Lambert Heller: „Wie frei soll das Betriebssystem der Wissenschaft sein?“
iRights.info: Die Macher der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Lingua“ haben sich in einem gemeinsamen Schritt vom Elsevier-Verlag verabschiedet. Wie bewerten Sie den Schritt?
Lambert Heller: Was wir aktuell bei „Lingua“ sehen, ist ein ermutigendes Beispiel. Die Herausgeber und ein komplettes Editorial Board, also die wahren Macher und Produzenten einer Fachzeitschrift, haben Elsevier vor die Alternative gestellt, ein reines Open-Access-Journal unter ihrer Kontrolle zu werden oder komplett von Bord zu gehen. Genau dieser Fall ist nun eingetreten. Sie wollen nun an anderer Stelle ein neues Journal namens „Glossa” gründen, das ein Open-Access-Journal sein wird.
Die Geschichte von „Lingua“, die sich in den letzten Wochen vor unseren Augen abgespielt hat, ist besonders interessant, weil es weltweit heute rund 10.000 wissenschaftliche Journals gibt, die unter Open-Access-Bedingungen operieren. Wenn ich Open Access publiziere, also meine Ergebnisse frei zugänglich mache, kann ich ebenfalls Anerkennung in der Wissenschaft sammeln. Dennoch gibt es immer noch viele sehr etablierte Verlagsmarken, die ein Geschäftsmodell verfolgen, das sich grundsätzlich mit Open Access beißt, selbst wenn Elsevier – einer der größten Wissenschaftsverlage weltweit – inzwischen Zugeständnisse machen muss und gelegentlich Open Access unter für die Autoren ungünstigen Bedingungen zulässt.
Open Access
bezeichnet den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen. Open-Access-Literatur im engeren Sinn ist online kostenfrei zugänglich und unter offenen Lizenzen veröffentlicht, die die weitere Nutzung erleichtern. Es gibt mehrere Ansätze: Anderswo veröffentlichte Publikationen können online zugänglich gemacht werden („Green Road“) oder in eigenen Open-Access-Zeitschriften erscheinen („Golden Road“). Beim Diamond-Open-Access-Modell fallen weder für Autor*innen noch Leser*innen Gebühren an; finanziert wird die Publikationsinfrastruktur hier von wissenschaftlichen Einrichtungen oder Wissenschaftsverbänden. In Deutschland gilt seit 2014 unter bestimmten Voraussetzungen ein Zweitveröffentlichungsrecht für Wissenschaftler*innen.
iRights.info: Die Entscheidung, wo Wissenschaftler publizieren, hängt häufig stark vom Impact Factor ab, einer Kennzahl, die den Einfluss einer wissenschaftlichen Publikation messen soll. Auch ein neu gegründetes Journal der „Lingua“-Macher steht vor diesem Problem.
Lambert Heller: Open Access und Impact Factor sind zunächst unterschiedliche Dinge. Als Biologe beispielsweise kann ich in einem reinen Open-Access-Journal mit hohem Impact Factor veröffentlichen; das verträgt sich augenscheinlich.
Dennoch verkörpert der Impact Factor ein Publizieren, das sich weitgehend von der Idee gelöst hat, Ergebnisse zu verbreiten, zugänglich zu machen und zur weiteren Arbeit damit anzuregen. Über die Nützlichkeit von Forschung sagt der Impact Factor überhaupt nichts mehr aus. Wenn man sich die von vielen Wissenschaftseinrichtungen und Forschern unterzeichnete „San Francisco Declaration on Research Assessment“ ansieht, dann sieht man, dass dies zu einer großen Sorge in der gesamtem Wissenschaft geworden ist. Vielerorts werden immer noch Entscheidungen über Berufungen, Mittelvergabe und ähnliche Dinge an dieses völlig unsinnige Kriterium gekoppelt.
Dabei erlaubt der Impact Factor eines Publikationsortes überhaupt keine Aussage darüber, wieviel Neues und Interessantes in einer Veröffentlichung steckt. Es ist geradezu verwunderlich, wie Wissenschaftler, deren eigene Forschung doch auf Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit beruht, bereit sind, sich von einer Zahl regieren zu lassen, die auf eine intransparente Weise zustande kommt und über die Bedeutung einer Forschung nichts aussagt.
