Einstürzende Neubauten: Es geht auch ohne Musikindustrie
Teil 1: Musikindustrie? Nein, danke.
Der Ort ist ein Klischee: Ein grauer Gewerbehof im Berliner Arbeiterstadtteil Wedding. Weit und breit keine italienische Cafébar, kein Sushi, kein grünes Thai-Curry. Natürlich kein Aufzug. Durch die alte Holztür rein, drei Treppen hoch, raus auf die Galerie, durch eine andere Tür wieder rein, um mindestens vier Ecken und dann einen langen, dunklen Gang entlang bis zum Ende. Wieder eine Tür. Dahinter: Schrott. Stahl, Eisen, Blech. Und Musikinstrumente, zum Beispiel ein Keyboard – und eine Bohrmaschine. Das Berliner Aufnahmestudio der Einstürzenden Neubauten. Wenn es nicht wirklich so aussähe, es wäre peinlich, es derart platt zu erfinden. „Am Anfang hing das DSL-Kabel quer über den Hof ins andere Gebäude, weil es in diesem Haus keinen Anschluss gab,“ erzählt Blixa Bargeld. Inzwischen gibt es einen. Schade. Wäre ein schönes Foto geworden.
Aber wieso DSL-Kabel? Sieht hier nicht alles so aus wie in den Anfangszeiten der Neubauten, inklusive Werkzeug? Wenn man etwas genauer hinschaut, merkt man schnell, dass sich eine Menge verändert hat. Drei Videokameras sind im Studio verteilt. Ihre Anschlusskabel führen in den Nebenraum, in dem ein Server steht. Auf dem Bildschirm ein gut besuchter Chatroom, in dem die aktuelle Aufnahme-Session diskutiert wird. Daneben Videobilder des Studios, die zeitgleich über das Internet in alle Welt übertragen werden. Die Adresse der Site: neubauten.org.
„Die Musikindustrie hat erstmal gar nichts mit Musik zu tun"
Die Einstürzenden Neubauten sind im Internet-Zeitalter angekommen. Zugegeben: nicht sehr früh. Aber, wie es sich gehört für die Band, die den Industrial Rock praktisch erfunden hat, mit Wucht. Und als Avantgarde. Denn Neubauten.org ist keine Website, auf der sich die Fans Fotos anschauen, Liedtexte durchlesen und den einen oder anderen Song als mp3 herunterladen können – was woanders bereits als die Spitze der Technik gefeiert wird. All das gibt es auch. Aber erstens gibt es noch viel mehr, und zweitens ist der Zweck der Website ein anderer, als nur Werbung zu machen: Die Einstürzenden Neubauten finanzieren über den Auftritt ihre neue Platte.
Wer 35 Euro pro Produktionsphase zahlt, wird Unterstützer. Und bekommt nicht nur eine exklusive Ausgabe der CD, sondern kann auch die Aufnahme-Sessions per Live-Stream übers Internet beobachten, sich eine eigene Neubauten-eMail-Adresse zulegen (etwa: paul@neubauten.org), neu eingespielte Songs hören, lange bevor sie auf dem Markt sind und mit hunderten anderer Unterstützer weltweit im Chatroom kommentieren, wie die Bandmitglieder während der Aufnahme Zahnarzttermine besprechen – auch die Einstürzenden Neubauten werden schließlich älter.Aber nicht milder. Zumindest nicht, was die Verachtung für die Musikindustrie angeht. „Die Musikindustrie hat erstmal gar nichts mit Musik zu tun, da spielt die Herstellung von Musik keine erhebliche Rolle,“ legt Bargeld los, ruhig im Ton, punk in der Sache, und fährt fort: „Das sind Firmen, die eigentlich Identitäten herstellen sollen, und dazu ist es notwendig, dass sie komplette Systeme von Identität verkaufen. Wenn man sich irgendeinen Act, der entwickelt wird, anschaut, dann geht es dabei nicht um Musik, sondern darum, ein erstrebenswertes Lebensmodell anzubieten.“ Musik sei eigentlich nur ein Soundtrack für die materiellen Dinge, die verkauft werden sollen: Turnschuhe, Poster, die richtige Hose. „Das hat mir `crear`, im Sinne von schöpfen, überhaupt nichts zu tun, das ist nur ein System der Aufrechterhaltung – aber was ich interessant finde ist, dass langsam sichtbar wird, wie hohl das ist, wie diese Fassadenspielerei und diese Verpackungsindustrie tatsächlich nur einen Hohlraum verpackt.“
Teil 2: Freiheit ohne Verträge
Gut gebrüllt. Nicht ganz neu, aber immer noch richtig, würden die Kritiker der Major Labels zustimmen – und die werden immer zahlreicher. Was zwar in vielen Fällen auch etwas mit Kulturkritik im Sinne Bargelds zu tun hat. Aber vor allem damit, dass die multinationalen Musikverlage nicht in der Lage waren – und sind –, sich auf die Veränderungen einzustellen, die Digitalisierung und Internet mit sich gebracht haben: Musik ist jederzeit an jedem Ort mit Internetanschluss in allerbester Qualität zu haben, ohne dass gewaltige Vertriebskosten, etwa für das Verteilen von CDs, anfallen.
Macht aber nix, glaubten Warner, EMI, Universal und (inzwischen) Sony-Bertelsmann, und verkauften weiterhin CDs zu völlig überhöhten Preisen. Bis ihnen im Jahr 2000 von der US-amerikanischen Federal Trade Commission Preisabsprachen nachgewiesen werden konnten, durch die sie etwa 480 Millionen US-Dollar mehr eingenommen hatten, als es ohne Absprachen möglich gewesen wäre.
