Jöran Muuß-Merholz: „Lehrer brauchen eine Flatrate-Regelung für Kopien“
Jöran Muuß-Merholz: Es stimmt, Deutschland hat eine gute Schulmedien-Verlagslandschaft, da stellt sich die OER-Frage eigentlich weniger. OER zielt ja in der Ursprungsidee auf Entwicklungsländer ab, dort geht es um den grundsätzlichen Zugang zu Lehrmedien. Und in den USA, wo Lehrmedien sehr teuer sind, stellt sich die Frage noch einmal anders. Gleichwohl gibt es in Deutschland drei Aspekte, die für OER sprechen.
Erstens: Man lernt besonders gut, wenn man möglichst viel mit dem Lehrmaterial anstellen kann. Bei kleinen Kindern sind es beispielsweise Klötzchen zum Legen und Bewegen, aber auch Erwachsene lernen besser, wenn sie die Inhalte de- und rekonstruieren können.
Leider kann man mit den unter dem verlagsübergreifenden Portal „Digitale Schulbücher“ angebotenen Titeln so gut wie gar nichts machen, allenfalls Notizen oder Markierungen hinzufügen. Damit kann man aber nichts mehr anfangen, wenn die erworbenen Lizenzen ablaufen, in der Regel nach einem Jahr. Das führt zu einer paradoxen Situation, denn gerade digitale Vorlagen eignen sich ja eigentlich ganz besonders dafür, sie zu zerlegen und weiter zu verwenden. Lehrer sind seit jeher Remix-Künstler und suchen sich stets ihre Quellen, und nun auch verstärkt im digitalen Bereich. Die genannten Restriktionen erhöhen also den Bedarf für OER-Titel, bei denen freie und vielfältige Weiterverwendung möglich ist.
Zweitens wird von den Lehrern erwartet, dass sie „binnen-differenzieren“: Sie sollen ihren Unterricht dem jeweiligen Lerntempo und Wissensstand der Schüler anpassen, und dafür müssen sie auch die Vorlagen und Aufgaben entsprechend individualisieren können. Noch notwendiger wird diese Anpassungsleistung durch die Inklusion, hierfür müssen die Materialien auf die jeweiligen Lernfähigkeiten und bezüglich der Schwierigkeitsstufe hin justiert sein. Eigentlich sind digitale Medien auch dafür gut geeignet, doch es gibt zu viele Einschränkungen, was meist mit den Nutzungsrechten zu tun hat.
Drittens betrachten Pädagogen es als hohes Gut, im Team zu arbeiten. Das betrifft zunehmend auch die Lehrer-Kollegien an den Schulen. Um fächerübergreifend zu lernen oder Lehrmedien kollektiv und verteilt zu nutzen, wäre es hilfreich, sie freier verwenden zu können. Das war bei analogen Lehrmedien normal und nicht in Frage gestellt, es gab ein eingespieltes System – doch für die digitalen Medien ist die Situation nun viel unsicherer geworden.
iRights.info: Wo sehen Sie also in Bezug auf OER dringenden Handlungs- oder Reformbedarf beim Urheberrecht?
Jöran Muuß-Merholz: OER ist eigentlich schon jetzt und ohne Urheberrechtsreform möglich. Durch die genannten Restriktionen mit digitalen Schulbüchern aus den Verlagen sind viele Lehrer verunsichert und lassen die Finger von allem Digitalen. Auch der Schultrojaner, der die Schulen zu bestimmten Vereinbarungen zwang, erhöhte die Skepsis gegenüber digitalen Lehrmedien.
Ab dem 1. Januar 2013 sind zwar einige Erleichterungen eingeführt worden, etwa die Erlaubnis, bis zu 10 Prozent eines Lehrbuchs für den Einsatz im Unterricht digital vervielfältigen zu dürfen. Doch im Grunde bräuchten die Lehrer heute eine Flatrate-Regelung, um sich nicht bei jedem Buch oder Arbeitsheft um Rechte und Verwendungsoptionen kümmern zu müssen. Dazu kommt, dass die Verlage für Material, dass vor 2005 veröffentlicht wurde, keine Rechte für digitale Vervielfältigung haben. Es ist den Lehrern aber nicht zuzumuten, nach der Jahreszahl einzelner Inhalte zu recherchieren. Sie sollen guten Unterricht vorbereiten und abliefern – und keine Experten für Urheberrechtsfragen werden.
