Digitale Literatur: Das Werk bleibt

Teilnehmer der Konferenz im „Finnegan's Wake“-Lesezirkel. Foto: V. Djordjevic, CC BY-SA
Das Digitale „missbrauchen“, also anders verwenden als vorgesehen – dazu forderte der englische Schriftsteller Adam Thirlwell am Wochenende in Berlin beim Kongress „Literatur Digital“ in seiner Keynote auf. Die neuen Bedingungen für literarisches Schaffen sieht er geprägt durch zwei Phänomene: Erstens die Gefahr einer totalen Überwachung, wie sie die NSA-Enthüllungen vor Augen führen. Zweitens durch Google als „futuristischer Maschine“, die alle Diskurse auflöse und in eine „Cloud aus Wortsammlungen“ verwandele, wie er mit Verweis auf den Kulturtheoretiker Boris Groys ausführte. „Das Digitale ist nicht nur das schönste Medium, das für künftige Romanciers erfunden wurde, sondern auch für künftige Diktatoren“, so Thirlwell.
Die „analoge“ Literatur, wenn es denn so etwas gibt, war trotzdem allgegenwärtig: Im Café des Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ fand sich ein ganz klassischer Büchertisch mit bedrucktem Papier. Daneben stand ein langer Tisch mit Tablet-Computern, auf denen einige Berliner E-Book-Verlage ihren digitalen Output präsentierten. Die Besucher tummelten sich eher bei den gedruckten Büchern.
Wandel bei Produktion, Verwertung und Rezeption
Veranstaltet wurde „Literatur Digital“ von der Autorengruppe Fiktion e.V. und Katharina de la Durantaye, Juraprofessorin an der HU Berlin. Im Modellprojekt „Fiktion“ untersuchen deutsch- und englischsprachige Autoren, welche Möglichkeiten digitale Medien für die Produktion und Verbreitung von anspruchsvoller Literatur unabhängig von Markt und Literaturbetrieb bieten. Das ist möglich, weil der Verein von der Kulturstiftung des Bundes über zwei Jahre gefördert wird.
Der Kongress passte sich in diese Erforschungsphase ein: Schriftsteller und Wissenschaftler fragten in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Lesungen, wie sich Literatur durch die Digitalisierung verändert – in der Produktion ebenso wie in Verwertung und Rezeption. Obwohl Buchläden verschwinden, wird heute mehr denn je gelesen, erklärten die Organisatoren zur Eröffnung und distanzierten sich damit zugleich vom weitverbreiteten Kulturpessimismus der Branche.
Zwei Vorstellungen von Autorschaft
Dass unsere heute herrschende Vorstellung von „Autorschaft“ nicht ein für allemal feststeht, sondern selbst unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden ist, machten die Rechtswissenschaftlerinnen Jane Ginsburg und Katharina de la Durantaye deutlich. Die Spuren des Konstrukts Autorschaft führten sie ins Zeitalter der Renaissance in Italien und in die römische Antike.
Im alten Rom war es für Autoren verpönt, mit ihren Schriften Geld zu verdienen, führte Durantaye aus; es widersprach dem patrizischen Ehrenkodex. Im Rom der Renaissance dagegen ging es explizit um Geld: Der Papst konnte Druckern und Autoren das Exklusivrecht verleihen, ein Werk zu drucken und zu verkaufen. Schon die vatikanischen Druckprivilegien des 16. Jahrhundert dienten als Investitionsschutz, wie Jane Ginsburg erklärte. Nichts Neues: Auch heute können die wenigsten Autoren ausschließlich vom Verkauf ihrer Bücher leben.
Martha Woodmansee, Literaturwissenschaftlerin in Cleveland, zeichnete in ihrem Vortrag nach, wie in der Romantik das Bild des genialen und heroischen Autors konstruiert wurde, das noch heute die Diskussion um Literatur prägt. Dagegen steht die andere moderne Auffassung: die des Autors als Plagiators, auf dem Kongress vertreten durch den Künstler und Schriftsteller Tom McCarthy. Autoren seien nur „temporäre Kuratoren in einem Übertragungsfeld von Signalen“, die sie wahrnehmen; Literatur sei immer ein Zuhören und Wiedergeben. „Schreiben ist radikal passiv und radikal unoriginell“, so McCarthy .
Enthusiasten des „Beat-Publishing“
„Unabhängig elektrisch“ lautete der Titel des Panels, bei dem vier Macherinnen und Macher von neuen, unabhängigen E-Book-Verlagen ihren Ansatz vorstellten: Nikola Richter von Mikrotext, EJ van Lanen vom englischsprachigen Verlag Frisch & Co, Marc Degens von Sukultur und Zoe Beck von Culturbooks. Hier war sie endlich: die lang erwartete digitale Literatur. Die kleinen Digitalverlage gelten als Vertreter eines neuen „Beat-Publishing“, wie es die Süddeutsche Zeitung kürzlich formulierte: Als Vorreiter neuer, verflüssigter Formen von Literatur, betrieben von Enthusiasten ohne Geschäftsmodell.
E-Books unter die Leute bringen sei immer noch schwer, so der Tenor der Runde. Lösungen für Marketing und Vertrieb fehlten noch weithin; bei Lesungen wollten viele Zuschauer etwas mit nach Hause nehmen. Die Verlage experimentieren hier mit Postkarten oder drucken eine kleine Printauflage.
Doch das E-Book-Format ist längst nicht die einzige Möglichkeit, digital zu veröffentlichen. Die Literaturagentin und ehemalige Verlegerin Elisabeth Ruge und die Berater Johannes Kleske und Igor Schwarzmann stellten andere digitale Formen vor, wie das Blog „Brain Pickings“, die Lese-App „Readmill“ und die Plattform „Wattpad“. All diese Angebote haben eine Gemeinschaft aufgebaut. Aus dem einsamen Geschäft des Schreibens und Lesens wird ein Austausch zwischen Lesern und Autoren.
Autorinnen und Autoren wollen selbst das Medium entdecken
Daneben schnitt der Kongress viele Aspekte um die Themen Autorschaft, Urheberrecht, digitales Publizieren, Übernahmen und Remix an; kein Aspekt wurde allerdings ausdiskutiert. Hier blieb der Kongress an vielen Stellen hinter dem Diskussionsstand zurück. Literarische Experimente mit Autorschaft, Versionierung, Remix und kollektivem Schreiben sind der Literatur in der Moderne schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr fremd.
Auf der anderen Seite bot „Literatur Digital“ Gelegenheit zum Weiterdenken: Erfrischend war es, dass nicht die Bedenkenträger und digitalen Oswald Spenglers die Konferenz prägten, sondern Autorinnen und Autoren, die selbst das Medium entdecken und einsetzen wollen. Mehr Austausch mit der digitalen Kunst wäre allerdings gut gewesen, dort scheint die Diskussion im Vergleich geradezu enthusiastisch.
Als die spanische Künstlerin Dora García schließlich einen „Finnegan’s Wake“-Lesezirkel anbot, in dem die Kongressteilnehmer den schwierigen Text lesen und dechiffrieren konnten, spielten Unterscheidungen wie „online“ und „offline“ keine Rolle mehr. Wie Adam Thirlwell am Tag vorher sagte: Weder werden sich alle Werke in einer ultimativen digitalen Universalbibliothek auflösen, noch werden die alten Qualitäten ganz verloren gehen. „Ein Werk besteht unabhängig von seinem Medium.“
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