Elektronische Semesterapparate: Hochschulen unzufrieden mit geplanten Meldepflichten
Was ändert sich ab Januar 2017?
Hochschulen sollen ab dem 1. Januar 2017 einzeln gegenüber der Verwertungsgesellschaft VG Wort nachweisen, welche Texte in elektronischen Semesterapparaten oder auf Lernplattformen verwendet werden, zum Beispiel in Moodle-Räumen. Die Verwertungsgesellschaft sammelt Geld ein, wenn Texte an Hochschulen kopiert oder in Intranets zugänglich gemacht werden.
Bislang basierte die Abrechnung für elektronische Semesterapparate auf Pauschalen, die auf der Grundlage einer repräsentativen Erhebung ermittelt wurden. Für das Jahr 2016 erhält die VG Wort dafür laut dem bisherigen Vertrag rund 2,2 Millionen Euro. Nach dem neuen Modell würde die Vergütung sich danach richten, welche Texte verwendet werden, wie viele Seiten zugänglich gemacht werden und wie viele Studierende an einem Seminar oder Forscher an einer Projektgruppe teilnehmen. Pro Seite und Teilnehmer sollen dabei 0,8 Cent berechnet werden.
Wie kommt es zu den Änderungen?
Hintergrund der Änderungen ist ein neuer Vertrag für Hochschulen, den die VG Wort mit den Kultusministern der Länder ausgehandelt hat. Er regelt, wie die Digitalkopien von Texten in Semesterapparaten und Intranets vergütet werden sollen. Der Vertrag wurde verhandelt, nachdem der Bundesgerichtshof einen früheren Vertrag teilweise bemängelte.
Die VG Wort und die Kultusministerkonferenz (KMK) als Vertreterin der Bundesländer streiten seit vielen Jahren darüber, in welchem genauen Umfang nach den Regelungen des Urheberrechts (Paragraf 52a) digitale Kopien an Hochschulen zugänglich gemacht werden dürfen und wie die Vergütung abgerechnet wird. Im März 2013 entschied der Bundesgerichtshof in dem Streit, dass eine pauschale Abrechnung der Vergütung nur gerechtfertigt sei, wenn es unverhältnismäßigen Aufwand bedeute, genauere Erhebungen anzustellen. Diesen Aufwand sah er bei digital genutzten Texten an Hochschulen aber als vertretbar an – ganz anders als die Hochschulen, die die Einzelabrechnung für praxisfremd halten (siehe unten).
Die KMK wiederum hat mit der VG Wort im September einen Rahmenvertrag statt eines Gesamtvertrags abgeschlossen. Dadurch sind die Bundesländer nicht direkt dafür verantwortlich, Vergütungen zu entrichten und genutzte Texte zu melden, sondern die einzelnen Hochschulen.
Welche Texte sind von der Regelung betroffen?
Die geplante Meldepflicht würde für Kopien von Texten gelten, die auf der Grundlage einer urheberrechtlichen Ausnahmeregelung, des „Intranet-Paragrafen“ 52a, digital zugänglich gemacht werden. Die Regelung erlaubt es unter zahlreichen Bedingungen, Studierenden „kleine Teile“ von Werken, „Werke geringen Umfangs“ und Zeitschriftenaufsätze elektronisch zur Verfügung zu stellen. Der Bundesgerichtshof hat den Begriff „kleine Teile“ als maximal 12 Prozent und höchstens 100 Seiten aus Büchern ausgelegt, „Werke geringen Umfangs“ als maximal 25 Seiten.
Die gesetzlichen Voraussetzungen, um Texte in elektronischen Semesterapparaten zu nutzen, zeigt das folgende Schaubild:
Nicht vom Vertrag und damit der Einzelmeldung umfasst sind Texte, die aus anderen Gründen verwendet werden dürfen. Dazu zählen zum Beispiel Werke, deren Urheberrecht abgelaufen ist, außerdem solche Texte, für die Verlage oder andere Rechteinhaber ein „angemessenes“ Lizenzangebot gemacht haben und für die die Hochschule eine solche Lizenz erworben hat.
Dieser Vorrang individueller Lizenzen kommt den Interessen der Verlage entgegen. Er erlaubt jedoch auch, dass Open-Access-Publikationen, die unter Creative-Commons- oder anderen freien Lizenzen stehen, weiterhin frei verwendet werden dürfen. Solche Texte könnten demnach auch ohne Meldung weiter in Semesterapparaten zugänglich gemacht werden, weil die Nutzung bereits durch den Rechteinhaber erlaubt wurde.
Leitfaden erläutert Rechtsfragen bei E-Learning und digitaler Lehre
Über Rechtsfragen bei E-Learning und digitaler Lehre informiert ein Praxis-Leitfaden, der nun in überarbeiteter und erweiterter Fassung erschienen ist. Er richtet sich an Institutionen im E-Learning-Bereich und Hochschulmitarbeiter, die – ohne Juristen zu sein – mit der Konzeption, Erstellung oder Verwertung von E-Learning-Materialien befasst sind. » mehr
War die Einzelmeldung nicht schon mal geplant?
