Die Kunst, sich selbst zu verlegen
Was vor ein paar Jahrzehnten kaum vorstellbar erschien, ist heute Realität: Egal ob Video, Text oder das Trällern unter der Dusche – digitale Inhalte können binnen Sekunden auf dem ganzen Globus verfügbar sein. Und alle, die dazu Zugang haben, können solche Veröffentlichungen wahrnehmen, kommentieren oder weiterverbreiten.
Publizieren heißt, der Öffentlichkeit einen Inhalt zugänglich zu machen. Wenn nun die halbe Menschheit publiziert, erscheinen viele Inhalte banal, alltäglich, witzlos. Oder positiv gewendet: Jeder und jede kann heute – auch ohne Verlag oder sonstigen Mittler – über digitale Plattformen selbst verlegen und senden, kuratieren und sich ein Publikum aufbauen. Nicht nur, aber eben auch, für ganz „gewöhnliche“ Inhalte.
Welche Folgen hat es für Wissenschaft, Literatur und Kunst, wenn Publizieren „banal“ wird?
Was bedeutet es für Autor*innen, Publikum und Verlagswesen, wenn alle veröffentlichen können? Was sind die Folgen für Wissenschaft, Literatur und Kunst? Spannende, hochaktuelle Fragen, zu deren Diskussion Elisa Linseisen und Dorothea Walzer für die Konferenz „Banales Publizieren“ an die Universität Bochum einluden (Programm hier als PDF). Wobei die Veranstalterinnen mit dem Titel durchaus tiefgestapelt haben. Im Fokus standen weniger die schnellen Posts auf Twitter oder selbstgedrehte YouTube-Katzenvideos. Man konzentrierte sich vielmehr schon auf Inhalte mit gewissem (Eigen)Anspruch: Literatur im Selbstverlag zum Beispiel oder wissenschaftliche Ausarbeitungen.
Drucken und Veröffentlichen nach Lust und Laune
Schon im ersten Vortrag von Annette Gilbert zeigte sich, dass die Demokratisierung der Publikationsmittel für diejenigen Bereiche große Veränderung bedeutet, die traditionell am gedruckten Werk hängen. Gerade mit kostengünstigen „Print-on-Demand“-Verfahren (abgekürzt PoD, zu Deutsch etwa „Druck auf Anfrage“) kann jede*r aus einem digitalen PDF ein eigenes Buch herstellen lassen und so – zumindest prinzipiell – eine Öffentlichkeit erreichen. Allerdings wird es wegen der zahlreichen PoD-Bücher (etwa auf der Amazon-eigenen Plattform) schnell unübersichtlich: Ein Gutteil der PoD-Angebote schafft es deshalb auch gar nicht erst in den Druck, schlichtweg weil die konkrete Nachfrage fehlt.
Oft führt eine neue Drucktechnik zu einer großen Menge einer bestimmten Publikationsform. Für Archive und Bibliotheken birgt das Herausforderungen und Chancen. Schließlich sind es diese Gedächtnisinstitutionen, die historische Zeugnisse sammeln, aufbewahren und öffentlich verfügbar machen. Eindrucksvoll illustrierte dies die Grafikdesignerin Tania Prill mit dem „Archive of Independent Publishing“. Es dokumentiert Untergrund-Publikationen, die dank Hektografie oder Off-Set-Druck in den 1960er und -70er Jahren „wie Pilze aus dem Boden schossen“. Man war nicht mehr an teure Druckereien gebunden, sondern konnte sich in Schüler-Zeitungen, Plakaten, Flugblättern, Comics oder Zeichnungen verwirklichen, wovon besonders junge Leute regen Gebrauch machten – ähnlich wie heute in Sozialen Medien.
Konferenz „Zugang gestalten!“ in der SUB Hamburg – Neue Website und Programm veröffentlicht
Im Herbst 2022 findet die alljährliche Konferenz wieder statt. Das Motto der diesjährigen „Zugang gestalten!“ lautet: „Digitale Verfügbarkeit – Globale Rezeption“. Programm und Anmeldung sind freigeschaltet. Die neu gestaltete Website bietet ein Archiv früherer Ausgaben samt Vorträgen, Programmen und Fotos. » mehr
Neue Technologien, neue Verantwortung
Wenn ein Publikum unendlich groß sein kann und sich Inhalte endlos vervielfältigen lassen, ergibt sich für diejenigen neue Verantwortung, die Inhalte erstellen und anbieten. Die Künstlerin Eva Weinmayr fasste dies in drei Prinzipien zusammen: Erstens betont das Teilen („sharing“) im Gegensatz zum traditionelleren Verteilen („distributing“), dass Wissensvermittlung kein ein-, sondern ein wechselseitiger Prozess ist (oder sein sollte). Zweitens das Prinzip kollektiver Zusammenarbeit, das sich gegen strenge individuelle Formen der Autorschaft wendet (insbesondere des „geistigen Eigentums“). Und drittens der Gedanke, dass auch der Publikationsweg wichtig ist, wie Weinmayr anhand von Wikis oder des eigens entwickelten, Lizenz-ähnlichen Appells „Collective Conditions for Re-Use“ (CC4R) zeigte.
