-Stick mit acht Gigabyte beigelegt.
Dominik Landwehr: Damit sind Sie in die Rolle des Verlegers geschlüpft.
Mario Purkathofer: Natürlich kann man als literarischer Laie nur alles falsch machen, wenn man sich das Recht herausnimmt, Weltliteratur neu zu verlegen. Diese Angst haben wir jedoch gleich zu Beginn abgelegt. Villö Huszai hat unsere überarbeitung im Vorwort als Skulptur bezeichnet. So ist die Bearbeitung auch zu verstehen: eine Skulptur aus Papier in Kleinstauflage mit Typografie, Spiegel und Datenträger.
Mithilfe kostenloser und freier Desktop-Publishing-Programme sowie preiswerter Print-on-Demand-Dienste ist die Herstellung von Büchern heute für jedermann möglich geworden. Musils Werk durch Spiegelung auf den Kopf zu stellen, hat einfach sehr viel Spaß gemacht. Spiegel und Spiegelschrift sind simple Werkzeuge, den Leseprozess zu verlangsamen. So sehen wir uns bei diesem Werk eher als Bildhauer, Typografen und Medienproduzenten denn als klassische Verleger. Zeitgenössische Künstler sind heute tendenziell wandlungsfähig, sie arbeiten immer mit einer Vielzahl von Technologien.
Dominik Landwehr: Woher rührt Ihre Faszination und Ihr Engagement für Public Domain?
Mario Purkathofer: Historische Werke egal welchen Genres zu entdecken, zu remixen, zu publizieren und damit in Verbindung zur Gegenwart zu bringen, ist eine spannende Herausforderung. Wer kennt schon Yamauchi Fusajiro († 1940)? Die Firma, die er gegründet hat, sagt einem schon mehr: Nintendo, heute ein großer Hersteller von Computergames. Zu jener Zeit verkaufte Nintendo noch Spielkarten, sogenannte Hanafuda. Wer weiß schon, dass Walter Benjamin († 1940) das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee († 1940) selbst gekauft hat? Walter Benjamin nutzte den „Angelus Novus“ zu vielschichtigen Reflexionen und Denkbildern.
Oder die Mystiker jener Zeit wie etwa Elisär von Kupffer († 1942): Er gilt als Erfinder der Tarotkarten und verfasste reaktionäre homoerotische Texte. Wie viele andere Künstler jener Zeit gründete er auch eine eigene Kommune. Christa Winsloes († 1944) Roman „Das Mädchen Manuel“› diente als Grundlage für zahlreiche Verfilmungen. Die erste Kussszene zwischen zwei Frauen kommt darin vor. Ben Turpin († 1940) hat als Mr. Flip zum ersten Mal eine Tortenschlacht filmisch inszeniert. So schreiben wir gleichzeitig eine interdisziplinäre Kulturgeschichte des Films, der Malerei, der Literatur, der Fotografie und der Skulptur. Ob die Werke dann tatsächlich frei sind, ist zumindest für mich sekundär.
Dominik Landwehr: Sie wollen die Werke ja nicht einfach zeigen, sondern neu interpretieren.
Mario Purkathofer: Wir möchten neue Interpretations- und Lesarten ausprobieren. Es geht uns um die Frage, wie Texte, Bilder und Noten mit zeitgenössischen Medien neu aufgeführt oder gelesen werden können. Klassische Interpretationen interessieren uns dabei nur beschränkt. Die Ausführung eines Programms prozessiert die Daten. Wir sprechen hier von Prozessierungen und Ausführungen (englisch execution).
Dominik Landwehr: Sie stecken seit 2009 viel Energie in diese Arbeit. In dieser Zeit haben Sie auch ein Vorgehen entwickelt.
