Ein Alpendorf in China

Steve Jurvetson, Shenzen mit dem Eiffelturm im Hintergrund (Postkarte aus China), CC BY 2.0 via Wikimedia Commons
Unerwartet den eigenen Doppelgänger kennenzulernen, das ist ein eigenartiges Gefühl: Der andere wirkt seltsam nah und vertraut – und gleichzeitig ganz fremd. Mehr noch: Er rüttelt an der persönlichen Individualität, lässt einen an der eigenen, sicher geglaubten Identität zweifeln.
Ähnlich mulmig dürften sich die Bewohner des österreichischen Alpendorfes Hallstatt gefühlt haben, als sie erfuhren, dass ihre Ortschaft in der chinesischen Provinz Guangdong kopiert wurde. In nur einem Jahr reproduzierte eine chinesische Baufirma das Dorf. Seit 2012 steht dort eine exakte Kopie des Hallstätter Ortskerns, inklusive Dachgiebeln, Balkonverzierungen, Denkmälern und Pflastersteinen. Sogar die Inneneinrichtung eines Hotels wurde detailgetreu kopiert.
Hallstatt ist ein beliebtes Urlaubsziel, es liegt malerisch gelegen am Hallstätter See und wurde 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe gekürt. Wegen ihrer Schönheit ist die Gemeinde mit ihren knapp 800 Einwohnern weltbekannt. Hallstatt lockt Jahr für Jahr zehntausende Touristen aus aller Welt an. Sie alle wollen das Örtchen, das sie aus Reiseprospekten und Fernsehdokumentationen kennen, einmal im Original kennenlernen.

Gunnar Richter: Brunnen im Hallstätter Zentrum, CC BY 3.0
2011 wurde das Selbstbewusstsein der Hallstätter allerdings stark verunsichert. Sie fanden heraus, dass chinesische Zeichner, Architekten und Planer den Ort über Monate hinweg systematisch ausgekundschaftet hatten, um sich ein möglichst genaues Bild von der Ortschaft zu machen. Schon im darauffolgenden Jahr eröffnete ein zweites, chinesisches Hallstatt seine Tore – diesmal als Luxusviertel der südchinesischen Stadt Boluo. Die Hallstätter waren verdutzt: Wieso tun die Chinesen das? Und was bedeutet das für uns, für das originale Hallstatt?
Die chinesische Kultur des Kopierens
Auch die österreichische Filmemacherin und Regisseurin Ella Raidel, selbst in der Nähe von Hallstatt geboren, stellte sich diese Fragen. In ihrem Dokumentarfilm „Double Happiness“ präsentiert sie einige Antworten. Raidel spürt der chinesischen Mentalität nach, die es ermöglichte, dass das Kopieren solche Formen annimmt.
Die chinesische Lust am Kopieren hat verschiedene Gründe: Während der Kulturrevolution unter Mao in den 1960er und 1970er Jahren wurden zahlreiche Denkmäler und Bauten zerstört; alles Alte sollte vernichtet und verboten werden. Schriftzeichen wurden vereinfacht und dadurch manchmal in ihrer Bedeutung umgedreht.
Daneben führte der extrem rasante wirtschaftliche und technische Aufschwung dazu, dass kulturelle Zeichen und Traditionen nicht natürlich wachsen konnten. Diese Entwicklungen führten zu einem weitreichenden „Identitätsvakuum in der chinesischen Kultur“, so Raidel.
Double Happiness – TRAILER from Ella Raidel on Vimeo.
Als Beispiel nennt die Regisseurin die Metropole Shenzhen, die innerhalb von nur 40 Jahren von einem Fischerdorf zu einem Zentrum der Telekommunikationsindustrie mit 15 Millionen Einwohnern angewachsen ist: „Da gab es zu Beginn keine Symbole, die in der Stadt gewachsen sind. Allerdings stand im Weltpark von Shenzhen eine Kopie des Pariser Eiffelturms. Die Idee des Weltparks hat sich dann auf ganz China ausgebreitet.“ Die Parks sind in ihrer Popularität mit Las Vegas oder Disneyland vergleichbar. In ihnen sind verschiedene Sehenswürdigkeiten verkleinert nachgebaut, wie etwa die Pyramiden aus Ägypten, der Eiffelturm aus Paris oder das Opernhaus von Sydney.
