Kulturelles Erbe unter Verschluss
Foto: Bundesarchiv Bild 183-C31914, Film der Brüder Skladanowsky, CC BY-SA.
Das Recht, insbesondere das Urheberrecht, hat große Auswirkungen darauf, was von dem großen Reichtum des audiovisuellen Erbes im kollektiven Bewusstsein verbleibt. In einer Zeit immer neuer Filme und Filmchen und einer rasanten Medienentwicklung, ist es schwer, die Erinnerung an die bewegten Bilder der Vergangenheit wachzuhalten. Da ist es besonders tragisch, dass die Nutzung von historischem Filmmaterial durch rechtliche Unsicherheiten erschwert wird. Das gilt gerade für die digitale Nutzung. Zu viele Zeugnisse der Filmgeschichte Deutschlands wie auch Europas verstauben in den Archiven, aber auch bei Filmverleihern oder Sendern, weil die Rechtesituation unklar ist.
Da der Film ein verhältnismäßig junges Medium ist, sind fast alle Werke noch urheberrechtlich geschützt. Auch bei älteren Filmen müssen die Nutzungsrechte aufwändig geklärt werden, damit Filme digitalisiert und verfügbar gemacht werden dürfen. Die damit verbundenen Kosten überfordern die mit der Pflege des audiovisuellen Erbes betrauten öffentlichen Institutionen und stehen auch einer wirtschaftlichen Auswertung im Wege.
Vorsichtshalber verzichten
Besonders deutlich wird das Problem bei den sogenannten verwaisten Werken. Ein verwaistes Werk ist ein urheberrechtlich geschütztes Werk, dessen Rechteinhaber nicht identifiziert oder lokalisiert werden und deshalb einer weiteren Nutzung nicht zustimmen kann. Da das Urheberrecht eine Nutzung nur zulässt, wenn der jeweilige Rechteinhaber zustimmt, dürfen solche verwaisten Werke nicht genutzt werden – mehr noch, ihre Nutzung ist in Deutschland sogar strafbar.
Dabei steht häufig gar nicht fest, ob ein Werk noch urheberrechtlich geschützt ist oder nicht. Gerade bei älteren Werken könnten die urheberrechtlichen Schutzfristen bereits abgelaufen sein, denn Werke sind 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers geschützt. Wenn der Urheber aber nicht bekannt ist, so ist auch unbekannt, ob er bereits mehr als 70 Jahre tot ist.
Im Alltag von Museen, Archiven und anderen Gedächtnisinstitutionen wird häufig bereits auf die Nutzung von Werken verzichtet, wenn die Recherche der Rechteinhaber zwar möglich wäre, aber befürchtet wird, dies sei mit größerem Aufwand verbunden. Die damit einhergehenden unkalkulierbaren Kosten wirken abschreckend. Insbesondere öffentliche Einrichtungen sind angehalten, ihre begrenzten Ressourcen für die Bewahrung und inhaltliche Erschließung der ihnen anvertrauten Materialien zu verwenden. Sie benötigen inzwischen einen wachsenden Anteil ihrer Ressourcen für die Rechterecherche. Die Ausgaben dafür liegen bereits weit über den eigentlichen Lizenzzahlungen. Für viele Ausstellungen und andere Projekte müssen für die komplizierte Rechteklärung zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden.
Archive als Pflegeeltern
Dabei würden die Werke, die wir heute als verwaist bezeichnen, ohne die Arbeit von Museen und Archiven schlicht nicht mehr existieren. Dann gäbe es keine verwaisten, sondern nur verschollene Werke. Nur durch die öffentlich finanzierten Institutionen sind Werke erhalten geblieben, für die es zwischenzeitlich kaum Aussicht auf lukrative kommerzielle Verwertungen gab. Die „geistigen Eltern” und deren Rechtsnachfolger haben sich um diese Werke nicht mehr gekümmert; sie wären dem physischen Verfall anheimgefallen, hätten sich nicht die Archive als Pflegeeltern der Waisen angenommen.
Dass es einen rechtspolitischen Handlungsbedarf bezüglich verwaister Werke gibt, ist in den zuständigen Institutionen inzwischen anerkannt. Die beteiligten EU-Organe haben sich informell auf einen Text für eine zukünftige Richtlinie geeinigt, die regeln soll, wie verwaiste Werke genutzt werden können. Ohne Zweifel ist das ein bemerkenswerter Fortschritt, für den gerade die Gedächtnisinstitutionen – die Archive, Bibliotheken und Museen – sich lange engagiert hatten. Gleichwohl ist es nur ein kleiner Schritt, verglichen mit den Problemen, die bleiben.
Verwaiste Werke nur die Spitze des Eisbergs
Das Problem rechtlicher Unsicherheit ist bei verwaisten Werken besonders gravierend. Sie sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Denn was für diese ganz extrem gilt – nämlich die Unsicherheit darüber, wer denn die Nutzungsrechte hat – gilt in abgeschwächter Form auch für Werke, deren Entstehungsgeschichte zwar bekannt ist, bei denen aber unsicher ist, wie die Verträge ausgelegt und welche Rechte an wen abgetreten sind. Auch hier wird oft auf die Digitalisierung und Online-Nutzung verzichtet, um rechtliche Risiken zu vermeiden.
Bei Filmen ist die Situation besonders kompliziert, da an einem Film viele Urheber beteiligt beteiligt sind: etwa der Regisseur, der Kameramann, der Cutter oder die Schauspieler. Inwieweit diese zahlreichen Mit-Urheber eines Films tatsächlich ihre urheberrechtliche Nutzungsrechte übertragen und ob diese Übertragungen auch früher unbekannte Nutzungsarten umfasst haben, lässt sich meist nicht mehr sicher feststellen. Verträge und Produktionsunterlagen sind häufig nicht erhalten.