Mario Purkathofer: Ja, wir arbeiten grundsätzlich in vier Schritten: Recherche, Digitalisierung, Prozessierung und Kontextualisierung. Die Recherche ist immer eine Art Zeitreise. Dazu betrachten wir ein Zeitfenster, in der Regel ein einziges Jahr, und klären, wer in diesem Jahr gestorben ist. Uns interessieren also nicht die Werke von Bach oder Goethe. Wir suchen nach Werken, deren Autoren vor exakt 70 Jahren gestorben sind. In einem solchen Jahr versammelt sich auf diese Weise oft eine eigenartige Mischung von Menschen aus verschiedenen Generationen. Manche Künstler starben jung, andere hingegen wurden steinalt. Trotzdem sind sie zur selben Zeit gestorben, und damit ist ihre Gemeinfreiheit 70 Jahre danach definiert.
Dann ändern sich natürlich auch die Medien der Kunst: Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Film und Fotografie immer wichtiger. Eine Vertreterin davon ist die Fotografin Yva († 1942). Die Nazis haben sie im Vernichtungslager Sobibor in Polen ermordet. Der Künstler Søren Berner hat ihre Fotografien 2013 unter dem Titel „Yva – The unknown“ in Siebdruck übersetzt. Der Filmpionier Georges Méliès (†1938) starb einige Jahre früher: Die Künstlerin Effi Tanner hat 2013 mit Ausschnitten seiner Werke einen interaktiven Videomischer entwickelt. Dazu hat sie ein Akkordeon aus dem Nachlass ihres Großvaters eingesetzt, um damit Filmsamples abzuspielen.
Ein gutes Beispiel, wie man Filmmaterial heute neu visualisieren kann: jede Taste ist ein anderes Sample. Der Spieler erzeugt seinen eigenen Film, interessante Stellen können immer wieder angeschaut werden. Der Benutzer bleibt nicht mehr nur Zuseher, sondern wird aktiver Spieler.
Dominik Landwehr: Wie gehen Sie bei dieser Recherche vor?
Mario Purkathofer: Zuerst suchen wir nach Todesdaten in Wikipedia und diversen regionalen Onlinekatalogen. Mit Wikimedia, den Betreibern der Wikipedia, sind wir ebenfalls in direktem Austausch. Pro Jahr entdecken wir so einige hundert Namen, die potenzielle Urheber sein könnten. Wir gehen immer davon aus, dass wahrscheinlich neunzig Prozent der Künstlerinnen und Künstler einer Generation ohnehin vergessen werden.
Im nächsten Schritt unserer persönlichen Geschichtsforschung suchen wir nach originalen Werken und Publikationen, und darüber hinaus nach digitalisierten Werken, sogenannten Digitalisaten. Aber die historischen Werke findet man oft in Bibliotheken. Da muss man dann selbst hingehen. Vieles ist noch lange nicht digitalisiert. Digitalisate findet man im Netz zum Beispiel bei Internet Archive oder Project Gutenberg sowie in Museen und über Stiftungen oder private Sammlerinnen.
Dominik Landwehr: Danach kommt die Digitalisierung.
Mario Purkathofer: Wir stützen uns vielfach auf bereits digitalisierte Quellen. In einzelnen Fällen erstellen wir aber auch eigene Digitalisate. Das war zum Beispiel beim Zürcher Maler und Bildhauer Hans Hippele († 1942) der Fall. Um ein Werk des avantgardistischen französischen Malers Robert Delaunay (†1941) zu digitalisieren, sind wir einfach ins Zürcher Kunsthaus und haben das Werk dort fotografiert.
„Wenn wir ein Werk in die Hand bekommen, das laut Urheberrecht frei ist, publizieren wir es auch ohne Einverständnis des Eigentümers“
Seit Langem hatten wir die Idee, hochauflösende Bilder von Werken zu machen, die heute im Museum hängen. Google hat das vor einigen Jahren mit dem Google Art Project begonnen. Gewisse Museen wie das Rijksmuseum Amsterdam bieten ja heute bereits riesige Mengen von digitalisierten Bildern in hoher Auflösung an. Ich glaube, darin steckt noch großes Potenzial für Museen und Stiftungen.
