Jan Philipp Albrecht und Jens Seipenbusch: „Die Industrie hat kein Recht, die Nachfrage zu bestimmen”
Herr Seipenbusch, Ihre Partei hat sich unter anderem aus der Diagnose heraus gegründet, dass Probleme des Urheberrechts von den etablierten Parteien zu wenig angegangen würden. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Jens Seipenbusch: Auf die digitale Revolution und die sich rapide verändernden Kulturtechniken wurde von Seiten des Gesetzgebers unzureichend reagiert. Wenn man sich jetzt den Text des Urheberrechts anguckt, ist da im Grunde genommen noch von Farbkopierern die Rede. Den Fotokopierer gibt es seit Ende der sechziger Jahre. Daran erkennt man zum einen, dass es einen extremen Aufarbeitungsstau gibt. Zum anderen haben der Prozess der Digitalisierung und die Verbreitung des Internets das Urheberrecht praktisch überrannt. Für die Zukunft sehe ich im Grunde zwei grundlegende Optionen: Entweder die Möglichkeit, das Urheberrecht weiterhin für extrem wichtig zu erachten und damit die Angelegenheiten im internationalen Handel komplett regulieren zu wollen. Oder aber das Urheberrecht wird unbedeutender, indem man z. B. bestimmte Sachen wie Kopieren nicht mehr so stark einschränkt. Es ist nämlich kein generisches Recht, dass der Urheber für seine digitalen Werke Kopien vorenthalten könnte.
Die Hauptursache jedoch, warum wir gegenwärtig ein gesellschaftliches Problem mit dem Urheberrecht haben, ist, dass sich Verhältnisse etwa im Bereich der Unterhaltungsindustrie ausgebildet haben, die einen Wandel erfordern. Wie der „zweite Korb” der Urheberrechtsreform gezeigt hat, ist es ein natürlicher Prozess, dass dort, wo viele Finanzinteressen sind, auch viel Lobby-Einfluss auf gesetzliche Bestimmungen genommen wird. Deswegen brauchen wir sowohl die Urheber, die aber keine homogene Partei sind, als auch Vertreter der Gesellschaft – und das sind nicht nur die Nutzer – viel stärker mit am Tisch.
Herr Albrecht, sehen Sie das ähnlich, dass sich Asymmetrien zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Verwerterinteressen entwickeln?
Jan Philipp Albrecht: Das Urheberrecht ist ein Teil der gesamten Debatte über das sogenannte geistige Eigentum. Das ist gewissermaßen eine Konstruktion. Eigentlich ist Eigentum etwas, das aus einem Objektbezug entstanden ist. Das geistige Eigentum ist geschaffen worden, um ein gesellschaftliches Bedürfnis zu befriedigen, nämlich geistige Werke bzw. die Schöpfungen von Künstlern und Kreativen mit einem Wert zu belegen und auch schützen lassen zu können. In der allgemeinen Debatte wird leider zu selbstverständlich davon ausgegangen, dass das geistige Eigentum und das Urheberrecht unverbrüchliche Leitideen des Gesellschaftlichen darstellen. Einerseits wird zu wenig gegenüber anderweitigen Eigentumsbegriffen abgegrenzt, andererseits der Gemeinschafts- und Sozialbezug von Eigentum vernachlässigt. Insbesondere die Verwerterinteressen gerade von großen Medienindustriezweigen haben dazu geführt, dass ein überbordendes Urheberrecht in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschaffen wurde. Diese Entwicklung geht historisch weit zurück, indem z. B. auf den Druck der Walt Disney Company die Schutzdauer für urheberrechtlich geschützte Werke immer weiter ausgeweitet wurde. Zugleich wurde stets auf eine öffentliche Debatte über die grundsätzliche Frage, wie denn das Urheberrecht beschaffen sein müsste, das wir zu schützen gedenken, verzichtet.
Ich sehe es ähnlich, dass die politischen Fronten in dieser Debatte quer zu den Interessen der Künstlerinnen und Künstler stehen, die zum Teil ganz andere Interessen als die Verwertungsindustrien haben und sich stärker mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern verbünden müssten. Der zweite wichtige Teil, den Jens Seipenbusch angesprochen hat, ist, dass wir seit der digitalen Revolution vor der großen Herausforderung einer Rechtsdurchsetzung im Internet oder im digitalen Raum stehen. Vertreter der Verwerterinteressen haben in dem angeblich rechtsfreien digitalen Raum starke Instrumente der Rechtsdurchsetzung eingeführt, die in der analogen Welt gesellschaftlich so nicht anerkannt worden wären. Da stellt sich die Frage: Wie setzen wir solchen Bestrebungen bei der Rechtsdurchsetzung Grenzen?
