Kreative Arbeit: Was bringt die Zukunft?

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Jetzt mal unter uns: Science-Fiction-Autoren sind ganz schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen. Aber das ist nicht so schlimm. Andere können es auch nicht besser. In allen entscheidenden Punkten ist die Zukunft einfach unglaublich verworren. Hochrechnen lässt sich immer nur das Triviale.
Ich kann also nicht vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Aber ich habe bestimmte Hoffnungen und Ängste, die auf ein und derselben Beobachtung beruhen: Computer und Netzwerke erleichtern es uns, in Gruppen zusammenzuarbeiten.
Zugegeben, das klingt trivial, aber effektive Arbeitsteilung ist der älteste Menschheitstraum überhaupt. Als irgendeiner unserer Vorfahren in der Wüste in grauer Vorzeit darauf gekommen ist, haben alle davon profitiert. Einige Affen konnten auf Futtersuche gehen, andere hielten Ausschau nach Feinden, eine dritte Gruppe hütete den Nachwuchs. So kamen alle besser voran.
Es setzte natürlich voraus, dass die Affen eine gewisse Zeit damit verbrachten zu kontrollieren, ob ihre Kameraden die jeweilige Aufgabe auch wirklich erfüllten. Man musste ab und zu gegenchecken, ob tatsächlich jemand Ausschau hielt. Und ab und zu musste man vom Ast herunterklettern, um festzustellen, dass wieder mal alle bei den Kindern waren und niemand Früchte sammelte.
Es gab also Streuverluste und nicht alles war effizient, aber das war die Sache wert. Denn wenn wir mit anderen zusammenarbeiten, dann wachsen wir als Menschen (oder als Affen) über uns selbst hinaus. Ich meine das ganz wörtlich. Jeder Einzelne von uns hat seine Grenzen, aber wenn wir mit anderen zusammenarbeiten, können wir sie überwinden.
Computer übertreffen Kreidetafel, Organigramm und Telefon
Seit jener Zeit hat sich die Menschheitsgeschichte immer wieder darum gedreht, wie man größere Gruppen koordinieren und zugleich die Kosten dafür senken kann. Wie schafft man das: weniger Zeit in Meetings verbringen, seltener die Arbeit doppelt vergeben und stundenlanges Tauziehen in verschiedene Richtungen verhindern?
Mit Computern und Netzwerken sind wir der Lösung solcher Koordinierungsfragen näher gekommen als mit irgendeiner früheren Technologie. Sie übertreffen mit ihrer Leistungsfähigkeit die Kreidetafel, das Organigramm, das Telefon – eigentlich alles, was mir einfällt, abgesehen von der ersten Koordinierungstechnik überhaupt: der menschlichen Sprache („Du gehst hier lang, ich geh dort lang“).
Als junger politischer Aktivist verbrachte ich in den 1980er-Jahren etwa 98 Prozent meiner Zeit damit, Briefumschläge vollzustopfen und Adressen draufzuschreiben. Die übrigen zwei Prozent konnte ich mir Gedanken darüber machen, was in die Umschläge rein sollte.
Heute kostet dieser ganze Koordinationsaufwand faktisch nichts mehr. (Er ist auf das „CC“-Feld im Mailprogramm zusammengeschrumpft.) Er ist so leicht geworden, dass wir ihn überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Technologie, mit der man Leute für gesellschaftlichen Wandel mobilisiert, sich von einem rollenden Baumstamm in einen Turbomotor verwandelt hat, dessen Drehzahl sich so bald nicht wieder verringern wird.
Natürlich profitieren nicht nur Aktivisten von dieser Koordinationsmacht. Und nicht alle Aktivisten sind gleich. Schwarze Bürgerrechtler profitieren davon genauso wie der Ku-Klux-Klan.
Aber unter dem Strich sind gesunkene Koordinationskosten gut für uns alle. Hierarchien, bürokratische Strukturen, Sitzungen und Protokoll-Memos sind nichts, worauf die menschliche Gattung besonders stolz sein sollte. Das ist vielmehr der Preis, den wir zahlen müssen, um das, worauf wir stolz sind, zu erreichen. Alles, was unsere Anstrengungen dabei erleichtert, sollte uns willkommen sein.
Trotzdem habe ich Ängste. Ich habe Angst, dass jene, die mithilfe von Meetings, Memos und Bürokratien über sich hinausgewachsen sind, sich verstärkt Technologien zulegen, um die zunehmende Konkurrenz neuer Akteure, die mit weniger Plackerei dieselben Erfolge erzielen, im Keim zu ersticken.