So haben wir auch das Zentrum Paul Klee in Bern besucht. Leider war es nicht möglich, ein Bild in einer hochaufgelösten digitalen Version zu erhalten. Auch Fotografien sind aus verschiedensten Gründen nicht erlaubt. Begründet wurde das zum Beispiel mit dem Bau, der urheberrechtlich geschützt sei. Das Zentrum Paul Klee in Bern wurde vom Architekten Renzo Piano geschaffen und 2005 eröffnet.
Wenn wir allerdings ein Werk in die Hand bekommen, das laut Urheberrecht frei ist, publizieren wir es auch ohne Einverständnis des Eigentümers. Der Eigentümer muss dann erst beweisen, dass er nach wie vor das Werk unter Verschluss halten muss. Das ist zu Recht nicht einfach!
Dominik Landwehr: Im dritten Schritt bearbeiten Sie die Daten.
Mario Purkathofer: Uns interessiert dabei nicht die wahrheitsgetreue Aufführung oder die perfekte Interpretation. Wir suchen nach neuen Formen des Lesens, Hörens und Kontextualisierens. Dazu laden wir Künstler, Kreative und Programmier ein, Visualisierungs-, Lese- und Kontextualisierungsmaschinen zu entwickeln oder neue Gestaltungsstrategien anzuwenden.
Dabei muss man natürlich unterscheiden zwischen Werken, die explizit zur Aufführung konzipiert wurden – wie Kompositionen oder Theaterstücke – und Originalen der bildenden Künste wie Malereien oder Skulpturen, aber auch zwischen neueren Medien wie Fotografie und Film. Eine Partitur ist etwas anderes als ein Roman: Den Roman kann man lesen, die Partitur muss man zuerst spielen lassen, bevor das notierte Werk hörbar wird.
Diese Rückschlüsse kann man auch auf die aktuelle Urheberrechtsdiskussion anwenden. Hier wird grundsätzlich viel zu selten unterschieden, um welche Formate es sich handelt. Eine Skulptur ist kein Musikstück. Eine Malerin von Ölgemälden hat andere Probleme als der Programmierer einer App. Wir haben es heute mit einer unglaublichen Bandbreite an kulturellen oder künstlerischen Formaten zu tun, die es zu unterscheiden gilt.
„Ein Werk ist immer auch ein Speicher, in den man Geschichten hineininterpretieren kann“
Digitalisierung bedeutet zuerst einmal die Auflösung des Werks: Ein Text, ein Bild oder ein Film wird in digitale Informationen (Bits) aufgelöst und dann vom Rechner neu zusammengesetzt. Als Beispiel kann dazu ein sitzender Akt von Hans Hippele dienen. Hier haben wir mitgeholfen, eine Skulptur dreidimensional zu dokumentieren und mit einem 3D-Drucker eine Kopie zu machen.
Ein anderes Beispiel ist das „Dachaulied“ von Jura Soyfer († 1939). Wir haben das berühmte Lied des im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten Autors als Karaokestück zum Mitsingen aufgeführt, untermalt mit Technomusik. Das ist schon unter die Haut gegangen. Für solche Aktionen braucht es nicht nur digitale Werkzeuge. Die Wiener Jura-Soyfer-Gesellschaft, die sich um seine Werke kümmert, hat uns der Entartung der Kunst bezichtigt. Das ist schon ein harter Angriff. Haben ermordete Künstler das Recht, länger geschützt zu bleiben? Wir haben mit unserer Interpretation Geschichte geschrieben, aber meiner Meinung nach nicht das Werk aus dem Kontext der Geschichte gerissen. Das kann man ja gar nicht. Man kann nur neue Geschichten hinzuerfinden.
Ein Werk ist immer auch ein Speicher, in den man Geschichten hineininterpretieren kann und der sich dadurch auch verändert. Wir versuchen, neue Formate zu denken. Die genannten Beispiele zeugen von möglichen Nutzungs- und Vermittlungsformen, die gleichzeitig das Werk in einen ganz neuen Kontext stellen. Neubearbeitungen entstehen dabei immer in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern oder Technikern.