Auch Regeln, nach denen bestimmte Materialien nur auf USB-Stick oder CD verteilt werden dürfen, jedoch nicht per Lernplattformen wie Moodle, sind altmodisch und wirken auf digitalaffine Lehrkräfte wie eine angezogene Handbremse. Hier muss mehr passieren. Aus der Sicht eines Lehrers müssen Lehrmedien also möglichst große Freiheiten im Umgang mit den Inhalten bieten, und dies müssten entsprechende Urheberrechtsregelungen unterstützen.
iRights.info: Wie sollen sich freie Schulmedien finanzieren? Woher sollen gute Autoren und Produzenten, woher ausreichende Qualität der Titel kommen, wenn die Titel nichts einbringen?
Jöran Muuß-Merholz: OER erlaubt zwar freie Verwendung der Inhalte, muss aber nicht kostenfrei produziert werden, im Gegenteil: die Bezahlung für Entwicklung und Produktion eines Titels steht außer Frage. Welche Geschäftsmodelle allerdings für die Finanzierung die richtigen sind, darauf hat momentan niemand eine eindeutige Antwort, ich zähle mal vier Möglichkeiten auf.
Beispielsweise könnte ein Bundesland per Ausschreibung vorgehen, um darauf dann Entwicklung und Produktion nach vorher festgelegten Bedingungen zu bezahlen. Das ist aber etwas problematisch, denn sobald ein kostenloses Mathebuch vorliegt, geraten die anderen Anbieter vermutlich ins Hintertreffen. Dazu käme, das bereits jetzt interessengeleitete Anbieter auf den Markt drängen, also Unternehmen oder Verbände, die freies, kostenloses Material haben und dort auch Geld reinstecken, wobei da gewiss auch brauchbare Medien dabei sein können.
Ein anderes Modell wäre eine Art staatliche Stelle für Lehrmedien, in die viel Geld fließt. Doch da wäre ich hinsichtlich der Qualität und der Vielfalt extrem skeptisch.
Als dritter Weg liesse sich vielleicht die Situation mit freier Software betrachten. Bei vielen Open-Source-Programmen ist die Verwendung frei, doch darum herum verkaufen viele Anbieter erfolgreich Dienstleistungen. Dementsprechend könnten die Schulmedienverlage als Dienstleister fungieren, die Erlöse damit erzielen, Inhalte zusammenzustellen, zu prüfen, an die Lehrpläne anzupassen, sie zugänglich zu machen und zusätzliche Services für Lehrer anzubieten. Doch das sehe ich in einer fortgeschrittenen Welt, wenn die Transformation zu komplett digitalem Lernen vollzogen ist, aber nicht für 2013 oder 2014.
In dieser Zukunft wird auch das Flatrate-Modell interessant. Tatsächlich bietet die Klett-Gruppe mit meinunterricht.de ja bereits jetzt eine entsprechende Plattform für Lehrer, sogar für eine Flatrate. Ob das auf Dauer genügende Erlöse bringt, bleibt abzuwarten, aber ich halte es für eines der aussichtsreicheren Modelle. Das ist aber im Kern kein OER, nur ein Baustein für ein komplexeres System.
Ein vierter Weg wäre, die Inhalte für Schulmedien in der Community erstellen zu lassen, wie es die „Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet (ZUM)”, die „Religionspädagogische Plattform im Internet“ oder die Plattform „Selbstgesteuert entwickelnder Geschichts-Unterricht” und andere bereits praktizieren. Doch da bin ich nicht besonders euphorisch, weil es einfach keine genügend große Basis gibt, die massenhaft brauchbares Material ins Netz stellt. Lehrer sind zwar für sich und ihre Unterrichtszwecke großartige Produzenten. Aber es ist überhaupt nicht zu sehen, dass sie das massenhaft im Netz austauschen. Die schwierige Rechtslage ist da nur ein Grund unter mehreren.
Generell ist aus meiner Sicht für OER Experimentieren angesagt. Eine große, tolle, alle Probleme lösende Antwort gibt es nicht.
*In eigener Sache: Am 6. September veranstaltet die Initiative Urheberrecht zusammen mit dem iRights Lab den Urheberkongress 2013. In dieser Reihe befragt iRights.info Referentinnen und Referenten des Kongresses zur Zukunft des Urheberrechts.
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