Noch weiter ging Tim Laquintano, der die Potentiale und inneren Grenzen von Technologien Künstlicher Intelligenz (KI) aufzeigte. So kann GPT auf menschlichen Zuruf (sogenannte „prompts“) durch massenhafte Mustererkennung automatisch Texte generieren. Der US-Forscher legte dar, wie solche Technologien das Schreiben nachhaltig verändern werden: Zukünftig dürften menschliche Autor*innen in Journalismus, Kunst oder Forschung GPT wesentlich in ihre eigene Arbeit einbeziehen. Das könnte neue Offenlegungen nötig machen, etwa die Angabe, zu welchem Grad man sich als Autor*in auf GPT gestützt hat. Gleichzeitig hielten sich derzeit viele Unternehmen beim Einsatz von KI zurück, weil sie befürchteten, durch die Prompts sensible Informationen in die Text-Korpora der KI einzuspeisen und dadurch indirekt zu veröffentlichen.
Welche Regeln gelten für die Erzeugnisse Künstlicher Intelligenz?
Beim Einsatz von KI-Systemen entstehen viele rechtliche Fragen für die Anwender*innen, etwa zum urheberrechtlichen Schutz der Erzeugnisse oder der Patentierbarkeit der KI als Erfindung. Till Kreutzer erläutert dazu die wichtigsten Fragen des Immaterialgüterrechts aus Theorie und Praxis. » mehr
Self-Publishing: Schreiben und Verlegen aus einer Hand
Wenn Verlage als traditionelle Gatekeeper fürs Publizieren nicht mehr einbezogen werden (müssen), mag das das Selbstverständnis von Autor*innen befreien und ihren Schaffensprozess beeinflussen. Einen Roman nicht nur zu verfassen, sondern auch selbst zu verlegen, erweitert das künstlerische Selbstverständnis um eine verlegerische Komponente. Diese kann sich wiederum im Werk selbst niederschlagen, etwa als literarisches Thema. Diesen Gedanken veranschaulichte der Kultur- und Literaturwissenschaftler Matthias Preuss an den literarischen Arbeiten von Lütfiye Güzel und Francis Nenik.
Noch stärker die wissenschaftspolitische Dimension des Publizierens nahm Anke Finger in den Blick. Sie unterstrich, dass es nicht damit getan sein muss, eine wissenschaftliche Arbeit als PDF – quasi als digitales Gegenstück zum gedruckten Buch – online zu stellen. Je nach Thema und Material böten sich zusätzliche Ausspielwege an, die auch unterschiedliche Publika erreichen können. Wissenschaftliche Erkenntnisse ließen sich so multimodal veröffentlichen, etwa durch Begleitung von YouTube-Videos oder Blog-Posts. Solche hybriden, multimodalen Veröffentlichungsformen brächten aber auch neue Probleme mit sich, etwa in der Finanzierung oder der Umsetzung, da Forscher*innen nicht ohne Weiteres selbst Software entwickeln könnten.
Daran knüpfte die Medienwissenschaftlerin Sarah-Mai Dang an. Sie hatte sich dazu entschieden, neue Wege zu beschreiten und ihre filmwissenschaftliche Doktorarbeit in verschiedenen Versionen selbst zu veröffentlichen: als Rohfassung auf dem Uni-Repositoirum, als lektoriertes Manuskript auf eigener Website samt Video-Einbindungen, als PoD-Buch, als PDF auf Repositorien sowie in englischer Fassung bei einem klassischen Verlag. Diese vielfältige Veröffentlichungsstrategie – von Dang treffend betitelt als „Plurales Publizieren“ – eröffnete der Autorin und frischgebackenen Verlegerin einen wertvollen Einblick in die Verwertungs- und Reputationsmechanismen von Wissenschaft und Verlagswesen.