Bei James Joyce sind wir noch weiter gegangen: Wir haben den gesamten „Ulysses“ von einem Computerprogramm übersetzen und dann von einer Computerstimme lesen lassen. Danach haben wir sämtliche der fünfhundert Namen im Text durch Namen unserer Facebook-Freunde ersetzt. Schließlich wurden die Daten an 24 Musikerinnen und Musiker geschickt. So entstand eine neue Vertonung in Form eines 24-stündigen Hörspiels.
Dominik Landwehr: Der vierte Schritt ist dann die Vermittlung Ihrer Werke.
Mario Purkathofer: Wir möchten mit diesen Werken ja ein neues Publikum finden. Wir möchten, dass auch unser Publikum unsere Werkzeuge benutzt. Ich würde gerne ein ganzes Museum von Lese- und Kontextualisierungsmaschinen initiieren. Public-Domain-Inhalte sind ja nur mögliche Daten, die damit gelesen werden können.
„Wir brauchen hochaufgelöste Daten“
Tatsächlich gibt es aber nur wenig oder sehr spezialisiertes Publikum für 3D-Modelle, Bücher in Spiegelschrift, experimentelle Apps und Filmvertonungen. In einigen Jahren werden unsere Vermittlungskonzepte aber Standard sein. Museen, Verwertungsgesellschaften und das Publikum selbst werden das erkennen.
Dominik Landwehr: Mir fällt auf, dass nur wenige Museen und Kulturinstitutionen Werke in hoher Auflösung anbieten, auch wenn das eigentlich erlaubt wäre.
Mario Purkathofer: Oft kriegen wir die Daten von den verantwortlichen Stiftungen, Sammlungen oder Bibliotheken nicht. Stattdessen bietet man uns Reproduktionen in tiefer Auflösung an. Das geht natürlich nicht. Wir brauchen hoch aufgelöste Daten. Gute Digitalisate oder Kopien haben eine ganz neue Ästhetik. Möglichst hohe Auflösungen von Bildern oder Aufnahmen von Musikstücken sind sehr rar.
Im Textbereich ist es natürlich einfacher: Textscans können heute schon sehr gut in rohen Text übersetzt werden, die Fehlerquote ist gering. Stiftungen möchten die Verbreitung ihrer Werke oftmals selbst kontrollieren und vermeiden es dabei, ihre digitalisierten Werke öffentlich zu machen. Die Verwalter der Werke möchten einerseits hohe Publizität, versuchen unkontrollierte Publikationen aber zu verhindern. Dies ist auch eine Auswirkung der Verunsicherung der Menschen durch Urheberrechtsanwälte und diverse Kampagnen gegen Datenpiraterie.
Dominik Landwehr: Sie zerlegen ja die Werke, das dürfte auch nicht immer auf Gegenliebe stoßen.
Mario Purkathofer: Der Schweizer Maler Fritz Baumann († 1942) tat alles, um sein Werk vor der Nachwelt zu schützen. Baumann kippte vor seinem Suizid einen beachtlichen Teil seines Gesamtwerks in den Rhein. Sarkastisch könnte man sagen, das ist die beste Variante, sein Werk vor illegalen Kopien oder Weiterbearbeitung zu schützen. Alle anderen, die glauben, dass ihr Werk irgendwann vielleicht doch noch wichtig oder rentabel wird, sollten sich schon zu Lebzeiten überlegen, was mit ihrem Werk nach ihrem Tod passieren soll.
„Die Welt vor siebzig Jahren war viel moderner, als ich es je geglaubt hätte“
Wenn man nicht gerade einen Sammler zur Hand hat, tut man vielleicht gut daran, sein Werk unter eine freie Lizenz zu stellen und so unter die Leute zu bringen. Zu diesem Zweck haben wir auch eine Public-Domain-Spenderkarte entwickelt, die man wie einen Organspenderausweis in seiner Tasche trägt. So wissen die Nachfahren, wie mit dem verbliebenen Gesamtwerk umzugehen ist. Natürlich ist das mitunter satirisch gemeint und thematisiert die Hysterie rund um das geistige Eigentum.
