Kulturkampf ums Web: Das Ringen über einen Kopierschutz-Standard
Die Entscheidung, die Kritiker bereits „um das Web trauern“ lässt, gab Philippe Le Hégaret vom World Wide Web Consortium (W3C) am Donnerstag vergangener Woche bekannt. Tim Berners-Lee, Web-Pionier und Direktor des Standardisierungsgremiums, habe entschieden, einen Entwurf zum Web-Kopierschutz trotz Einwänden als W3C-Standard zu veröffentlichen.
Die Reaktion der Kritiker des Vorhabens folgte umgehend: Gestern reichten US-Bürgerrechtler der Electronic Frontier Foundation (EFF) eine formelle Beschwerde beim W3C ein. Sie wollen die Entscheidung von Berners-Lee revidieren, den Standard in seiner jetzigen Form durchzubringen. Eigentlich ist der Prozess nach einer Konsultation und dem Ablauf weiterer Fristen bereits abgeschlossen. Nach den Statuten des W3C ist „unter außergewöhnlichen Umständen“ aber eine Berufung möglich.
DRM für Medienwiedergabe im Browser
Technisch geht es beim Streit um sogenannte „Encrypted Media Extensions“, kurz EME. Erweitert wird mit der Technik der HTML5-Standard für Webinhalte. Kopiergeschützte Videos lassen sich so im Browser abspielen. Standardisiert wird nicht das Kopierschutz-Verfahren selbst, sondern Schnittstellen zwischen dem Browser und den DRM-Systemen der Anbieter. Den Entwurf hatten Mitarbeiter von Microsoft, Google und Netflix eingereicht, unterstützt unter anderem von Apple und dem US-Filmindustrieverband MPAA.
Kompromiss bei Sicherheitsforschung gescheitert
Über die Notwendigkeit des Standards wurde seit vielen Jahren hitzig gestritten. Kritiker wie der Autor Cory Doctorow machen einerseits prinzipielle Bedenken gegenüber DRM geltend: Rechte und Befugnisse der Nutzer würden hintangestellt, wo Hollywood die erlaubte Mediennutzung in Algorithmen gieße. Frank La Rue, beigeordneter Generaldirektor der Unesco für Kommunikation und Information, warnte in einem Brief an das W3C, auch die illegitime Filterung von Inhalten könne sich von der Netzwerkebene auf den Browser der Endnutzer verlagern.
Zudem macht sich die Kritik an einem gescheiterten Kompromiss fest: Organisationen wie das Internet Archive, das NGO-Netzwerk Just Net Coalition und Sicherheitsexperten hatten einen Vorschlag der EFF unterstützt. Die Bürgerrechtler hatten angeregt, eine Klausel für Sicherheitsforscher in den Standard aufzunehmen. Die W3C-Mitglieder sollten sich darin verpflichten, Umgehungsverbote für Kopierschutz im Urheberrecht nicht gegen Forscher in Anschlag zu bringen, wenn sie Sicherheitslücken aufspüren.
Berners-Lee verteidigt Entscheidung
In ihrer Erklärung wiesen Berners-Lee und Le Hégaret den Kompromissvorschlag weitgehend ab – ebenso wie weitere Kritik am Standard, die sich an Problemen bei der Umsetzung in freier Software, für Nutzer mit Behinderungen, Hürden bei der Archivierung und beim Wettbewerb auf dem Browser- und Softwaremarkt festmachte.
Berners-Lee hatte das Vorgehen des W3C bereits in früheren Wortmeldungen verteidigt: Es diene dem Schutz der Nutzer, wenn sie keine unsicheren Erweiterungen wie etwa einen Flash-Player installieren müssten. Kopierschutz für Bewegtbild sei ein notwendiges Übel, um das Web als Plattform zu erhalten, auf der auch die Filmindustrie und andere Inhalteanbieter mitspielten. Andernfalls, so Berners-Lee, wanderten Inhalte und Nutzer in Apps und geschlossene Plattformen ab.
Kulturkampf ums Web
Sollten die DRM-Schnittstellen in Kürze zum Web-Standard werden, blieben die praktischen Folgen für Nutzer dennoch überschaubar. Die Technik ist ohnehin bereits weit verbreitet. Gängige Browser unterstützen das Verfahren seit geraumer Zeit, Netflix etwa hat seinen Dienst weitgehend darauf umgestellt.
Hatte sich Kopierschutz bei Downloadshops noch als Verkaufsbremse erwiesen, so hat sich das Bild mit den Streamingdiensten gewandelt. Vor allem an Netflix kommen die Browser-Hersteller nicht mehr vorbei. Zähneknirschend gab Mozilla vor zwei Jahren bekannt, auch Firefox werde die DRM-Schnittstellen unterstützen, damit dessen Nutzer „weiterhin auf Premium-Videoinhalte zugreifen“ könnten. Der W3C-Standard würde also nur formal bestätigen, was am Markt bereits erfolgreich ist.
Der Streit hat aber nicht zuletzt symbolischen Gehalt: Seit den Anfangstagen des Webs folgten seine Entwickler dem Leitbild des freien Flusses der Inhalte. Das Konglomerat aus Netflix, Internetriesen und Filmindustrie dürfte nun erstmals dafür sorgen, die Verknappung von Inhalten im Web mit dem Signum einer W3C-Empfehlung zu adeln. Das Konsortium versteht sich zwar gern als rein technisches Gremium. Doch nun macht gerade die fortgeschrittene Kommerzialisierung des Webs seine Entscheidungen zum Politikum.
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