Klar, wenn man davon lebt, Lösungen für bestimmte Probleme zu finden, sollte man zusehen, dass diese Probleme sich nicht in Luft auflösen, sonst ist man raus aus dem Geschäft.
Deshalb fürchte ich, dass Informationstechnologie von totalitären Regimen, Schlapphüten, Tyrannen und Plutokraten eingesetzt wird, um uns auszuspionieren, um Zwietracht unter uns zu säen, ja im Extremfall, um Menschen gewaltsam zu entführen, zu foltern und zu ermorden. Genau das ist während des arabischen Frühlings geschehen. Angesichts drohender Volksaufstände erkannten die Unterdrückungsstaaten, dass sie nur Facebook- und Gmail-Daten auswerten müssen, um herauszufinden, wer in der Aktivistenszene wen kannte, sodass man zu gegebener Zeit alle verhaften konnte.
Alle unsere Gedanken werden aufgezeichnet
Davor habe ich Angst: dass Technologie die Macht der Mächtigen verstärkt. Nicht nur der Regierungen, sondern auch der Plattenfirmen, der Filmstudios und der Online-Intermediären, die immer mehr Einfluss auf die kreative Umgebung gewinnen – zum Nachteil aller anderen Akteure. Diese Befürchtungen sind nicht neu. Es sind dieselben, die George Orwell dazu brachten, 1984 zu schreiben.
Wir sind sozial-kommunikative Wesen, und dank unserer vernetzten Endgeräte sind wir unseren Freunden und allen, die uns etwas bedeuten, immer ganz nahe. Diese Geräte zeichnen all unsere Gedanken, Taten, Reisen und Beziehungen auf. Wenn sie darauf ausgelegt sind oder dazu missbraucht werden können, unsere Geheimnisse preiszugeben, werden die kühnsten Träume der Stasi dagegen wie graue Amateurskizzen aussehen. In einer Welt verräterischer Geräte und Netze braucht man sich nicht mehr zu entscheiden: Man kann eine Zukunft bekommen, die zu gleichen Teilen aus Orwell, Kafka und Huxley besteht.
Aber ich habe auch Hoffnung. Für Menschen, die eine Welt mit mehr Selbstbestimmung wollen, mehr Freiheit, mehr verwirklichten Zielen und weniger nervtötender Langeweile und Kontrolle. Ich habe Hoffnung, weil es für jene, die keine Macht haben, noch nie besonders leicht war, sich ohne große Kosten zu organisieren. Progressive Politik bedeutete schon immer, sich in undurchsichtige Kämpfe und endlose Diskussionsrunden zu verstricken. Denn ohne Hierarchien und Organisationsstrukturen muss man sich die Mittel, mit denen man vorankommt, immer wieder neu ausdenken.
Es ist etwas fundamental anderes, ob man Menschen, die nach Freiheit hungern, in die Lage versetzt, sich zu organisieren, oder ob man die Organisationsmacht jener stärkt, die auf Kontrolle setzen – weil sie normalerweise selbst diese Kontrolle ausüben.
Wenn die Machtlosen mächtiger werden, dann ist das ein spürbarer Unterschied. Wenn die Mächtigen noch mächtiger werden, merkt man den Unterschied kaum. Wenn Macht erwächst, wo zuvor keine war, ist das etwas anderes, als wenn die Macht dort, wo sie ohnehin schon konzentriert ist, noch ein bisschen größer wird.
Ich glaube nicht, dass schon feststeht, wie die Sache ausgehen wird. Wenn ich schlecht drauf bin, graut mir vor Despoten, die Technologie einsetzen, um perfekte Spionage zu betreiben und ihre Schlägertrupps perfekt zu koordinieren.
Aber die Antwort auf diese Angst kann nur darin bestehen, sich die Informationstechnologie anzueignen und dafür zu sorgen, dass sie allen nützt, nicht nur den Mächtigen. Die Technologie zu ignorieren (oder sie nicht zu schützen), verhindert nicht, dass die Übeltäter dieser Welt sie in die Finger bekommen. Das führt nur dazu, dass die Guten in den kommenden Auseinandersetzungen unbewaffnet dastehen.