Viele junge Nachwuchswissenschaftler haben das Gefühl, in einen unglaublich angeheizten Wettkampf „Jeder gegen jeden“ geworfen zu sein. Dadurch denkt man immer mit, wie die eigene Bibliographie aussehen muss, damit man später eine akademische Karriere oder Drittmittel erhält. Es ist tatsächlich etwas an diesem Gefühl dran, weil immer noch eine Kultur des Publizierens vorherrscht, die ihre Grundlagen in Printpublikationen bei Verlagsmarken des 20. Jahrhunderts hat.
Nach und nach merkt man jedoch an bestimmten Ecken, wie neue Sachen ausprobiert werden. Wer Interesse am eigenen Gegenstand hat, das öffentlich verfügbare Wissen darüber vorantreiben möchte und diesen Mechanismen des Anerkennungswettbewerbs unterworfen ist, befindet sich aktuell in einer komplizierten Situation.
iRights.info: Was wäre eine Alternative zum vorherrschenden Modell des Impact Factors?
Lambert Heller: Wenn man der „San Francisco Declaration on Research Assessment“ folgt, kann die Alternative nicht darin bestehen, eine andere Zahl zu finden, mit der man alles miteinander vergleichbar machen möchte – mit der Betonung auf eine und auf Zahl. Gerade diese Fixierung auf absolute Vergleichbarkeit bei der Beurteilung von Forschung ist das Problem. Das erfordert einen kulturellen Wandel, der sich mit Open Access eventuell stimulieren, aber nicht allein erreichen lässt. Dieser Wandel setzt generell ein Umdenken voraus.
iRights.info: Welche Rolle werden Verlage wie Elsevier in Zukunft in der Wissenschaft Ihrer Ansicht nach spielen?
Lambert Heller: Verlage wie Elsevier und ihre Aktieninhaber werden die Macht, die in ihren überkommenen Verlagsmarken steht, solange ausschöpfen, wie sie können. So funktioniert ein solches Geschäft.
Viel bedenklicher jedoch ist, dass Elsevier schlau genug ist, das Phänomen erkannt zu haben. Auf Konferenzen wird offen darüber gesprochen, dass man in Zukunft zu so etwas wie dem Betriebssystem der digitalen Wissenschaft werden möchte. Das zeigt sich, wenn Start-up-Unternehmen wie der Literaturverwaltungdienst Mendeley oder Forschungsinformationssysteme wie Pure aufgekauft werden.
Und Elsevier hat mit dieser Einschätzung durchaus Recht: Die Zukunft wird nicht mehr im klassischen Journal-Geschäft bestehen, also darin, den Zugang zu wissenschaftlichen Inhalten künstlich zu beschränken und anschließend Subskriptionen zu verkaufen. Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wie frei soll ein solches Betriebssystem der Wissenschaft sein? Soll die Marke Elsevier es bespielen oder benötigen wir andere Player und Plattformen dafür?
iRights.info: Was würde ein Betriebssystem Marke Elsevier von anderen Ansätzen unterscheiden?
Lambert Heller: Zunächst muss man sagen, dass beispielsweise die Start-ups, die von Firmen wie Elsevier nun aufgekauft werden, durchaus nützliche und neue Elemente in die digitale Informationslandschaft einbringen. Ich will ein Beispiel nennen: Plattformen wie Researchgate oder Academia.edu haben Zulauf von Millionen Forschern, weil sie auf dem Gedanken basieren: Ich möchte ein Status-Update in Echtzeit von Kolleginnen, Kollegen und Mit-Forschenden haben – so wie ich es von Linkedin oder Facebook kenne. Dieses Bedürfnis wird von den Plattformen aufgegriffen, das ist sehr gut.
Die Frage ist nur: Ist es die Lösung, dass ich einer Firma wie Researchgate all meine Daten schenke? Wenn ich mir deren Geschäftsbedingungen durchlese, tue ich genau das, wenn ich ein Paper dort hochlade. Ist das eine nachhaltige Lösung? Hier gilt es zu fragen, ob bei einer solchen Lösung die digitale Allmende, die zurzeit entsteht, von vielfältigen Playern mitgestaltet werden kann oder ob ein geschlossenes Silo entsteht.
iRights.info: Universitäten betreiben bereits eigene digitale Repositorien, auf denen Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse ablegen und zugänglich machen. Welche Rolle spielen sie, wenn man sich ein alternatives Betriebssystem der Wissenschaft vorstellt?