Bei einem Stummfilm aus den zwanziger Jahren wird man kaum jemals für alle Urheber, die daran beteiligt waren, die vollständige Übertragung ihrer Nutzungsrechte für die digitale Nutzung von Filmen nachweisen können. Wenn die Rechte an solchen Filmen heute einzelnen Firmen zugeschrieben werden, so beruht dies häufig auf einer Fiktion, die jedoch von den am Verkehr beteiligten Kreisen anerkannt wird. Zunehmend werden diese Zuschreibungen jedoch in Frage gestellt, und die Nachkommen von beteiligten Urhebern machen ihre Rechte geltend.
Analoges Erbe in der digitalen Welt
Nun hat der Gesetzgeber der komplizierten Film-Rechtesituation durchaus Rechnung getragen. 1966 wurde das „Recht des Filmherstellers”, das sogenannte Produzentenrecht eingeführt. Damit wurden die Nutzungsrechte aller beteiligten Urheber beim Filmproduzenten gebündelt, was die kommerzielle Auswertung erleichterte. Später wurde auch deutlich, dass das ebenfalls ab 1966 geltende Verbot der Übertragung zukünftiger Nutzungsrechte die digitale Auswertung von Filmen ganz erheblich erschwert hatte. Deshalb wurde es 2008 aufgehoben und zusätzlich rückwirkend durch die im Detail schwierige und umstrittene Vorschrift des Paragrafen 137l Urheberrechtsgesetz eine Bündelung der zur Digitalisierung notwendigen Rechte erreicht. Allerdings gilt dies nur für Filme, die nach 1966 entstanden sind, davor – so die Logik der Gesetzgebung – hätten unbekannte Nutzungsarten ja ohnehin übertragen werden können.
Wie schwierig die Klärung von Nutzungsrechten gerade solcher älterer Filme immer noch ist, machen zwei Urteile des Bundesgerichtshofes zu den Filmen “Der Frosch mit der Maske” und „Polizeirevier Davidswache” deutlich. Beide Werke sind vor 1966 entstanden, zu einer Zeit also, als die Übertragung „unbekannter Nutzungsarten” erlaubt war. Der Bundesgerichtshof stellt jedoch sehr hohe Anforderung daran, wann solche Übertragungen wirksam sind. Das ist nur dann der Fall, wenn ausdrücklich über diesen Punkt verhandelt wurde und die Abgeltung zukünftiger Nutzungsarten als Ergebnis dieser Verhandlung auch in das vereinbarte Honorar eingegangen ist. Die bloße Erwähnung in vorformulierten “allgemeinen Geschäftsbedingungen” sei dafür nicht ausreichend.
Nun wird bei Filmproduktionen aber nahezu immer mit vorformulierten allgemeinen Geschäftsbedingungen gearbeitet; die hohen formalen Anforderungen des BGH an eine wirksame Rechteübertragung sind folglich kaum jemals erfüllt. Die Folge ist, dass für die digitale Auswertung von Filmen, die vor 1966 produziert wurden, in der Regel die Nutzungsrechte aller beteiligten Urheber nachträglich erworben werden müssten – ein praktisch nicht zu leistendes Unterfangen.
Wo kein Kläger, da kein Richter
Glücklicherweise hat diese Rechtsprechung bislang kaum Folgen auf die Praxis. Auch vor dem fraglichen Jahr produzierte Filme werden weiterhin in digitalen Formaten vertrieben. Es ist kaum anzunehmen, dass dafür tatsächlich alle Nutzungsrechte nachträglich geklärt wurden. Vielmehr ignoriert die (wirtschaftliche) Praxis die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, soweit es geht. Meist reagiert man nur, wenn in Einzelfällen Urheber oder ihre Nachfahren tatsächlich Ansprüche geltend machen. Das ist auch gut so, da sonst noch mehr historisches Material dem Vergessen anheim fallen würde.
Allerdings bekommt der von der Filmindustrie propagierte Slogan „Raubkopierer sind Verbrecher” vor diesem Hintergrund einen eigentümlichen Beigeschmack. Schließlich war die suggestive Überspitzung in dieser Formulierung damit begründet worden, man wolle einer Erosion des Respekts vor dem Urheberrecht vorbeugen, welches in der digitalen Welt zunehmend ignoriert würde. Doch die komplizierte Rechtslage ist für die Filmindustrie zunehmend selbst zum Problem geworden.
Für eine Massendigitalisierung historischer Materialien ist die Rechteklärung jeden einzelnen Werks schlicht nicht praktikabel. Das gilt insbesondere für komplexe Werke mit vielen Beteiligten. Diese Einsicht wird heute kaum noch bestritten.
Nur Verlierer
Hohe Kosten für die Rechterecherche schaden der Kultur. Sie schaden den Urhebern, da diese Ausgaben ihnen nicht zugute kommen. Sie schaden der Vielfalt, da kulturell wertvolle Werke mit komplizierter Rechtesituation unter den Tisch fallen. Sie schaden der wirtschaftlichen Auswertung von historischen Materialien. Und sie schaden schließlich dem Respekt vor dem Urheberrecht, da in der Praxis die Risikoabwägung immer öfter an Stelle des als unverhältnismäßig empfundenen Aufwands der Rechteklärung tritt.
Es bleibt zu hoffen, dass die beabsichtigen Regelungen zu den verwaisten Werken ein erster Schritt sind, um historische Materialien wieder nutzbar zu machen. Dies sollte jedoch nicht zu der Vorstellung verleiten, damit wären die Probleme gelöst.
Dieser Text erschien zuerst bei Vocer – Medien.Kritik.Debatte. Lizenz: CC BY-SA.
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