Von Edward Snowden, der unsere einzige glaubwürdige Quelle ist, wie weit die Fähigkeiten der Geheimdienste gehen, wissen wir, dass Verschlüsselung funktioniert. Gute, sichere Netzwerktechnologie ermöglicht es ganz normalen Leuten, auf einem so hohen Sicherheitsniveau miteinander zu kommunizieren, dass selbst die mächtigsten, erfahrensten Überwachungsdienste der Welt sie nicht mehr ausspionieren können. Und was die Spione fernhält, sorgt auch dafür, dass Gauner, Voyeure und andere finstere Gestalten außen vor bleiben.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können also gewöhnliche Menschen ihre Aktivitäten untereinander koordinieren, ohne dass jemand in ihre Kommunikationskanäle eindringt und diese unterbricht oder zerstört. Diese technologische Dividende hat einen unschätzbaren, historisch beispiellosen Wert.
Aber wir können diese Dividende nur einstreichen, wenn es eine freie und faire Infrastruktur gibt. Nur, wenn wir das Hollywood-gegen-Google-Narrativ zu den Akten legen und nicht mehr zulassen, dass unser kreativer Output zweckentfremdet und für Zensur, Überwachung und Kontrolle missbraucht wird.
Ich bin nicht gegen Regulierung. Aber wir müssen uns entscheiden, welche Art von Regulierung wir wollen. Es könnte Regeln für das Internet geben, die Zentralisierung unterstützen, Netzwerkdiskriminierung zulassen, digitales Rechtemanagement und Rechtsansprüche auf die Löschung von Inhalten unterstützen sowie profitorientierte Geschäftsmodelle mit missbräuchlich überhöhten Verwerteranteilen stützen – von Spionage- und Zensurpraktiken ganz zu schweigen. Es sind aber auch andere Regeln denkbar, die eine offene, pluralistische, vernetzte Öffentlichkeit fördern, in der jeder frei kommunizieren kann. Regeln, die Anreize dafür schaffen, Sicherheitslücken offenzulegen, und die durch interoperable Produkte und Technologien zu mehr Wettbewerb führen.
Viel mehr Menschen können sich kreativ ausleben
Künstlerisch zu arbeiten und ein Publikum zu erreichen war nie so kostengünstig möglich wie heute. Nie zuvor gab es einen so umfassenden und tiefgreifenden Zugang zu den Werken unserer kreativen Vorfahren. In irgendeiner Weise von Kunst zu leben, ist heute genauso schwer wie es schon immer war – das Internet ändert daran nichts. Aber es ändert sehr wohl etwas im Hinblick darauf, wie viele Möglichkeiten es heute gibt, etwas zu erschaffen und andere damit zu erreichen. Es ermöglicht mehr Menschen, an der Kultur teilzuhaben und ihre eigenen kreativen Bedürfnisse auszuleben.
Es herrscht kein Mangel an Angeboten, wie man die eigene Kreativität am besten in bare Münze verwandelt. Deshalb braucht man Werkzeuge, um diese Angebote abzuklopfen. Zusammengefasst in drei Punkten heißt das:
1. Wenn Sie Verleger oder Verwerter sind, lassen Sie nicht zu, dass Händler Ihre Kundenbeziehung kapern, indem Sie DRM einsetzen.
2. Wenn Sie Kreativschaffender sind, lassen Sie nicht zu, dass die Verwerter das Urheberrecht vorschieben, um Regeln durchzusetzen, die es ihnen beim Vertrieb Ihrer Werke ermöglichen, den Markt zu beherrschen.
3. Welche Rolle auch immer Sie haben – vergessen Sie nicht, dass dieses Internet größer ist als die Kunst und die Unterhaltungsindustrie. Es ist das Nervensystem des 21. Jahrhunderts. Ob es uns befreit oder versklavt, hängt davon ab, wie wir es nutzen.
Aus dem Englischen von Ilja Braun. Der Artikel stammt aus Doctorows Buch „Information doesn’t want to be free. Laws for the internet age“, das im November 2014 bei McSweeney’s auf Englisch erschienen ist. Dieser Text erscheint ebenfalls in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Bitte beachten: im Unterschied zu den allermeisten Texten im Jahresrückblick erscheint der Text von Cory Doctorow unter der Lizenz CC BY-NC-SA. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
2 Kommentare
1 Nachdenker ohne know how am 2. Januar, 2015 um 11:50
Liest sich sehr informativ und endlich mal ein Artikel der positiv ausgerichtet erscheint ohne zu verharmlosen…ich bin sehr müde von all dem negativ fatalistischen denken im Netz.
Was sagen Sie dazu?