Ich würde diese beiden Debatten aber gerne voneinander trennen. Denn ich glaube nicht, dass es der Debatte ums Urheberrecht gut tut, wenn man sie immer sofort mit der Debatte über die Frage der Rechtsdurchsetzung verknüpft.
Die Musikindustrie, die als erste Content-Industrie die Digitalisierung durchlaufen hat, hat versucht, den Investitionsschutz über Mechanismen wie Digital-Rights-Management (DRM) zu betreiben. Haben Sie beide grundsätzlich ein Verständnis dafür, dass es eine gewisse Anreizstruktur für Produzenten und Verwerter braucht, um digitale Produkte zu entwickeln?
Jan Philipp Albrecht: Jenseits der Frage, ob DRM ein kluges Konzept ist, muss man festhalten, dass damit ein strafrechtlicher Bezug hergestellt wird, bei dem das Verhältnis völlig aus den Fugen gerät. „Raubkopierer sind Verbrecher” ist eine juristische Lüge. Es kann nicht sein, dass das Umgehen von Kopierschutzmechanismen mit Raubüberfällen verglichen wird.
Jens Seipenbusch: Es ist wichtig zu sehen, dass die Verwerter in der Vergangenheit durch die Knappheit der Kanäle die Kontrolle und die Macht über die Werke und die Urheber hatten. Die Urheber mussten mit einigen Maßnahmen im Urheberrecht auch vor den Verwertern geschützt werden. Warum mache ich verlegerischen Leistungsschutz (Leistungsschutzrecht), also ein zusätzliches Schutzrecht, für eine ohnehin machtvolle Industrie? Es ist aus meiner Sicht hochgradig absurd, eine Machtposition zu erhalten, die sich letztendlich aus einer Knappheit von Verwertungskanälen gebildet hat, die es jetzt gar nicht mehr gibt. Die Tonträgerbranche wandelt sich, weil trägerlose Medien dominant geworden sind. Deswegen ist auch die Diskussion um Pauschalabgaben schwierig. Früher hatten wir Tonträger, jetzt haben wir eine Infrastruktur, die aber nicht exklusiv von den Unterhaltungsmedien genutzt werden kann. Natürlich haben die Verwertungsindustrie und Verlage eine Existenzberechtigung, aber aus meiner Sicht vorrangig als Dienstleister für Urheber. Die Industrie hat kein Recht zu bestimmen, wer was hören soll oder kaufen darf, also die Nachfrage zu bestimmen.
Bleiben wir kurz bei den Zeitungsverlagen. Diese sind ganz offenkundig weiter auf der Suche nach tragfähigen Online-Geschäftsmodellen, forcieren teilweise Gesetzesänderungen wie das Leistungsschutzrecht und kämpfen mit einem öffentlichen Akzeptanzproblem. Kommt damit ein analoges Medienmodell an sein Ende?
Jens Seipenbusch: Zeitungen und Unterhaltungsindustrie sind zwei grundverschiedene Dinge. Man denke nur an den Aspekt der vierten Gewalt. Es stellt sich die Frage, ob man diese Funktion wirklich nur mit dem so gerne angeführten „Qualitätsjournalismus” wahrnehmen kann und auch wie dieser in Zukunft aussehen könnte. Die Zeitungsverlage sind in gewisser Weise Machtinstrumente. Sie haben aktuell das Problem, dass die Ressource Nachricht unter global vernetzten Bedingungen nicht mehr knapp ist, da sie nicht mehr monopolartig an den physischen Träger Zeitung gebunden ist. Ich würde aber nicht dazu übergehen zu sagen, dass sie deswegen verschwinden.
Jan Philipp Albrecht: Die Frage, wie Werke im Internet verwertet werden können, also mit welchen Geschäftsmodellen die Verwertungsindustrie operieren kann, muss schon beantwortet werden. Ich glaube, dass das Ansetzen an dem Modell der Verwertungsgesellschaft durchaus eine denkbare Alternative ist. Da stellen sich einige Fragen: Soll die Vergütung der Urheber über Pauschalabgaben gestaltet werden? Soll jeder Vorgang einzeln bezahlt werden? Wenn ja, impliziert das, dass die einmalige Zahlung eigentlich schon der Verlust jeglicher Rückgriffsmöglichkeiten im Internet ist? Es ist relativ offensichtlich, dass neue Verwertungsgesellschaften, auf bestimmte Sektoren bezogen, eine zentrale Rolle spielen müssen, damit eine faire Entlohnung der Urheber ermöglicht wird.
