Im Großlernbüro
Der Besucher in der Oskar-von-Miller-Schule in Kassel ist verwirrt. Das hier soll eine Schule sein? Es sieht eher nach einem Großraumbüro aus: Arbeitsplätze an Tischinseln, Besprechungsecken, eine Kaffeeküche und ein Kopierer, Zimmerpflanzen und Regale, viele Mehrfachsteckdosen und Getränke. An den Tischen sitzen junge Menschen, die auf Laptops, Smartphones und in Bücher blicken oder leise miteinander sprechen. Nebenan steht eine Frau am Whiteboard und erklärt Schülern die Anforderungen eines anstehenden Projektes. Und das soll eine Schule sein, die vielerorts als Musterbeispiel für die Digitalisierung genannt wird?
Bei der Digitalisierung an der Schule gibt es zwei Ansätze, durch beide hat sich im vergangenen Jahr einiges bewegt. Zum einen von oben, in Top-down-Modellen: Die Bundesregierung hat in ihrer „Digitalen Agenda“ verkündet, sie werde eine „Strategie Digitales Lernen“ entwickeln, die „die Chancen der digitalen Medien für gute Bildung entschlossen nutzt, weiterentwickelt und umsetzt.“ Die Bertelsmann-Stiftung hat einen Arbeitsschwerpunkt „Digitalisierung der Bildung“ gestartet, in dem es vor allem um mehr Effizienz in pädagogischer und ökonomischer Hinsicht geht. Schulen und ihre Träger starteten – wieder einmal – Pilotprojekte, in denen alle Schülerinnen und Schüler ein eigenes digitales Gerät bekommen sollen, so etwa in Hamburg und Köln.
Zum anderen entsteht in den Schulen Druck von unten: Dort warten die meisten gar nicht auf offizielle Programme, Schüler und Lehrer bringen einfach ihre privaten Geräte mit. „Bring your own device“ ist der Name dieses Ansatzes, der in der Regel ungesteuert, häufig unerwünscht ist. Birgit Giering von der Medienberatung Nordrhein-Westfalen hat damit nahezu täglich zu tun. „Im Moment ist ‚Bring your own device‘ einfach eine Tatsache“, sagt sie. Giering plädiert für gemeinsame Ansätze, um die pädagogischen Chancen nutzen, statt die Energie darauf zu richten, Handyverbote durchzusetzen. Mit anderen Worten: Schüler nutzen eigene Geräte dann nicht mehr unter, sondern auf dem Tisch.
Pädagogisches Konzept, digitale Werkzeuge
Zurück im Großraumbüro der Oskar-von-Miller-Schule in Kassel: Um 2005 herum fand dort eine „Wende im Kopf“ statt, wie es der damalige Abteilungsleiter Dietmar Johlen nennt. Lehrer fragten sich, wie man den Unterricht so umbauen kann, dass Schüler selbst Verantwortung für den Lernprozess übernehmen können. Mehr als 2.200 Schüler lernen an der berufsbildenden Schule mit ihren verschiedenen Schulformen und Bildungsgängen – häufig nicht unbedingt diejenigen, denen das selbstständige Lernen besonders leicht fällt. Der damalige Leitspruch erinnert nicht zufällig an Immanuel Kant und die Aufklärung: „Wir wollen dabei helfen, dass junge Menschen von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit gelangen.“ Schulleiter Günter Fuchs erläutert den Wandel so: „Wir wollen weg von der Konsumhaltung. Mit dem traditionellen Unterricht funktioniert kein selbstgesteuertes Lernen – so funktioniert auf Dauer auch Demokratie nicht.“
Das will die Schule mit einem Modell erreichen, das den Namen „Lernschrittkonzept“ trägt. Die Grundidee wird an den Themenwochen deutlich, wie sie für die Schule typisch sind: Zu Wochenbeginn verschafft sich jeder Schüler einen Überblick über das Thema, das er in den nächsten Tagen bearbeiten will. Erstes Material findet sich über Google; weiteres sowie Checklisten und Aufgabenvorschläge kommen von einem Lehrer – der hier eigentlich „Lernbegleiter” heißt. In Absprache mit dem Lehrer definiert jeder Schüler die eigenen Ziele. Die Leitfrage dabei lautet: „Wie kann ich am Ende einem Mitschüler und dem Lehrer zeigen, dass ich das kann?“
Und dann arbeiten die Schüler. Eigenverantwortlich, aber mit einem Lernbegleiter; individuell, aber häufig in Kooperationen; kreativ, aber an den Lernzielen orientiert. Im Laufe der Jahre hat sich herausgestellt, dass normale Klassenzimmer nicht die beste Umgebung dafür bieten. Vor einigen Jahren hat die Schule Mauern eingerissen und das „Maxi” eingerichtet – das Großraumbüro, das eigentlich eine Art Großlernbüro ist. In der Praxis dieser neuen Lehr- und Lernkultur hat sich gezeigt, dass digitale Plattformen, Inhalte und Werkzeuge an vielen Stellen hilfreich sind.
Wer als Schüler individuell recherchiert, braucht das Internet. Wenn Lehrer Materialien bereitstellen und in Teams zusammenarbeiten wollen, hilft eine gemeinsame Plattform. Wenn Schüler dokumentieren, dass sie etwas verstanden haben, dann häufig mit digitalen Texten, kleinen Videos oder Comics. Ein digitales Portfolio hält Lernvereinbarungen und Fortschritte fest. Wenn man eigene Inhalte anderen zur Weiternutzung zur Verfügung stellen will, markiert man sie am besten als „Open Educational Resource“.
Digitalisierung ist nur Mittel zum Zweck
Beindruckend am Modell der Oskar-von-Miller-Schule ist, dass hier nicht einfach möglichst viel digitalisiert wurde. Am Anfang aller Überlegungen standen nicht digitale Werkzeuge, Geräte und Inhalte, „Bring your own device“-Modelle oder offene Lernmaterialien – sondern die Frage, wie Unterricht und Lernen anders organisiert sein können. Die Digitalisierung war ein Teil der Antworten auf die pädagogischen Fragen, nicht umgekehrt.
Besucher aus Europa, Amerika und Asien kamen bereits nach Kassel, um sich zu informieren. Aus China schickte man 60 Lehrer, um das Konzept kennenzulernen und dann zu übertragen – ohne langes Zögern, wie Lehrer Waldemar Sobieroj berichtet: „Was in Kassel zehn Jahre gedauert hat, haben die Chinesen in zehn Monaten umgesetzt.“
Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
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