Internet Archive – nur im Lesesaal?
Das World Wide Web der vergangenen Jahrzehnte ist nicht nur für nostalgische Reisen in das frühe Web und die historische Forschung spannend. Archivierte Websites spielen auch in juristischen Verfahren vermehrt eine Rolle. Am prominentesten ermöglicht eine solche Reise in die digitale Vergangenheit die „Wayback Machine“ des US-amerikanischen Internet Archive. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein staatlich getragenes Archiv, sondern eine Nonprofit-Organisation mit Sitz im Bundesstaat Kalifornien. Die Datenbestände archivierter Websites reichen bis zurück in das Jahr 1995 und umfassen aktuell über 946 Milliarden Webseiten.
Internet Archive: 24/7 verfügbar
Neben ihrer großen Menge an archivierten Webseiten besticht die Wayback Machine vor allem durch die unbeschränkte Zugänglichkeit. Es erfordert noch nicht einmal eine Registrierung als Nutzer:in, um durch das archivierte Web zu stöbern. Die Bots der Wayback Machine durchforsten unermüdlich das Web, und betreiben dabei das sogenannte Web Harvesting: Sie kopieren die besuchten Webseiten und erzeugen daraus sogenannte Mementos im WARC-Dateiformat. WARC steht für „Web ARChive“ und ist das einschlägige Dateiformat zur Webarchivierung. Die Nutzenden können durch diese Mementos zu surfen, und sich dabei entlang der Hyperlinks fortbewegen. Zudem erleichtern Funktionen wie eine Begriffssuche und die Navigation entlang eines Zeitstrahls das Zurechtfinden. Diese Bedienungsfreundlichkeit lässt uns als Nutzende vermutlich etwas leichter über teilweise unzureichend archivierte Websites hinwegsehen, beispielsweise sind fehlende Fotos ein häufiges Problem. Längst ist die Wayback Machine ein populärer Teil des digitalen kulturellen Gedächtnisses geworden, sie ist immer nur einen Klick entfernt, und das 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
In Deutschland gibt es Zugriff nur im Lesesaal
In Deutschland erhielt im Jahr 2006 die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) den gesetzlichen Auftrag zur Archivierung von Websites. Bis zum November 2023 ist ihr Webarchiv auf 60.000 Mementos von knapp 8.000 Websites angewachsen. Davon ist jedoch nur ein sehr kleiner Teil im Web frei zugänglich. Der Zugriff auf den größten Teil der Bestände ist nur vor Ort in den DNB-Lesesälen in Frankfurt am Main und Leipzig möglich. Zudem entstehen seit 2018 durch das novellierte Urheberrecht Kooperationen zwischen Gedächtnisinstitutionen aus Bund, Ländern und Regionen. In Ländern wie Thüringen und Hamburg sind diese Kooperationen mit der DNB bereits weit gediehen. Daraus ergibt sich für die Nutzenden der Vorteil, dass die Lesesäle der beteiligten Bibliotheken vollen Zugriff auf das Webarchiv der DNB bieten. Je mehr Einrichtungen mit der DNB in Sachen Webarchivierung kooperieren werden, umso größer wird dieser Vorteil für die Nutzenden. Denn die Hürde, zu den üblichen Öffnungszeiten einen der Lesesäle aufzusuchen, setzt das Webarchiv der DNB – und ebenso die Webarchive anderer öffentlicher Gedächtnisinstitutionen – in deutlichen Nachteil gegenüber der Wayback Machine. Wer die von öffentlichen Archiven in Deutschland bereitgestellten Webarchive nutzen will, dem wird also viel Geduld und Einsatz abverlangt.
Warum geht’s beim Internet Archive, aber in Deutschland nicht?
Der Unterschied zwischen der freien Zugänglichkeit der Wayback Machine und der Lesesaal-Pflicht deutscher Archive und Bibliotheken resultiert aus den jeweiligen urheberrechtlichen Grundlagen. Als in den USA ansässige Institution beruft sich das Internet Archive für seine Wayback Machine auf das Fair-Use-Prinzip.
Was ist das Fair-Use-Prinzip
Das Fair-Use-Prinzip ist eine Rechtsdoktrin aus einigen Common-Law-Ländern. Es ermöglicht die Verwendung urheberrechtlich geschützten Materials zu Zwecken der öffentlichen Bildung oder geistiger Produktion, ohne dass diese Nutzung autorisiert wäre. Klassische Anwendungsgebiete von Fair Use sind etwa Kommentare, Kritiken, Parodien, Nachrichtenberichterstattung, Forschung und Wissenschaft. Aber auch für die Cache-Funktionalität bei Suchmaschinen und für das Web Harvesting von Webarchiven findet Fair Use Anwendung.