Was sie nicht daran hindert, seit dem Aufkommen von Internet-Tauschbörsen die Nutzer als Kriminelle ohne Unrechtsbewusstsein zu beschimpfen und sie in Scharen mit halblegalen Mitteln vor den Kadi zu zerren, statt sich zu überlegen, wie man die neuen technischen Möglichkeiten nutzen kann, um allen das Leben leichter zu machen. „Man wird sehr bald erkennen, dass es ein Jahrhundertfehler der Musikindustrie war, diesen Möglichkeiten auf diese Art und Weise das Wasser abzugraben,“ ist Bargeld überzeugt. Weshalb es nun mehr und mehr Musiker selber in die Hand nehmen, diese Möglichkeiten auszuschöpfen. Wie die Einstürzenden Neubauten.
"Das Nichtunterschreiben zahlt sich jetzt aus"
Da kam Erin Zhu genau richtig. Die Kalifornierin ist als Webmasterin die treibende Kraft hinter neubauten.org. Ihre jahrelange Berufserfahrung in Internetfirmen im Silicon Valley war ein Grundstein für die Entwicklung von neubauten.org. Der andere, sagt Bargeld, war der finanzielle Misserfolg der Band: „Wir sind eine weltbekannte Band, aber keine, die weltbewegende Umsätze macht. Wenn wir riesige Umsätze hätten, wenn wir Verträge mit Warner Music hätten, wäre das schon alles nicht mehr so einfach, dann würde man uns das gar nicht so leicht gestatten.“ Das sei kein Glück, ergänzt Bargeld sehr bestimmt: „It pays off, es ist das Resultat von zwanzig Jahren Entscheidungen, ob wir etwas unterschreiben sollen oder nicht – das Nichtunterschreiben zahlt sich jetzt aus in dem Sinne, dass uns niemand sagen kann: Ihr dürft das nicht in dieser Form vertreiben.“
Also haben sie es gemacht. Und es funktioniert. Phase I war im September 2003 abgeschlossen (danach gab’s die erste CD), Phase II Mitte 2005. Seit Anfang Februar 2006 läuft nun Phase III, im Herbst soll die erste Live-DVD des Konzerts aus dem Berliner Palast der Republik erscheinen. Unterstützer aus mehr als 40 Ländern – Französisch Guyana und Grönland sind auch darunter – haben ihre Kreditkarten gezückt und finanzieren der Band bereits ihr drittes Album.
Erfolg auf ganzer Linie? Beinahe
Keine einfache Art, an Geld zu kommen. Ein weiterer Grund für Band und Webmaster, das ganze Projekt auf Sparflamme zu betreiben. „Wir haben das billiger abgewickelt, als es irgendwer für möglich gehalten hätte,“ sagt Zhu mit einem gewissen Stolz, und auch Blixa Bargeld ist immer noch seine Überraschung anzumerken, wenn er erzählt, dass „wir komischerweise, obwohl wir sehr viel Equipment gekauft haben, in der Lage waren, CD aus Phase I in einem statt in eineinhalb Jahren und mit weniger Geld zu produzieren. Das ist Rekord: Seit dem ersten Album 1983 ist das die billigste CD, die wir je gemacht haben.“ Warum? Erin Zhu grinst: „Weil ihnen die ganze Zeit Leute aus aller Welt über die Schulter schauen. Da müssen sie natürlich härter arbeiten.“ Und im Herbst dieses Jahres steht nun auch noch die erste Live-DVD der Neubauten an: darauf das Konzert aus den zum Abriß freigegebenden Palast der Republik in Berlin vom 4. November 2004.
Mut zur Inkonsequenz
Erfolg auf der ganzen Linie also? Es gibt einen Wehrmutstropfen: „Wir haben nur auf halber Linie gesiegt,“ sagt Bargeld leicht verstimmt, „denn wir mussten anerkennen, dass wir nicht ohne eine Plattenfirma auskommen, wenn wir eine Tour spielen wollen. Denn wir kommen nicht drüber hinweg, dass wir dann eine weltweite Distribution brauchen.“
Also haben sich die Einstürzenden Neubauten entschlossen, nicht nur das Supporter-Album zu produzieren, sondern auch eine „öffentliche“ Platte. Damit haben sie zwar wieder den gleichen Plattenfirmenkram am Hals, aber in dem Fall sei das das kleinere Übel, sagt Bargeld. „Natürlich hätten wir auch sagen können, wir suchen uns für jedes Territorium einen unabhängigen Vertrieb, um so die Plattenfirmen auszuschalten, aber das wäre mit viel Arbeit verbunden gewesen, und vor allem Zeit – die wir nicht haben.“
Aber was heißt das schon? Einen gewissen Mut zur Inkonsequenz mussten bisher alle beweisen, die etwas Neues versuchen. Vielleicht geht es ja in Zukunft komplett ohne Plattenfirma. Denn nach Phase III kommt bekanntlich Phase IV.
Fotos von Michael Mann zur Aufnahmesession der EN in ihrem Studio im Wedding gibt`s hier – unter einer "Creative Commons"-Lizenz.
iRights.info-Redakteur Matthias Spielkamp hat die Phase II von neubauten.org im Frühjahr 2004 beobachtet. Die Beschreibungen stammen aus dieser Zeit. Das Aufnahmestudio ist weiterhin dasselbe.
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