Ursprünglich war die Einzelmeldepflicht bei der VG Wort bereits zum Jahresbeginn 2016 geplant. In letzter Minute verständigten sich die Verwertungsgesellschaft und die Kultusministerkonferenz darauf, den Start zu verschieben. Zugleich sollte das Verfahren bei der Meldung vereinfacht werden, das zuvor in einem Pilotprojekt an der Universität Osnabrück erprobt worden war. Der Starttermin für die Meldepflicht wurde dann auf den 1. Januar 2017 verschoben.
Was sind die Argumente von Hochschulen und VG Wort?
Die Hochschulen kritisieren besonders den ihnen auferlegten Prüfungsaufwand. Vor der Meldung bei der VG Wort müssten sie nicht nur prüfen, ob die digitale Verwendung des Textes unter die gesetzliche Regelung fällt (siehe das Schaubild oben). Sie müssten darüber hinaus prüfen, ob es Angebote von Verlagen gibt oder die Werke aus anderen Gründen ohnehin genutzt werden dürfen. Sie verweisen auf den Pilotversuch an der Universität Osnabrück. Dabei habe sich gezeigt, dass nur rund ein Viertel der erwarteten Texte gemeldet wurde, weil Dozenten auf digitale Nutzungen verzichten und nur schwer einschätzen konnten, wann sie melden mussten und wann nicht.
Die VG Wort räumt zwar ein, dass es „Akzeptanzschwierigkeiten“ bei der Meldepflicht gebe, verweist aber darauf, dass das System „technisch reibungslos“ funktioniert habe, der Zeitaufwand für Lehrkräfte gering und das System seitdem verbessert worden sei. Sie beruft sich auf das von ihr erstrittene Urteil, nach dem Verwertungsgesellschaften möglichst genau erfassen müssen, wie Texte digital genutzt werden, um die Vergütung zu organisieren.
Für welche Einrichtungen gelten die Änderungen?
Die Pflicht zur Einzelmeldung gilt für Hochschulen, wenn sie erklären, dass sie dem Rahmenvertrag (siehe oben) beitreten. Dem Vertrag können nur öffentliche Hochschulen beitreten, ausgeschlossen sind private Einrichtungen.
Allerdings: Die Hochschulen des Landes Niedersachsen haben bereits erklärt, dass sie dem Vertrag nicht beitreten werden. Laut Deutschlandfunk haben auch die Rektorenkonferenzen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Thüringen erklärt, dass ihre Hochschulen dem Vertrag nicht beitreten wollen.
Hochschulen, die dem Vertrag nicht beitreten, müssten dann zwar keine Einzelmeldungen abgeben, könnten aber auch ihre digitalen Semesterapparate nicht mehr wie bisher verwenden – falls die Nutzung nicht auf andere Weise vergütet wird, etwa durch individuelle Verträge oder Vereinbarungen.
Auf Seiten der Hochschulen dürfte die Hoffnung überwiegen, nach einem Rückzug aus dem für sie vorgesehenen Rahmenvertrag neue, für sie bessere Bedingungen aushandeln zu können. Die gesetzlichen Regelungen könnten sich auch erneut ändern, falls die Bundesregierung neue Vorgaben für Kopien an Hochschulen einführt. Im Koalitionsvertrag hatte sie eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke angekündigt, von der sich die Einrichtungen leichter handhabbare Regelungen erhoffen.
Was bedeutet die Änderung für Lehrende und Mitarbeitende von Hochschulen?
Wenn die jeweilige Hochschule dem Rahmenvertrag beigetreten ist, müssen Lehrende oder andere Mitarbeitende es der VG Wort melden, wenn sie Texte in elektronischen Semesterapparaten oder Lernplattformen verwenden. Laut Vertrag soll das „unverzüglich nach Beginn der Nutzung, spätestens jedoch bis zum Ende des Semesters oder Trimesters oder des jeweiligen Forschungsprojekts“ erfolgen. Für die Meldungen hat die VG Wort ein Portal eingerichtet. Hochschulen sollen das Meldeportal auch in Lernplattformen integrieren können. Wenn Hochschulen dem Vertrag beitreten, dürften sie dafür auch interne Abläufe festlegen.
Wenn die Hochschulen dem Vertrag nicht beitreten, müssen sie einen anderen Modus finden. Theoretisch denkbar wäre, dass einzelne Lehrstuhlinhaber die Vergütung selbst übernehmen, sich mit der VG Wort auf einen Vertrag einigen und dann aus eigenen Mitteln die Vergütungen bestreiten. Oder sie kehren zum analogen Semesterapparat zurück, für den andere gesetzliche Regelungen gelten und keine Meldepflicht besteht.
Was bedeutet die Änderung für Studierende?
Die Handlungen von Studierenden, etwa das Kopieren oder Scannen, sind nicht von dem Vertrag umfasst. Sie müssen also weiterhin keine Meldungen abgeben.
