Hol der Henker das ökonomisch-Musikalische
(Der Komponist Alvin Curran, im Programmheft von Audio Poverty)
Prekarier aller Länder … In den vergangenen zehn Jahren hat der Anteil der Menschen mit einem sogenannten Normalarbeitsverhältnis stetig abgenommen, entsprechend gewachsen ist der Bevölkerungsanteil an den Rändern der Einkommensverteilung. Zeitarbeit, Dauerpraktika, Minijobs und befristete Beschäftigung schaffen weltweit den moderne Tagelöhner, den Prekarier, der tagtäglich darum kämpfen muss, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, an dauerhafte soziale Absicherung gar nicht zu denken. Der „rasende Stillstand“ einer entsicherten und ökonomisierten Arbeitswelt traf und trifft in spürbarer Weise auch den Kulturbereich, Musiker und Komponisten. Ob Beethoven, wenn er in unserer Zeit lebte, von seinen Werken sorgenfrei leben könnte? Oder würde er auch heute wie 1810 wütend ausrufen: „hol der Henker das ökonomisch-Musikalische“.
Vom Straßenmusiker zum Musikverleger
Auffällig ist, das in dieser Lage die Tradition des Verklärens armer Künstlerexistenzen neue Blüten treibt, im Sinne der von Alvin Curran thematisierten „mythologischen Wahrnehmung“ – etwa auch in der Proklamierung einer „postökonomischen“ Musica povera auf der Berliner „Konferenz über Musik und Armut“ im Februar 2009? Als Beispiele für „neue Lebensentwürfe“, von der wirtschaftlichen Lage herausgefordert, werden dort Harry Partch und vor allem Moondog genannt – der blinde Lous Thomas Hardin, der als musizierender und dichtender Clochard und Straßenmusiker in den Straßen Manhattans lebte. Den Namen „Moondog“ legte er sich nach seinem Blindenhund zu, der so hingebungsvoll den Mond anheulte. Von 1947 bis in die 1970er Jahre trug Moondog an den Straßenecken von Manhattan seine Gedichte und Kompositionen auf einer Zither oder zur Trommel vor, in Wikingerkluft mit Speer, gehörntem Umhang und wallendem Bart.
Die andere Seite seiner Geschichte ist, dass er neben Musikern der New Yorker Philharmonie auch Toscanini, Strawinski und Bernstein kennenlernte und bei den Orchesterproben in der Carnegie Hall sich viel über Orchestrierung abguckte. Seitdem 1955 gemeinsam mit Julie Andrews sehr erfolgreich eine Platte mit Kinderliedern veröffentlicht wurde, kamen auf verschiedenen Labeln Alben mit Moondogs Musik heraus („Rhythmisch könnte man mich der Gegenwart, ja, der Avantgarde zurechnen; melodisch und harmonisch stehe ich dagegen sehr weit in der Vergangenheit.“)
Als er 1974 vom Hessischen Rundfunk nach Frankfurt zu zwei Konzerten eingeladen wurde, blieb er in Deutschland und setzte zunächst sein Straßenmusikleben fort. Dann redete ihm eine Studentin die Wikingerkluft aus, überredete ihn zu einem bürgerlichen Leben, übertrug seine Kompositionen aus der Blinden- in die normale Notenschrift und gründete einen Musikverlag für seine Werke Doch der Mythos vom musikalischen Stadtstreicher hat seine Faszination nicht verloren. Wie sieht es um die gesellschaftliche Stellung und um die Einkünfte seiner mittelalterlichen Vorgänger, der Spielleute, aus?
Mittelalterliche Sitten
da wird ein Pfeifer begraben sein.“
(Hans Sachs)
Von Moondogs mittelalterlichen Vorgängern, den Spielleuten, wissen wir, dass es viele Arten und Abstufungen der Bezahlung gab. Im höfischen Bereich scheint die Entlohnung mit „Ehrengaben“ und „Geschenken“ das übliche Honorar gewesen zu sein. Bei höfischen Festen seien Samtstoffe, Zobel und Hermelin, goldener Schmuck, teure seidene Gewänder, bisweilen Pferde und Maultiere an die Spielleute ausgeteilt worden. So sollen 1368 im Verlauf einer Hochzeit in Mailand 500 Musikanten neue Kleider erhalten haben. 1356 reiten beim Weihnachtsfest König Karls IV. die adligen Gäste zu Pferd zur Tafel und überlassen ihre Pferde den Spielleuten als Geschenk. Doch nicht jeder war so freigebig, nicht selten mussten die Spielleute ihre Entlohnung regelrecht herausfordern. 1043 soll der deutsche Kaiser Heinrich III. die Spielleute ohne Geschenke, ja, ohne Verpflegung, entlassen haben und stattdessen Almosen an die Armen verteilt haben.