Lambert Heller: Da möchte ich zunächst eine Lanze für das Modell des Repositoriums brechen, das seine Stärken hat. Die ursprüngliche Idee dahinter ist ja, dass Universitäten und Bibliotheken es zu ihrer eigenen Aufgabe machen, die Ergebnisse, die bei ihnen entstehen, zugänglich zu machen und sich dabei auf bestimmte Standards einigen. Beispielsweise durch Open-Access-Lizenzierung oder technische Schnittstellen, die es ermöglichen, diese Inhalte einmal ins Netz zu stellen und dann an vielen Orten und in vielen Kontexten nachnutzbar zu machen.
Allerdings merkt man, dass die vielen verstreuten Repositorien dem Impuls, den innovative Firmen wie Mendeley, Researchgate oder Academia.edu gebracht haben, nicht so hinterherkommen, wie es wünschenswert wäre. Wir müssen einen ganzheitlichen Blick auf die Wissenschaftslandschaft entwickeln und verstehen, was da passiert. Was benötigen die Forschenden, wo entsteht ein zusätzlicher Nutzen?
iRights.info: Außerhalb der Wissenschaftseinrichtungen sind viele kollaborative Plattformen entstanden, etwa die zahlreichen Schwesterprojekte der Wikipedia. Sie sehen darin ein Vorbild. Warum?
Lambert Heller: Ein ganz inspirierendes Beispiel ist Wikisource, wo seit vielen Jahren interessierte Menschen gemeinfreie Digitalisate sammeln, beschreiben und beispielsweise gemeinsam Fehler bei der maschinellen Erkennung der Schrift beheben. An dieser Stelle wird deutlich, dass man auf einer solchen Allmende-Plattform gemeinschaftlich an der Aufgabe digitaler Archivierung arbeitet. Ebenso arbeitet man daran, die Inhalte in verschiedenen Kontexten optimal nachnutzbar zu machen. Eine sehr interessante Wendung hat die Aktivität auf dieser Plattform vor wenigen Jahren genommen, als der Biophysiker Daniel Mietchen und andere begonnen haben, frei lizenzierte neuere Werke wie medizinische Fachaufsätze aus der Datenbank „Pubmed“ in Wikisource zu importieren.
Diesen Gedankengang lohnt es, weiterzuverfolgen und zu überlegen, ob nicht die Schwesterprojekte der Wikipedia wie Wikimedia Commons, Wikisource und Wikidata auch Plattformen für die Gesamtheit der Open Access zur Verfügung stehenden Forschungsergebnisse werden könnten. Wir haben aktuell das Problem, dass wir eine sehr verstreute, virtuelle Allmende haben und dass viele verschiedene Player versuchen, alles auf ihrer eigenen Plattform zu sammeln, darunter staatlich finanzierte oder kommerzielle Player. Der Charme der freien Plattformen liegt darin, dass eine Vielzahl von Beteiligten darauf arbeiten. Das kann vermeiden helfen, dass die Nachhaltigkeit, Sichtbarkeit und Nutzbarkeit der Inhalte eingeschränkt wird.
Man muss auch selbstkritisch zugeben, dass die Kriterien, die die Mitwirkenden an den Wikimedia-Projekten aufgestellt haben, teilweise klarer sind als das, was die Open-Access-Bewegung hervorgebracht hat. Beispielsweise werden unter „Open Access“ dort ausschließlich Inhalte verstanden, die unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung Share-alike“ oder freieren Lizenzen angeboten werden.
Mit dem Begriff „Open Access“ wird andernorts dagegen zum Teil Schindluder getrieben, wenn künstliche Barrieren durch zusätzliche rechtliche Einschränkungen aufgebaut werden. Für Einrichtungen der Forschungsinfrastruktur wie Bibliotheken bedeutet die Frage nach dem „Betriebsystem der Wissenschaft“ zugleich, über den institutionellen Schatten zu springen und sich auf solchen Allmende-Plattform als aktiver Player einzubringen. Das erfordert ein Umdenken.
Das Interview wurde am Rande der Konferenz „Zugang gestalten!“ geführt, die sich mit der Digitalisierung in Museen, Bibliotheken und Archiven befasste.
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