Das bedeutet allerdings nicht, dass unter Fair Use die Inhaber:innen von Websites keine Möglichkeiten hätten, eine Archivierung ihrer eigenen Webinhalte zu unterbinden. Einerseits können bereits im Vorfeld eines Harvesting technische Maßnahmen dagegen ergriffen werden, und auch nachträglich können Inhaber ihre Inhalte schützen. Wer eine Website besitzt, die vom Internet Archive archiviert wurde, kann deren Löschung aus dem Archiv beantragen. Beobachter:innen gehen davon aus, dass ein Großteil von Konflikten zwischen Websiteeigner:innen und dem Internet Archive über solche nachträglichen Interventionen gelöst werden.
„In ihren Räumen“ – die Terminalschranke im Urheberrecht
Deutsche Gedächtnisinstitutionen hingegen können für das Einsammeln, Aufbewahren und Zugänglichmachen von Webinhalten nur wenig rechtlichen Spielraum aus dem Urheberrecht ableiten. Beim „harvesten“, also dem Abspeichern von Webseiten aus dem aktuellen Web in den Bestand des jeweiligen Archivs, handelt es sich nach Paragraf 16 Urheberrechtsgesetz (UrhG) um einen Vorgang der Vervielfältigung. Die daraus resultierenden rechtlichen Erfordernisse und Einschränkungen sind auch nach der Urheberrechtsnovelle von 2018 weiterhin groß. So ist die Terminalschranke aus Paragraf 60e Abs. 4 UrhG auf die Zugänglichmachung „in ihren Räumen“, also in denen der Bibliothek bzw. des Archivs, gebunden. Ein Zugriff von andernorts, etwa mittels VPN-Nutzung oder eines passwortgeschützten Accounts, ist nicht vorgesehen. Die Pflicht zur Nutzung des Lesesaals ist damit zementiert.
Wer viel einsammelt, sammelt auch viele Risiken
Neben der Zugänglichmachung von archivierten Websites ist bereits das flächendeckende Einsammeln von Websites rechtlich herausfordernd. Bei diesem sogenannten „flächigen Harvesting“ kann weder eine konkrete Ablieferungspflicht noch ein Einverständnis des Websiteinhabers vorausgesetzt werden. Dadurch wird unweigerlich auch Material aus dem Web eingesammelt, das urheberrechtlich geschützt ist und . Auch können beispielsweise die auf einer Originalwebseite eingebundenen Bilder und Texte die Lizenz- oder Persönlichkeitsrechte Dritter verletzen. Wird eine solche problematische Webseite dann im Zuge eines flächigen Harvesting kopiert, auf dem Server eines Archivs gespeichert und später für Archivnutzende wiedergegeben, bedeutet das für die betroffene Gedächtnisinstitution potenzielle juristische Probleme.
Zugänglichmachung als Thema der Zukunft?
Vielleicht ist es einfach immer noch zu früh, um die Zugänglichkeit von Webarchiven grundsätzlich neu zu regeln. Sowohl die Geschichtswissenschaft als auch der Kulturerbebereich nähern sich noch schrittweise an das Web vergangener Tage an. Die Nachfrage nach Inhalten aus den Webarchiven wird daher vermutlich zunehmen. Damit wird auch der Problemdruck wachsen. Florent Thouvenin, Inhaber des Lehrstuhls für Informations- und Kommunikationsrecht an der Universität Zürich, unterstrich 2017 im Rahmen einer Diskussion zwischen „Wissenschaft und Praxis“ zur Revision des schweizerischen Urheberrechtes die Notwendigkeit, private wie öffentliche Webarchive im Urheberrecht verstärkt zu berücksichtigen. Angesichts der Volatilität des World Wide Web und der Gefahren von „Machtmissbrauch“ durch globale privatwirtschaftliche Akteure wie beispielsweise Google sei dies relevant. Zunächst komme es aber auf die zügige Webarchivierung an, so vermerkt es das Tagungsprotokoll, die Zugänglichmachung „könnte unter Umständen auch in Zukunft gelöst werden“. Diese sicherlich nicht unumstrittene These mag als eine Herausforderung gelesen werden, den Diskurs über die Zugänglichkeit von Webarchiven – sei es auf rechtspraktischer, rechtssystematischer, aber auch auf politischer Ebene – aktiver als bislang voranzutreiben. Die Uhr tickt, um das Web von gestern auch morgen noch praktikabel nutzen zu können.
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