EuGH-Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung: Kein Grund zur Freude

Anders als von vielen behauptet, hält der europäische Gerichtshof (EuGH) die Vorratsdatenspeicherung nicht an sich für unvereinbar mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Nach Ansicht des Gerichts verletzt sie nicht den Kerngehalt des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre (Randnummer 39). Die Regelung müsse nur anders ausgestaltet und noch mehr harmonisiert werden.
Das Urteil bedeutet demnach eine doppelte Bindung der Staaten: Zum einen müssten sie eine neue Regelung zur Vorratsdatenspeicherung verhandeln, wenn die Kommission diese vorschlägt. Die Kommission könnte daran bereits deshalb ein Interesse haben, weil sie dabei die Möglichkeit hätte, das Strafrecht weiter zu harmonisieren, etwa durch eine EU-Definition besonders schwerer Straftaten. Zum anderen müssen die Staaten, um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu garantieren, diese auf EU-Ebene akzeptieren. Nationalstaaten könnten ihren Bürgern kaum noch höhere Schutzstandards bieten, als vom EU Gesetzgeber vorgegeben, weil dann das Ziel einer EU-Vorratsdatenspeicherung im Zweifel nicht verwirklicht werden könnte.
Rechtfertigt ein „diffuses Gefühl der Sicherheit“ die Vorratsdatenspeicherung?
Zudem sorgen einige Argumentationen des Gerichts für Stirnrunzeln: Einerseits wird bejaht, dass die Vorratsdatenspeicherung einen tiefen Eingriff in die Privatsphäre des Individuums bedeutet, der sogar das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit einschränken kann (Randnummern 26 und 27). Andererseits wird später der Schluss gezogen, dass der Kerngehalt des Rechts auf Privatsphäre unangetastet bleibt, da keine Kommunikationsinhalte gespeichert werden (Randnummer 39).
Warum dies keinen Widerspruch darstellt, lassen die Richter unbeantwortet. Und das, obwohl das Gericht sich sogar des fragwürdigen Konstrukts des „diffusen Gefühls der Überwachung“ bedient, um die Tiefe des Eingriffes der Vorratsdatenspeicherung zu schildern. Das Argument ist problematisch, weil es sich möglicherweise umdrehen ließe: Würde ein diffuses Gefühl der Bedrohung vor Terroranschlägen ausreichen, um das Recht auf Sicherheit – auch dies nennt der EuGH als Grundrecht – zu stärken?
Ebenso widersprüchlich ist die Argumentation, die Vorratsdatenspeicherung könne auf „geographische Gebiete“ oder „Personenkreise“ beschränkt werden, die eine „Bedrohung der öffentlichen Sicherheit“ bedeuten könnten. Denn an der Tatsache, dass innerhalb dieser betroffenen Gebiete und Personenkreise dann anlasslos gespeichert würde, würde dies nichts ändern. Es würde damit eine Diskriminierung nach Gebiet oder sozialer Zuordnung vorgenommen, deren Kriterien und strafrechtliche Begründung offen gelassen werden.
Urteil stärkt Einfluss der EU, schwächt die Mitgliedsstaaten
Strukturell betrachtet, beschränkt das Urteil die Mitgliedstaaten darin, die Richtlinie an ihre Gesetzgebung und Rechtsprechung anzupassen. Es erweitert daher die Deutungs- und Gestaltungshoheit des Gerichts und des EU-Gesetzgebers. „Klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung“ sowie „Mindestanforderungen“ (Randnummer 54) soll die EU in der Richtlinie festlegen.
Dies stellt jedoch den Grundgedanken einer Richtlinie in Frage, denn sie soll einen schlanken Rahmen geben, in dem die Mitgliedstaaten – passend zu ihren Rechtskulturen – die vereinbarten Garantien und Pflichten in nationales Recht umsetzen. Was der EuGH nun fordert, geht weit über eine Homogenisierung hinaus und mutet mehr wie eine subtile Kompetenzübernahme an. Und das auf einem Gebiet – Sicherheit –, in dem die EU eigentlich keine primäre Kompetenz hat.
Das Urteil ist kein Sieg gegen die Vorratsdatenspeicherung. Das Urteil ist eine Stärkung der politischen Macht des Europäischen Gerichthofes und der europäischen Gesetzgebung. Möglicherweise führt es gar zu einer Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung, die dann nicht mehr verhindert werden kann.
In der Rubrik „Meinung” veröffentlicht iRights.info in loser Folge Einschätzungen und Kommentare von Politikern, Künstlern, Funktionären und weitere Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Kultur.
1 Kommentar
1 Rebentisch am 10. April, 2014 um 17:28
Die Analyse kann ich nicht teilen, es handelt sich um eine Klasse 1 Ablehnung der Richtlinie durch den Gerichtshof, die stärker als alle Erwartungen ausgefallen ist. Die Kommission muss nun überhaupt keine Gesetzgebung vorschlagen. Wenn sie es tut, wird sie in keiner Weise über die bestehende Richtlinie hinausgehen können und ein aufmerksames Parlament haben. Strafrechtsharmonisierung wird von den Mitgliedstaaten der Union nicht gewollt.
Verdachtsunabhängige Speicherung von Verbindungsdaten ist vom Tisch, bei Verdachtsfällen sieht das natürlich anders aus, und ist (und war) Überwachung auch unstrittig.
“Strukturell betrachtet, beschränkt das Urteil die Mitgliedstaaten darin, die Richtlinie an ihre Gesetzgebung und Rechtsprechung anzupassen.”
Nein. “Die Richtlinie 2006/24/EG… ist ungültig.” Es gibt also keine Richtlinie mehr. Da 2006/24/EG die Richtlinie 2002/58/EG angepasst hat, findet diese nun wieder uneingeschränkte Anwendung. Entsprechende nationale Gesetzgebung muss angepasst werden.
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