Herr Seipenbusch, wie attraktiv ist die Idee, bei den Verwertungsgesellschaften anzusetzen, um eine faire Vergütung zu ermöglichen? Wäre das ein gangbarer Weg für die Piratenpartei?
Jens Seipenbusch: Eine der Grundfragen ist, ob man wirklich glaubt, dass Filesharing notwendig zu Einkommensverlusten führt. Das ist eine Prämisse, die ich auf der Basis zahlreicher Studien mittlerweile stark anzweifle. Filesharing ist ein sichtbarer Teil eines gesellschaftlichen Phänomens, das es immer schon gab. Das Internet ermöglicht Tauschen natürlich, aber Tauschen gab es auch vorher. Nur die Sichtbarkeit des Tauschvorgangs und die zusätzliche Globalisierungsdimension haben doch nicht automatisch zur Folge, dass dies für die Musikindustrie unmittelbar alles verlorene Geschäfte sind. Vor diesem Hintergrund scheint mir dies die falsche Frage aufgrund einer falschen Prämisse zu sein.
Jan Philipp Albrecht: Auch ich sehe diesen direkten Schluss nicht, dass mit dem Phänomen Filesharing im Privatbereich niedrigere Umsatzzahlen, z. B. im Musikbereich, verknüpft sind. Auf der anderen Seite ist aber klar: Ich zahle auch für den klassischen Kopierer und damit für Papierkopien, wenn ich sie irgendwo kaufe, einen Teil an eine Verwertungsgesellschaft. Das ist zwar kein Teil, von dem die Buchautoren letztendlich leben können, aber es ist eine gewisse Wertschätzung. So muss man das beim Filesharing sehen. Gewissermaßen ist das der Grundgedanke, der bei der Kulturflatrate mitschwingt.
Jens Seipenbusch: Die Verwertungsgesellschaften haben genau diese Probleme auch schon länger. Werke aus dem sogenannten „long tail”, die in geringen Stückzahlen über beispielsweise 20 Jahre laufen oder Werke mit einer geringen Stückzahl, die irgendwann einen ungeahnten Erfolg haben, müssen auch in der Diskussion um pauschale Vergütung gesondert betrachtet werden. Der Standpunkt der Grünen ist sicher nicht abwegig, dass man durch eine Pauschalabgabe oder Verwertungsgesellschaft berechtigt wird, zu kopieren oder zu nutzen. Eine andere Sichtweise dazu ist, dass ich zu einer nicht-kommerziellen Kopie (Schrankenbestimmung im Urheberrecht) bereits berechtigt bin. Und dass nicht durch dieses Kopieren eine Abgabepflicht für den Urheber anfällt, sondern dadurch, dass der Produzent und der Vertreiber der Fotokopierer ja kommerziell handeln und ansonsten auf Kosten der Werkersteller Profit machen würde. Das sind zwei legitime Sichtweisen auf das gleiche Phänomen.
Von Seiten der Piratenpartei wurde die Kulturflatrate als „bürokratisches Monster” charakterisiert. Gleichzeitig gibt es sicherlich auch Piraten, die grundsätzlich eine Zahlungsbereitschaft für qualitativ hochwertige Inhalte mitbringen. Ist der Unterschied in den politischen Ansätzen vielleicht der, dass die Piratenpartei so viele Inhalte wie möglich in die Public Domain überführen möchte, während die Grünen stärker eine Balancierung, eine Güterabwägung der unterschiedlichen Stakeholder im Blick haben?
Jens Seipenbusch: Ausgangspunkt für die Piratenparteien ist, dass die Nutzer das Gefühl schon geschmeckt haben, relativ frei und ohne Kontrolle Informationen und Kulturgüter zu nutzen. Ich meine damit jene neuen Kulturtechniken, die Lawrence Lessig mit „Read-Write Society” statt „Read-Only Society” bezeichnet hat. Ich glaube, die Verhältnisse sind noch zu früh, um Instrumente wie Verwertungsgesellschaften oder Pauschalabgaben für die Online-Nutzung vorzusehen. Die Verwertungsgesellschaften und auch die Musik- und Filmindustrie verarmen ja nicht. Sie strukturieren sich um, sie entlassen auch Leute. Aber das hängt mit allen notwendigen Veränderungen der Medienwelt zusammen. Deswegen finde ich es strukturell sehr gefährlich, wenn man jetzt schon die Pfründe für die zentrale Steuerung von Verwertungskanälen sichert, indem man einen Geldpool einsammelt und den dann verteilt. Damit zementiert man die Machtposition existierender Akteure in der Content-Industrie und damit auch ihre Unfähigkeit, sich zu sinnvollen Service-Providern für Urheber zu verschlanken.