Es gibt in China noch eine andere Seite des Kopierens: das Phänomen „Shanzhai“, das besonders in den Industrieregionen verbreitet ist. Wer Shanzhai sagt, meint in der Regel eine Mischform aus kunstvoller Kopie und Produktpiraterie. In chinesischen Fabriken lassen hunderte westliche Firmen die Waren der Welt produzieren, oft zu einem Bruchteil der heimatlichen Produktionskosten.
Die Arbeiter fertigen Alltagsartikel wie Bekleidung, Smartphones oder Rasierapparate – können sich diese in der Regel aber nicht selbst leisten. Da sie Zugang zu den Maschinen und Materialien haben, können sie die Produkte aber in Eigenregie herstellen. Und dabei sogar verbessern: Nicht selten haben Shanzhai-Kopien technische Vorteile gegenüber ihren Originalen. Klassisches Beispiel ist das Smartphone, das mehrere Slots für SIM-Karten bereithält; oder ein Smartphone, das gleichzeitig ein Rasierapparat ist.
Ein architektonisches Kompliment
Ella Raidel hat für ihren Film mit verschiedenen chinesischen Stadtplanern und Architekten gesprochen, die an der Planung der Hallstatt-Kopie beteiligt waren. Sie alle brachten ihre Bewunderung für das österreichische Original zum Ausdruck, für die schmalen Gassen, die bunten Häuser und die malerische Lage am See. In ihrem Verständnis machten sie dem österreichischen Dorf mit der Kopie ein Kompliment: So wie ein Schüler, der seinem Meister durch die perfekte Imitation eines Werkes die Ehre erweist – nur eben auf städtebaulicher Ebene.
Als kopierte Stadt steht Hallstatt nicht allein in China: Derzeit entsteht in Changde, einer Stadt mit knapp sechs Millionen Einwohnern in der Provinz Hunan, ein Nachbau der Hannoveraner Innenstadt. Ende 2016 soll die Kopie als deutsches Viertel in der chinesischen Metropole eröffnet werden. Die „Hannoversche Straße“ ist als Luxus-Fußgängerzone geplant und soll wohlhabende Chinesen zum Bummeln anlocken.
Zwischen Hannover und Changde besteht seit Jahren eine Städtepartnerschaft. Der Nachbau soll die Geschäftsbeziehungen zwischen der niedersächsischen Hauptstadt und der chinesischen Metropole stärken; deutsche Firmen sollen sich im deutschen Viertel ansiedeln, um Kooperationen anzukurbeln. Ein Plan, der beidseitige Interessen bedient.
Die Politik unterstützt das Vorhaben: In einer Pressemitteilung der Stadt Hannover wird die Kopie selbstbewusst als „Originalimport aus Norddeutschland“ beworben. Klinker und Gullideckel werden von einer Hannoveraner Firma geliefert. Man legt offenkundig Wert darauf, den Prozess aktiv mitzugestalten: Es gehe „keineswegs um eine Kopie eines hannoverschen Stadtteils, sondern um ein Stadtviertel, das bauliche Bezüge zu mehreren norddeutschen Städten originell vereint“, so der Hannoveraner Architekt Wolf Loebel in der Pressemitteilung.
Die Kopie und die Aufwertung des Originals
Und in Hallstatt? Ella Raidel meint, die anfängliche Skepsis der Hallstätter sei etwas gewichen, nachdem sie gemerkt hatten, dass die Kopie das Interesse am Original steigere. Dies zeige sich deutlich in den Besucherzahlen. Viele Chinesen kennen Hallstatt nicht mehr nur aus Reiseprospekten und dem Fernsehen, sondern auch als architektonische Kopie vor Ort. Wer möchte da nicht mal das Original des hübschen Örtchens kennenlernen?
Doch die Regisseurin bescheinigt auch negative Effekte. Es geht um die umliegenden Dörfer, die ebenfalls sehr hübsch sind: „Die Dörfer rund um Hallstatt werden nicht mehr so besucht, wie das mal war,“ so Raidel. Hallstatt sei mehr denn je ein touristischer Magnet, auf den sich die Besucher konzentrieren. Was die anderen Dörfer dagegen machen? Manche von ihnen haben bereits bei den Chinesen angefragt: Ob nicht auch sie kopiert werden könnten.
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