Experimente mit Klangkonserven: Wie sich das DJing im 20. Jahrhundert entwickelte
Bis sich spezielle CD-Player in den 2000er-Jahren etablierten, arbeiteten DJs – ausgeschrieben: Disc Jockeys – vor allem mit Schallplatten. Bei vielen ist ein technischer Hintergrund zu erkennen, etwa aus der Radiotechnik. Als erster DJ gilt der US-amerikanische Elektriker und Ingenieur Reginald A. Fessenden, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit seinem Kollegen Lee DeForest die Entwicklung des Rundfunks vorantrieb.
So sendete Fessenden am Weihnachtsabend im Jahre 1906 aus einem Küstenort nahe Boston ein Festtagsprogramm in den Äther, das vor der Küste liegende Schiffe per Funkgerät empfangen konnten. Die Aktion wird als weltweit erste drahtlose Radioübertragung gesehen. Dem Anlass entsprechend las Fessenden aus der Bibel vor, sang und spielte Stille Nacht, Heilige Nacht auf der Violine. Außerdem legte er eine Schallplatte mit Händels Largo auf. Retrospektiv lässt er sich damit als DJ charakterisieren, der an ein öffentliches Publikum gerichtet zu Unterhaltungszwecken eine gespeicherte Tonaufnahme übermittelt.
Der erste DJ war Radiobastler und Musikfreund
Fessenden machte sich zwei Dimensionen technischer Reproduzierbarkeit zunutze, die heute so selbstverständlich sind, dass wir die technischen Vorgänge dahinter kaum mehr beachten: So griff er auf die Tonkonserve Schallplatte zurück, die ein musikalisches Ereignis – die Orchesteraufführung eines Händel-Werks – akustisch reproduziert. Zudem reproduzierte Fessenden mittels Langwellen eine Kopie eben dieser Aufnahme in die geografische Breite. Die Leute auf den Schiffen empfingen die Funksignale und wandelten sie in Schallwellen zurück, um die Aufnahme des originalen musikalischen Ereignisses zu hören.
Die Verkopplung von DJing und Radio begründete eine bis heute anhaltende Beziehung in der Unterhaltungsbranche. Das Aneinanderreihen und Weitergeben von gespeicherten akustischen Signalen über Schallplatten – oder heute von digitalen Dateien – ist ökonomisch relativ effizient, da Musiker und -innen nicht selbst im Studio vor Ort sein müssen, um zu performen. Hantiert wird mit Aufnahmen: Als konkretes akustisches Material lässt es sich an den Abspielgeräten auf vielfältige Weise manipulieren.
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DJ-Kultur auf Jamaika: Gesang und Instrumental voneinander entkoppelt
Ab etwa den 1950er-Jahren ebneten die technologischen Möglichkeiten auch den Weg für referentielle DJ-Praktiken. So bildete sich in dieser Zeit auf Jamaika eine DJ-Kultur aus, die darauf beruht, dass DJs Schallplatten mit instrumentalen Stücken auflegen, selbst dazu intonieren, durch Sprechgesang das Publikum unterhalten oder Musiker und Musikerinnen dazu singen.
Das Besondere hierbei ist die werkliche Entkopplung des Instrumentalen und Gesang: Das Instrumental wird im jamaikanischen Englisch als »Riddim« (Rhythmus) bezeichnet und ist explizit so konzipiert, dass es mit immer neuen Texten und Melodien besungen werden kann. Man versteht das musikalische Werk demnach als unabgeschlossen, die Riddims liefern nur die instrumentale Grundlage, die je nach Kontext neu aktualisiert wird. Durch diese Praxis öffnet sich ein neuer Raum für eine referentielle Musikkultur, die das Publikum durch Call-and-Response-Techniken, Mitsingen, Klatschen und andere Reaktionen als ästhetisch aktiven Faktor miteinbezieht.
Der „Pastiche“ im Urheberrecht – was ist das eigentlich?
Seit etwa einem Jahr steht der „Pastiche“ im deutschen Urheberrecht. Wir werfen einen Blick in ein neues Gutachten, in dem Till Kreutzer Konzept und Konsequenzen des Pastiche-Begriffs untersucht. Am 19. September wird Kreutzer das Gutachten bei der „Filtered Futures“-Konferenz in Berlin zur Diskussion stellen. » mehr
Von Jamaika nach New York: Neue DJ-Techniken entstehen
Die jamaikanische Riddim- und DJ-Kultur wurde durch karibische Einwanderer und Einwanderinnen auch im New York der 1970er-Jahre einflussreich und legte den Grundstein für das Popgenre HipHop. Als Gründungsmythos ist die Geschichte des Jamaikaners Clive Campbell bekannt, der als Kool DJ Herc auf Partys Schallplatten auflegte und eine neue DJ-Technik entfaltete: So nutzte Campbell zwei Plattenspieler und ein dazwischengeschaltetes Mischpult, um bestimmte Ausschnitte eines Stücks mittels zwei Kopien der gleichen Schallplatte künstlich zu reproduzieren. Er hatte bemerkt, dass das Publikum besonders auf instrumentale Rhythmuspassagen aus Funk- und Soul-Stücken reagierte.