Jan Philipp Albrecht: Ich gebe Ihnen insofern Recht, als dass die Reform der Verwertungsgesellschaften selber und auch des Strukturverhältnisses zwischen Verwertern und Urheberrechtsträgern längst überfällig ist. Aber das muss Hand in Hand laufen mit dem Einstieg in neue Verwertungsmodelle und neue gesellschaftliche Übereinkünfte, die zum Teil losgelöst von Marktfragen diskutiert werden sollten.
Jens Seipenbusch: Kultur ist das Wort, das dummerweise auch in Kulturflatrate steckt: Da bin ich ganz unwillig, das auf Kommerz oder sonst was zu reduzieren. Das ist zum Glück auch den meisten Urhebern und Künstlern unangenehm. Kultur ist für mich das, was wir tun. Keine Blackbox, die ich verkaufe. Das ist nicht Kultur, das ist eine Ware. Wenn ich heutzutage Kulturförderung im Sinne von Kulturflatrate höre, wird darüber nachgedacht, wie ich den Warenabsatz fördern kann. Ich will nicht Waren fördern. Wenn, dann fördere ich die Möglichkeiten, Kultur zu produzieren, z. B. ein Jugendzentrum oder ein Theater, ein Haus wohlgemerkt, wo Leute hingehen können, um Kultur zu machen. Aber es kann nicht darum gehen, Produkte zu unterstützen, die keinen Absatz finden.
Jan Philipp Albrecht: Nehmen wir einmal das Beispiel eines Films mit entsprechenden Produktionskosten. Der zirkuliert unter Umständen durch Filesharing, hat aber gleichzeitig geringe Absatzzahlen. Dieses Missverhältnis wird durch eine Kulturflatrate aufgefangen. Das System Verwertungsgesellschaft muss aber zwingend mit dem System der öffentlichen Kulturförderung verschaltet sein. Dann haben wir auch die Chance, Kulturförderung und Nutzungsverhalten demokratischer zu gestalten. Die Kritik, dass bei der Idee einer Kulturflatrate Kultur zu warenförmig gedacht wird, klang bereits an. Umgekehrt kann die Kulturflatrate als ein Versuch verstanden werden, Werken wieder eine Wertigkeit zu verleihen, die in ihrem digitalen Gebrauch verloren gegangen ist.
Jens Seipenbusch: Es ist zwar berechtigt, dass die Schöpfer eines Werkes einen Anspruch darauf haben, Respekt gegenüber der Werknutzung zu erfahren. So steht es auch im Urheberrechtsgesetz. Aber diese Idee stammt aus der Zeit des Ölbilds. Digitalkünstler fragen nicht nach dem Wert, sie sind vielmehr an der Nutzbarkeit anderer Werke interessiert. Die Frage nach dem Wert ist im Kern ein Moralargument, bevorzugt aus wertkonservativen Kreisen. Aus meiner Sicht verbirgt sich dahinter ein Rückzugsargument. Natürlich ist es so, dass Gesetze immer auch ein Ausfluss dessen sind, was die Gesellschaft für dominierende Werte hat. Aber da muss man beim Urheberrecht ganz vorsichtig sein. Dann müsste man alle Werke in die Betrachtung miteinbeziehen, nicht nur die, die darauf angelegt sind, Topseller zu werden. Nehmen wir einen Künstler, der nicht kommerziell agiert, indem er Gedichte schreibt und die auf seinem Blog veröffentlicht. Aus moralischer Sicht müsste seine Tätigkeit gleich bewertet werden. Solange das nicht geschieht und der Wertaspekt allein an den finanziellen Erfolg geknüpft wird, halte ich das für unredlich.
Jan Philipp Albrecht: Mit der ideellen Gleichwertigkeit würde ich absolut mitgehen. Genau daran würde ich aber auch ansetzen. Ich würde sagen, dass es dem Künstler oder dem sogenannten „Content Producer” obliegt, selber zu entscheiden: Ist dieses Werk für mich etwas, was ich nur so produziere, das ich zum Remixen auch weitergeben kann? Oder möchte ich mit diesem Werk eine Verwertung betreiben, z. B. auf der Basis eines Wahrnehmungsvertrags durch die VG Wort oder GEMA. Oder eben auf eigene Faust. Beides muss nebeneinander existieren können. Das Problem ist, dass man diese Verwertungsentscheidung den Künstlerinnen und Künstlern nicht nehmen kann, nicht nehmen sollte. Die große Herausforderung ist, einerseits die bestehenden Strukturen gerade der großen Verwerter, die es den kleinen Künstlern fast unmöglich machen, selbst mit ihrem Werk etwas zu verdienen, zu bekämpfen und andererseits Strukturen zu schaffen, die es kleinen Künstlern oder Textern im Internet ermöglichen, ein Einkommen zu erzielen. Letztendlich hat das eine sozialpolitische Dimension.