Gleichwohl wären sie die eigentlichen Leidtragenden, wenn die Neuregelung dazu führen sollte, dass Literatur nicht mehr digital, sondern nur noch als Papierkopie zur Verfügung steht. Nach Einschätzungen von Hochschulvertretern ist das die wahrscheinlichste Variante: Sie erwarten, dass sowohl mit als auch ohne Rahmenvertrag die Nutzung elektronischer Semesterapparate zurückgehen wird.
Was gilt für andere geschützte Werke wie Bilder und Musik?
Andere Materialien als Texte sind vom neuen Rahmenvertrag und damit der Pflicht zur Einzelmeldung nicht betroffen. Hierfür gelten weitere Verträge der Kultusministerkonferenz mit den jeweiligen Verwertungsgesellschaften, zum Beispiel der GEMA und der VG Bild-Kunst. Der Bundesgerichtshof hatte Pauschalvergütungen, wie sie dabei meist eingesetzt werden, in seinem Urteil auch nicht generell verworfen.
Update, 7.11.: In einer Erklärung unterstreicht das Aktionsbündnis Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft, dass eine Neuverhandlung des Vertrags gefragt sei. Es weist auch darauf hin, dass Hochschulen bestehende, bereits vergütete elektronische Semesterapparate nicht löschen müssen. Verlegerverbände und der Deutsche Hochschulverband, der Hochschullehrer vertritt, sprechen sich demgegenüber für eine weiterhin „werkbezogene Vergütung“ aus.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC BY-SA 4.0
5 Kommentare
1 Gerald Langhanke am 2. November, 2016 um 21:36
“Dem Vertrag können nur öffentliche Hochschulen beitreten, ausgeschlossen sind private Einrichtungen, da die entsprechende Ausnahmeregelung im Urheberrecht für sie nicht gilt.” Diese Aussage stimmt m.E. nicht – können Sie das belegen? Der rahmenvertrag gilt für diese Hochschulen nicht, aber sie könnten einen eigenen mit der VG Wort schließen.
2 David Pachali am 2. November, 2016 um 23:52
In 52a heißt es ja „zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke“. Ich habe noch mal nachgesehen: Es ist aber auch hier umstritten, was das bedeutet. So schreibt Durantaye in ihrer Studie zur Wissenschaftsschranke:
„Nicht abschließend geklärt ist, ob Bildungseinrichtungen, die Gebühren erheben oder kommerziell betrieben werden, und Forschungseinrichtungen, die sich über Auftragsforschung finanzieren, vom Anwendungsbereich der Schranke ausgeschlossen sind.“
und verweist auf:
„Dreier/Schulze/Dreier, § 52a Rn. 13: Nach dem Gesetzeswortlaut sei nicht der kommerzielle Charakter der Tätigkeit der unterrichtenden oder forschenden Institution maßgeblich, sondern der Zweck, der mit der konkreten Unterrichts- oder Forschungstätigkeit verfolgt werde. Dieses Verständnis entspricht Erwägungsgrund 42 InfoSoc-Richtlinie.“
Danke jedenfalls für den Hinweis. Ich habe den letzten Halbsatz oben gestrichen. Hier ist ja entscheidend, dass Private dem Rahmenvertrag ohnehin nicht beitreten können.
3 Bertram Salzmann am 4. November, 2016 um 15:39
Für Hochschulen, die dem Rahmenvertrag mit der VG WORT nicht beitreten, bietet die Plattform http://www.digtaler-semesterapparate.de von Booktex die rechtssichere Möglichkeit, über 50.000 Titel auch weiterhin in Lern-Management-Systemen und digitalen Semesterapparaten zu nutzen – sogar in größerem Umfang als es § 52a UrhG erlaubt und mit Bereitstellung der benötigten Auszüge als PDF, was den Aufwand für das Einscannen an den Hochschulen erspart.
4 David Pachali am 5. November, 2016 um 13:56
Ich ergänze dazu hier mal den Verweis auf: Semesterapparate und Booktex: Erfahrungen aus der UB Duisburg-Essen
5 Uwe Böttcher am 10. November, 2016 um 09:19
@Gerald Lanhanke: der Ausschluss privater Hochschulen vom erwähnten Rahmenvertrag findet sich in §2 Abs. 3 des Vertrags
[Quelle: http://www.bibliotheksverband.de/fileadmin/user_upload/DBV/vereinbarungen/2016-10-05_Rahmenvertrag_zur_Verguetung_von_Anspruechen_nach___52a_UrhG.pdf ]
Davon sind in Deutschland 125 Hochschulen, also rund 31% aller deutschen Hochschulen betroffen.
[Quelle: Destatis https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/2016/01/PrivateHochschulenDeutschland_012016.html ]
§52a UrhG räumt Hochschulen – ungeachtet ihrer Trägerschaft – das Recht ein, Werke oder Werkteile in digitalen Lernumgebungen bereitzustellen, vorausgesetzt sie vergüten dieses. Dies bedingt allerdings auch, dass den Hochschulen die Möglichkeit zur Vergütung eingeräumt wird. Geschieht dies nicht – wie im vorliegenden Fall für HS in freier Trägerschaft – ist dies m. E. nach eine unzulässige Beschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre (siehe Art. 5 Abs. 3 GG).
Was sagen Sie dazu?