Diese »Drumbreaks« (kurz: »Breaks«) dauerten aber oft nur einige Sekunden oder waren wenige Takte lang. Um einen kontinuierlichen Tanzfluss und damit die Unterhaltung des Publikums zu sichern, blendete Campbell mit dem Mischpult immer wieder zwischen den Breaks hin und her, während er die Schallplatte auf der jeweils stummgeschalteten Seite manuell zum Anfang des Breaks zurückdrehte (»backspinning«). Andere DJs übernahmen und erweiterten diese Technik (oder entwickelten eigene Techniken), etwa indem sie in ihre DJ-Sets kurze Passagen aus anderen Platten einblendeten, diese live mit narrativem Ansatz montierten oder die Schallplatte rhythmisch hin- und herbewegten (»scratching«), was bis heute zu den Standardtechniken des HipHop zählt.
House, Techno, Drum’n’Bass: DJs bringen bringen die Tanzflächen in Bewegung
Neben dem HipHop war die Tanzmusik Disco zu dieser Zeit in New York sehr beliebt. Wie es der Name bereits andeutet, wurde Disco in der Discothek aufgelegt, jenem Ort, an dem Schallplatten erklingen: Die Disco-DJs brachten mit treibenden Basslines und »Four-to-the-Floor«-Beats die Tanzfläche in Bewegung. Der Disco-Produzent Tom Moulton entwickelte dafür im Studio Langversionen von Discostücken (»extended versions«), indem er bestimmte Passagen künstlich verlängerte und die Rhythmusspuren klanglich verstärkte. Darunter etwa das Intro und das Outro eines Songs, um den DJs dabei zu helfen, die Stücke nahtlos(er) und durch Geschwindigkeitsanpassung ineinander zu blenden. Moultons Versionen waren oft mehr als zehn Minuten lang und ermöglichten Übergänge von mehreren Minuten. Der Produzent ließ sie auf die eigentlich für LPs vorbehaltenen 12-Zoll-Platten pressen, um eine adäquate Wiedergabe der Klangqualität zu ermöglichen.
Vier Formen der Remix-Kultur auf Youtube
Immer neue Kopien eines Videos, neue Arrangements, Re-Synchronisationen und DJ-Kultur: Besonders auf Youtube werden wir Zeuge, wie aus Werken Versionen werden und eine neue Kultur der Aneignung entstanden ist. » mehr
Aus der Discokultur heraus entstand in den 1980er-Jahren das Genre House, für das DJs lange, ununterbrochene Sets von mehreren Stunden aufführten und die Discobeats mit elektronischen Klängen aus Drumcomputern oder Synthesizern verbanden. Von der Idee der tanzfördernden Monotonie und den neuen elektronischen Klangwelten fasziniert, entwickelte man in Detroit etwas später das noch härtere und schnellere Genre Techno, das zusammen mit House zum Ende der 1980er-Jahre auch in Großbritannien und Kontinentaleuropa Fans fand. Dort mischten DJs wiederum gesampelte Breakbeats in die Stücke und erhöhten die Geschwindigkeit, so dass sich daraus die Genres Jungle und Drum’n’Bass formten.
DJs in der Musikindustrie: Günstiger und mobiler als Bands
Die genannten Genres HipHop, House, Techno und Drum’n’Bass sind bis heute etabliert und werden in Clubs, auf Festivals oder in anderen musikalischen Zusammenhängen meist in Form von DJ-Sets aufgeführt. DJs beschreiben ihr Tun oft als Erzählen musikalischer Geschichten oder als Mitnehmen auf Reisen: Sie suchen Stücke aus, reihen diese in Spannungsbögen narrativ aneinander, sorgen für Überraschungsmomente und eine kontinuierliche Unterhaltung auf der Tanzfläche. Sie entwickeln ihre musikalischen Sets dabei in Interaktion mit dem Publikum, indem sie darauf achten, wie die Stimmung ist, was gut ankommt, es anfeuern, sich von ihm feiern lassen und selbst von der Musik affiziert werden.
Bis heute legen viele DJs nur mit Schallplatten auf, andere nutzen auch digitale Lösungen, etwa spezielle CD-Player, die auch auf USB-Sticks gespeicherte Dateien abspielen. Im Gegensatz etwa zu mehrköpfigen Bands sind DJs als Einzelpersonen mobil, können von Auftritt zu Auftritt pendeln und müssen nur wenig Ausrüstung zum Veranstaltungsort mitbringen. Es gibt eine übersichtliche, als Branchenstandard durchgesetzte Menge an Modellen für Plattenspieler, CD-Player und Mischpulte, so dass die technische Anschlussfähigkeit der alleinunterhaltenden DJs hoch ist.
Zudem hat es sich etabliert, dass DJs hinter den Mischpulten mit Kopfhörern und eigenen Monitorboxen ausgerüstet sind und damit über einen quasi-privaten Klangraum verfügen: Die Kopfhörer helfen dabei, das nächste Stück auszuwählen und den Übergang dorthin vorzubereiten; die Monitore wiederum dienen dazu, den Übergang zwischen den Stücken im Live-Prozess akkurat durchzuführen. Die Übergänge selbst gestalten viele DJs nicht nur als bloße Brücke zwischen zwei Stücken, sondern oftmals im Sinne einer virtuellen »dritten Platte«, die aus der Vereinigung der beiden ineinander gemischten Stücke emergiert.
Dieser Text stammt von Georg Fischer und steht unter der Lizenz CC BY-4.0, ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Musik und Ästhetik im Oktober 2022 (S. 75-78, kostenloses PDF). Gegenüber der Originalversion ist diese Fassung leicht gekürzt und enthält Zwischenüberschriften.
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