Mit Gütern versehene höfische Spielleute sind äußerst selten in Frankreich und England bezeugt. „Grant terre et noble seignorie“ und die Ritterwürde dazu soll Pinconnet von Cléomadès erhalten haben, ein Spielmann des französischen Königs Philippe V. Le Long besaß ein Lehen, ein anderer die Landschaft Vaux-sur-Mer in der Normandie. Doch das waren die großen Ausnahmen im Heer der fahrenden Spielleute, das andere Extrem bildet die große Zahl der namenlosen Bettelmusikanten. Bezeichnenderweise bestand die Gage oft darin, die von den Spielleuten in den Herbergen hinterlegten Pfänder („gages“) auszulösen – darauf geht der Begriff „Gage“ zurück.
Ab dem späten Mittelalter dann wurden nicht nur die Stadtpfeifer, sondern auch die durchziehenden Spielleute durch Bezahlung in Münzen für eine berechenbare Arbeit entlohnt. Diese war gestaffelt nach Instrumenten. So ist in einer Frankfurter Hochzeitsordnung von 1489 zwingend festgelegt, dass Trompeter und Pfeifer 2 Gulden zu erhalten haben, Lautenschläger dagegen lediglich 1 Gulden, Sackpfeifer und Geiger gar nur ½ Gulden. Der Existenzkampf war hart, selbst die in fürstlichen Diensten stehenden Spielleute mussten zum zusätzlichen Broterwerb auf Reisen gehen.
Berühmte Komponisten
(Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Freimaurer-Logenbruder Michael Puchberg, 17. Juni 1788, dem er bis zu seinem Tod 21 Bettelbriefe schrieb und von dem er insgesamt 1415 Gulden (ca. 18.000 €) erhielt – Mozart wollte ihn allerdings um 4.000 Gulden anpumpen, ca. 50.000 Euro.)
Hartnäckig hält sich der Mythos, dass berühmte Komponisten arm gestorben seien. Zwar trifft zu: Beethoven und genauso auch Mozart in seiner Wiener Zeit hatten mit existentiellen Geldsorgen zu kämpfen. Nach Mozarts Tod fanden sich nur 60 Gulden in seinem Haus, umgerechnet knapp 1.500 Euro. Dabei lagen seine jährlichen Einkünfte als freischaffender Musiker, Komponist und Impressario in Wien, wie Maynard Solomon in seiner Mozart-Biographie akribisch zusammengestellt hat, deutlich über dem Gehalt eines damaligen Chefs der Chirurgie (1.200 Gulden; ca. 28.800 Euro), in seinen letzten Lebensjahren sogar fast doppelt über dem Direktorengehalt des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (3.000 Gulden). Wie es aussieht, muss Mozart seine außergewöhnlich hohen Einnahmen verschleudert haben, für Lebensstil und Kleidung, möglicherweise auch beim Billard und Kartenspiel.
(Mozart Sept. 1782 an Frau von Waldstätteny)
Harvard-Studie zeigt Gewinner und Verlierer
Andererseits Joseph Haydn: er wirkte jahrzehntelang in der Hofkapelle des Fürsten Esterházy in einem relativ gut bezahlten Anstellungsverhältnis, später kamen lukrative Kompositionsaufträge in London hinzu. Kein Wunder, dass Haydn in einer nach Vermögensverhältnissen geordneten Zusammenstellung von Komponisten des 17. bis 19. Jahrhunderts deutlich seine beiden Klassik-Kollegen überflügelt, andererseits aber unter einem Zehntel des für Rossini angenommenen Vermögens liegt.
Vermögensverhältnisse von 23 Komponisten
(nach: Scherer, F.-M.: Quarter Notes and Bank Notes. The Economics of Music Composition in the 18th and 19th centuries, Princeton and Oxford 2004, S. 105) |
Unter den Komponisten dieser Zusammenstellung des Harvard-Wirtschaftswissenschaftlers Frederic Scherer befinden sich freischaffende Komponisten genauso wie Kapellmeister im Dienst von Höfen und Kirchen. Einige konnten Vermögen und Hausbesitz erringen, andere starben bettelarm oder mit Schulden. Je länger man über diese Vermögensliste sinniert: etwaige Zusammenhänge zwischen ökonomischen Verhältnissen und künstlerischer Qualität sind nicht auszumachen. Überdies werden manche Komponisten gestern und heute nicht müde, ein sorgfältig retuschiertes Bild ihrer Person in Umlauf zu bringen und zu pflegen. Im 19. Jahrhundert etwa Verdi, der seinen Erfolg als höchst mühsamen Aufstieg aus bitterer Armut darzustellen wusste, und der trotz explosionsartig gestiegener Komponistenhonorare 1868 in einem Brief kokettierte: „Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass es mir niemals gelungen ist, das zu tun, was ich gerne getan hätte. Schauen sie, zum Beispiel würde ich gerne Schreiner oder Maurer sein, aber nein, mein Herr, ich bin maestro di musica.“
Verdis Honorar steigerte sich von 18.000 Franken für Macbeth (1847) zu 60.000 Franken für Die Macht des Schicksals. Für Aida sollte er die Rekordsumme von 150.000 Franken fordern und auch bekommen. Ein Maurer verdiente damals nicht über 500 Franken im Jahr.