Warum die Wissenschaft trotz Open Access nicht von den Verlagen lässt
Ohne Wissenschaft gäbe es keine Wissenschaftsverlage, so viel ist klar. Aber andersherum? Versprach die Open-Access-Bewegung nicht eine Befreiung vom Verlagswesen? Trotz hoher Gebühren fällt es der Wissenschaft schwer, von ihren Verlagen zu lassen. Vier Gründe, warum die Beziehung so verstrickt ist. » mehr
Öffnen heißt auch loslassen
Julia Bee und Gerko Egert berichteten über ihr Projekt der Nocturne-Plattform. Dort können sich Wissenschaftler*innen, ähnlich einem Labor, austauschen und gemeinsam neue Ideen ausprobieren. Vor allem soll Platz sein für das Wissen, das „in den Zwischenräumen und -zeiten der Institutionen“ entsteht, etwa zwischen Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre oder den hierarchischen Ebenen des Uni-Alltags. Über den Gedanken des offenen Zugangs („open access“) hinausgehend versteht sich Nocturne als Open-Source-Plattform, die hierfür unzureichende, weil meist geschlossene Verlagsstrukturen erweitern kann.
Dass die Öffnung wissenschaftlicher Forschung nicht erst mit einer Publikation per Open Access beginnt, sondern Autor*innen bereits das eigene Schreiben der Öffentlichkeit zugänglich machen können, unterstrich Erin Rose Glass eindrucksvoll im Abschlussvortrag. Unter dem Hashtag #SocialDiss stellte sie ihre eigene Doktorarbeit – und zwar bevor sie diese einreichte – auf Google Docs und anderen Plattformen ein. Dieses Verfahren wird heutzutage unter dem Stichwort „Open Peer Review“ deutlich breiter diskutiert und getestet. Glass bescherte es überraschend wertvolle Rückmeldungen von ihr unbekannten Forscher*innen, die sie bei der sonst üblichen Betreuung und Begutachtung mit Sicherheit nicht gewonnen hätte, wie die Forscherin begeistert ausführte.
Loslassen als OER-Prinzip. Von Kontrollverzicht zu Bedeutungsgewinn
Seine eigenen Bildungsmaterialen als OER frei zu lizenzieren, ist im Kern eine urheberrechtliche Entscheidung. Aber es geht auch ums Loslassen: Man verzichtet darauf, den Werdegang der eigenen Werke zu kontrollieren. Diese Freigabe erhöht die Chancen, dass die Inhalte weiter genutzt werden und an Bedeutung gewinnen. » mehr
Neue Konkurrenz von unten für Verlage und Sender
Die anregenden Vorträge und Diskussionen lassen deutlich erkennen: Das Publikationsmonopol von Verlagen und Sendern ist gebrochen. Digitale Publikationsmittel haben sich für die breite Masse demokratisiert, in den Sozialen Medien genauso wie in Wissenschaft oder Kunst. Vielen Autor*innen reicht es nicht mehr, lediglich Inhalte zu liefern, deren Veröffentlichung andere besorgen – sie wollen selbst verlegen, eigenständig ein Publikum aufbauen, Reputation verwalten, sogar unfertige Arbeiten öffnen und teilen.
Immer braucht es Mut, manchmal einen langen Atem oder die Bereitschaft, neue Verantwortung zu übernehmen, etwa für lizenzrechtliche oder buchhalterische Fragen. Auch tiefer liegende Fragen kommen zum Vorschein: Ist Autorschaft immer eindeutig, etwa wenn viele Menschen jeweils kleine Beiträge liefern (wie beim Open Peer Review)? Ist eine Publikation immer – in einem strengen Sinne – öffentlich? Oder gibt es Abstufungen von Öffentlichkeit? Auch für „Werk“ oder „Offenheit“ gelten solche Überlegungen.
Es klingt banal, aber die neue Technik bringt die Qual der Wahl
Kulturschaffende, Romanautoren und Forscherinnen haben heute eine ganze Palette digitaler Werkzeuge zur Hand. Die Auswahl an Verfahren, Technologien und Ausspielwegen zwingt dazu, sich für die am besten passende Lösung zu entscheiden (oder eine neue zu entwickeln).
Es ist das Verdienst der Konferenz, die Komplexität der neuen Publikationswelt herauszustellen – und sie nicht als „banal“ abzutun. Auch wenn das der provokative Titel der Veranstaltung nahelegt. Allein der starke Fokus auf Text, Schrift und Buch hätte sich durch gezielte Branchen-Vergleiche, etwa mit Fernsehen, Gaming oder Musikindustrie, im Sinne einer multimodalen Publikationswelt auflockern lassen.
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“.
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