Ist die Kulturflatrate überhaupt denkbar als nationaler Alleingang? Täten wir nicht gut daran, erstmal eine europäische Konvergenz anzustreben, um dann in Dialog mit dem angelsächsischen Copyright zu kommen?
Jan Philipp Albrecht: Es braucht für diese Fragen mehr als eine intellektuelle politische Debatte, nämlich eine kritische Öffentlichkeit. Es muss meines Erachtens auch eine Bewegung geben, die dafür eintritt, dass es eine Reform des geltenden Regimes des geistigen Eigentums gibt. Nehmen wir nur die aktuellen internationalen Verhandlungen um das Antipiraterieabkommen ACTA, wo die EU-Staaten gemeinsam mit Drittstaaten wie den USA, aber auch Schwellen- und Entwicklungsländern darüber verhandeln, wie weltweit das geistige Eigentum durchgesetzt werden soll. Die Industriestaaten erhoffen sich hier bessere Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern. Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine größere Öffentlichkeit für die generelle Frage: Wo sind eigentlich die Grenzen dieser überbordenden Verwertung von Urheberrecht und geistigem Eigentum? Es ist wichtig, gemeinsam die Kräfte der Künstler und Nutzer zu bündeln und diese Konfliktlinie deutlicher zu machen. Im Europaparlament versuchen wir genau das. Mit Christian Engström (dem Abgeordneten der schwedischen Piratenpartei im Europaparlament, der sich der Grünen-Fraktion angeschlossen hat) arbeite ich neben unserer Abgeordneten im Kulturausschuss, Helga Trüpel, sehr eng zusammen, weil wir gemeinsam eine andere Perspektive im Europaparlament aufzeigen müssen, damit überhaupt Bewegung in diese Debatte kommt.
Inwieweit gibt es noch weitere Anknüpfungspunkte zu anderen EP-Fraktionen im Bereich geistiges Eigentum?
Jan Philipp Albrecht: Insbesondere die Sozialdemokraten und Christdemokraten im Europaparlament stehen erst am Anfang der Debatte. Im Moment ist es eine Gruppe von Grünen, Piraten und ein paar Liberalen und Linken, die gemeinsam überhaupt für Aufmerksamkeit kämpfen und dafür sorgen muss, dass im Parlament ein Verständnis dafür entsteht, dass man Rechtsetzungen im Sinne der tatsächlich beteiligten Rechteinhaber gestaltet und nicht im Sinne der Wirtschaftslobbyisten. Das ist in der Europäischen Union eine der zentralen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre.
Das Gespräch führten Chris Piallat und Jan Engelmann. Es fand am 2. Februar 2010 in der Heinrich-Böll-Stiftung statt.
Jan Philipp Albrecht ist Jahrgang 1982 und damit der jüngste deutsche Abgeordnete im Europäischen Parlament. Der ehemalige Sprecher der Grünen Jugend hat sich dort insbesondere mit seinem Einsatz für Datenschutzthemen binnen kurzer Zeit als grüner Innen- und Justizexperte hervorgetan. Albrecht hat von 2003 bis zu seiner Wahl 2009 Rechtswissenschaften in Bremen, Brüssel und Berlin sowie Rechtsinformatik in Hannover und Oslo studiert und sich während dieser Zeit auf verschiedensten Ebenen bei den Grünen für Bürgerrechte und Netzpolitik engagiert. Der Niedersachse ist in seinem Kreisverband Wolfenbüttel aufgewachsen und wohnt in Hannover und Brüssel.
Jens Seipenbusch ist Gründungsmitglied der Piratenpartei Deutschlands und wurde am 2009 zum Vorsitzenden gewählt. Seit 1999 ist er Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der WWU Münster und dort stellv. Leiter der IT-Abteilung. Zuvor war er von 1994 bis 1998 wissenschaftlicher Mitar- beiter an der WWU Münster. Von 1987 bis 1994 studierte Seipenbusch Physik an der Ruhr-Universität Bochum und der WWU Münster, wo er auch sein Diplom ablegte.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND.
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