Es ist ein Verdienst dieser Studie des Harvard-Wirtschaftswissenschaftler Scherer, dass er diese drastischen Einkommensentwicklungen einzelner Komponisten im 19. Jahrhundert in den gesamtwirtschaftlichen Kontext gestellt hat. Scherer zeigt überzeugend, dass im 19. Jahrhundert der allgemeine Wohlstand stetig zunimmt, im Zusammenhang mit der industriellen Revolution, und dass in Zusammenhang damit auch die Nachfrage nach Musik, nach Aufführungen, nach Musikausbildung, nach Musikinstrumenten steigt.
Exemplarisch für England bietet Scherer verblüffende Zahlen: Ausgebildete Arbeiter verdienten 1850 fast doppelt so viel wie zum Jahrhundertanfang, für „white collar workers“ hatten sich die Einkünfte vervierfacht, für Anwälte gar verzehnfacht – und die großen Gewinner waren die Unternehmer und Banker (dies bot in der Tat ein weites Betätigungsfeld zum Nachdenken für Marx und Engels). Und zusammen mit den Steigerungen des Realeinkommens für dies Gruppen stieg die Nachfrage – auch nach dem Luxusgut Musik.
Und heute?
No plastic money anymore, die Banken gegen ihn.
Woher die Schulden kamen, war wohl jedermann bekannt.
Er war ein Mann der Frauen,
Frauen liebten seinen Punk.“
(Falco, Rock me Amadeus)
Tempora mutantur … Seit 1997 hat sich in Deutschland der Anteil der Personen in einem Normalarbeitsverhältnis innerhalb zehn Jahren gegenüber 1997 um acht Prozentpunkte auf 74,5 Prozent verringert, im selben Zeitraum stieg der Anteil der Leiharbeiter auf das Dreifache, die wichtigste Rolle unter den atypischen Arbeitsverhältnissen spielen die Teilzeitkräfte, vor allem Frauen. Damit schrumpft die Mittelschicht, mit Tendenz zur „Abwärtsmobilität“ in Richtung der unteren Ränder der Einkommensverteilung. Auch das hat seine spürbaren Wirkungen auf eine spezifische Dimension von „Audio Poverty“: No plastic moneys anymore …
Literaturempfehlungen
Felix Grigat, Dem statistischen Netz durch die Maschen geschlüpft. En Versuch, das Prekariat zu orten, in: Forschung & Lehre 10/08, S. 676-681.
Wolfgang Hartung, Die Spielleute. Eine Randgruppe in der Gesellschaft des Mittelalters, Wiesbaden 1982.
Nicole Kämpken, Michael Ladenburger, „Alle Noten bringen mich nicht aus den Nöthen!!“. Beethoven und das Geld. Begleitbuch zu einer Ausstellung des Beethoven-Hauses, Verlag Beethoven-Haus, Bonn 2005.
Walter Salmen, Der Spielmann im Mittelalter, Innsbruck 1983.
Frederic M. Scherer, Quarter Notes and Bank Notes. The Economics of Music Composition in the 18th and 19th Centuries, Princeton and Oxford 2004.
Maynard Solomon, Mozart. Ein Leben, (New York 1995) Kassel 2005.
Der Text beruht auf einem Vortrag auf der “Audio Poverty. Konferenz über Musik und Armut”, 6.-8.2.2009 im Haus der Kulturen der Welt Berlin. Hartmut Möller ist Professor für Musikwissenschaft an der Rostocker Hochschule für Musik und Theater, wurde dort nach der Einführung des Studiengangs Pop/World-Music als Rektor abgewählt und spielt seitdem stillvergnügt mit seinem e-cello u.a. in einer arabischen Musik und hin und wieder auch Apocalyptica-Heavy-Metal-Soli.
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