Dominik Landwehr: Auf der anderen Seite müssen Sie auch Künstler dafür gewinnen, mit diesen Werken zu arbeiten. Auch hier muss Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Mario Purkathofer: Die heutige Freizeit- und Kreativgesellschaft steckt diesbezüglich in einer seltsamen Situation: Es war noch nie so einfach wie heute, bestehende Werke zu bearbeiten. Andererseits haben wir ein sehr restriktives Urheberrecht, welches genau das verhindert. Deshalb schrecken viele davor zurück, mit einem bereits vorhandenen Werk zu arbeiten.
Viele Künstler finden es zudem deprimierend oder rückwärtsgewandt, sich mit den Werken verstorbener Autoren zu befassen. Das verstehe ich auch, weil es ja genügend Themen in der Gegenwart selbst gibt. Auf der anderen Seite erkennt man eben in der Beschäftigung mit der Vergangenheit, dass alles zusammenhängt. Die Welt vor siebzig Jahren war zum Beispiel viel moderner, als ich es je geglaubt hätte. Für mich war Kunstgeschichte immer eine Disziplin mit einem Anfang und einem Ende. Während das Ende der Malerei proklamiert wurde, hatte der Film gerade erst begonnen, wichtig zu werden.
Für mich ist das der normale Lauf der Dinge. Ein Großteil der Kulturproduktion damals wie heute wird vergessen. Der Rest sind die Hits, die Bestseller, die sich oft nur durch sehr wenig von den vergessenen Dingen unterscheiden. Mit der Wiederbelebung vergangener Dinge zelebrieren wir eine Kultur des Remix. Natürlich könnten wir in derselben Zeit genauso viele eigene Ideen auf den Markt werfen. Künstler eignen sich immer eine Technik an und perfektionieren diese. Es geht immer um Technologie. Selbst die Dadaisten haben neue Formate entwickelt – Collage, Lautgedichte, Readymades – und waren somit auch die ersten Remixkünstler. Heute würde kein Mensch sagen, dass das keine Eigenleistung gewesen wäre.
Wir möchten die Rolle des Künstlers als Produzent von neuen Tools und Werkzeugen hervorstreichen, aber nicht darauf reduzieren. Ich würde niemals die Rolle eines Künstlers definieren wollen, habe aber oft bemerkt, dass in vielen zeitgenössischen Werken gerade die Technologie eine Herausforderung für den Künstler darstellt. Eine eigene Technik zu entwickeln, eine eigene Kunstform, selbstständige und neue Träger für Ideen, Wissen und Emotionen. So laden wir Künstler oder beispielsweise Elektroniker ein, ihre Technologien auf Werke der Public Domain anzuwenden.
Dominik Landwehr: Haben Sie dazu ein Beispiel?
Mario Purkathofer: Wir waren weltweit unter den ersten, die eine historische Skulptur mithilfe von 3D-Druckern reproduziert haben. Mit dem Fablab Zürich haben wir einen professionellen Partner gefunden. Fablabs gibt es auf der ganzen Welt, und in ihrem Umfeld finden sich heute viele Künstlerinnen und Künstler. 3D-Drucker und -Scanner sind zeitgenössische Reproduktionstechnologien, die relativ einfach zugänglich geworden sind und mittlerweile auch an den Kunsthochschulen verfügbar sind. 3D-Techniken und -Drucke werden in den kommenden Jahren auch auf dem Kunstmarkt auftauchen.
Wir suchten nach einer geeigneten Skulptur und fanden den Frauenakt „Nach dem Bade“ des Zürcher Bildhauers Hans Hippele. Wir haben das Werk digitalisiert, also eingescannt, und dann ein erstes Mal in Originalgröße ausgedruckt. Danach wurden die Daten bearbeitet und neue Versionen der Skulptur produziert – in verschiedenen Farb- und Formvarianten. So wurde zum Beispiel die Auflösung verändert: Aus runden Formen wurden kleine Ecken und Kanten. Es entstand eine kleine Serie von Badenden. Das 3D-Modell wurde für weitere Bearbeitungen öffentlich zur Verfügung gestellt.
Dominik Landwehr: Robert Katscher († 1942) ist ein weiterer Künstler, der für Sie wichtig ist: ein österreichischer Schlagerkomponist, der später in Hollywood Filmmusik geschrieben hat.
Mario Purkathofer: Von Robert Katscher haben wir durch das Public Domain Project eine Originalaufnahme auf Schellack von „Madonna, du bist schöner als der Sonnenschein“ erhalten. Den Song gibt es in verschiedenen Versionen und Interpretationen. Der Musiker und Bandleader Paul Whiteman († 1967) hat den Song später unter dem Titel „When Day is Done“ aufgenommen und damit in den 1940er-Jahren einen Riesenerfolg in den USA erzielt.
In den 1990er-Jahren wurde der Song in Filmen von Woody Allen eingesetzt. Für unsere Version von „Madonna, du bist schöner als der Sonnenschein“ hat der Zürcher Künstler Claudio Zopfi eine App für Smartphones geschrieben, die es erlaubt, das Stück auf Basis von Samples neu zu spielen und zusammenzusetzen.
Dominik Landwehr: Sie sind ja selbst nicht nur Vermittler, sondern auch Künstler. Was für ein Verhältnis haben Sie zu Ihren eigenen Werken? – Dürfen diese ebenfalls neu interpretiert werden?
Mario Purkathofer: Da ich ja verschiedene Kunstformen studiert habe, empfinde ich mich selbst auch als Künstler. Dabei finde ich es aber nicht nötig, meinen Namen auf einem Werk zu sehen. Die meisten Produktionen publiziere ich unter Pseudonymen, arbeite in kollaborativen Projekten mit – beispielsweise „Überschüsse in die Nacht“ – oder berate andere Künstler. Durch meine Ausbildung als Künstler kann ich mich da sehr gut hineinfühlen. Mit der Vernichtung meines Werks durch das einfache Vergessen kann ich ganz gut leben.
Ist ein Künstler allerdings gezwungen, von seiner Arbeit zu leben, wendet sich das Blatt sehr schnell. Das Urheberrecht dient ja dazu, verschiedene Rechte des Künstlers zu schützen. Das Recht auf ein geregeltes Einkommen sollte aber nicht durch das Urheberrecht definiert werden, sondern unabhängig vom Werk sein. Statistisch gesehen verdienen nur sehr wenige Künstler durch das Urheberrecht, und noch seltener bleibt etwas für die Urenkel bis 70 Jahre nachdem Tod übrig. Streng genommen muss man sich fragen, was die Urahnen damit zu tun haben sollen?
Dominik Landwehr: In diesem Interview sind nur die Todesdaten der Künstler aufgeführt, nicht aber die Geburtsdaten. Warum?
Mario Purkathofer: Ich selbst habe mir angewöhnt, die Kunstgeschichte nicht in Lebenszeiträume einzuteilen, sondern den Tod des Künstlers und die Todesgeschichte zu betrachten. Auch unsere Datensammlung ist nach Todesdaten organisiert. Die Umstände des Todes geben Aufschluss über das Leben. Für die eigene Geburt ist man nicht selbst verantwortlich. Sie ist in keiner Weise eine Eigenleistung, man wird hinausgeworfen in die Welt. Der Tod hingegen wird sehr viel bewusster erlebt.
Darüber hinaus ist laut geltendem Urheberrecht für die Umwandlung eines Werks in öffentliches Eigentum per definitionem einzig der Todeszeitpunkt entscheidend. Dieser Absurdität komme ich hiermit gerne entgegen.
Das Interview ist zuerst in dem von Dominik Landwehr und Migros Kulturprozent herausgegebenen Band „Public Domain“ erschienen (Christoph Merian Verlag, Oktober 2015). Wir veröffentlichen es hier mit freundlicher Genehmigung. Der Band ist als Buch und DRM-freies E‑Book erhältlich.
Tipp: Am 27. November findet in Berlin eine Vernissage zum Buch statt, ab 16 Uhr in der Buchhandlung „Do you read me?“ sowie im Laden Buchhholzberlin.
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