Die Urheberin, das All-Eins und die Schultern von Riesen
Ein Debattenbeitrag im Rahmen der Sendereihe „U-Ton. Urheberrecht im Digitalen Zeitalter“.
Das Aufbauen neuer Forschung auf vorhandenen Erkenntnissen, die Entwicklung neuer Gedanken aus bereits Geschriebenem heraus sind zweifelsohne Kernelemente der wissenschaftlichen Dynamik. Und während dieses Teilen und Weiterverwenden den Lebensnerv der Wissenschaften bildet, halten sich auch andere Kräfte, die diese Dynamik erschweren oder behindern.
Natürlich sind die Zusammenhänge hierbei vielfältig und komplex. Ich möchte nur einen Faktor herausgreifen und ein wenig näher beleuchten. Dieser Faktor ist ein auf der philosophischen Grundebene angesiedelter – nämlich bei dem Verständnis des Selbst und der Natur des Denkens. Widergespiegelt findet es sich gut in der Idee des „Urhebers“. Diesen kann man sich, in Anlehnung an das romantische Bild von Descartes, als einsamen Denker vorstellen, als Individuum, das mit einer Tabula rasa beginnt, das ganz aus sich heraus schöpft und ein „eigenes“ Werk hervorbringt. In der Art, wie Urheberrecht heute diskutiert wird, scheint so ein Bild oftmals mitzuschwingen.
Ein anderer Zugang würde mit einer ganz anderen Idee von Individuum und von schöpferischem Wirken beginnen; und daher auch zu ganz anderen – rechtlichen, ökonomischen – Regelungen und Systemen führen.Hier wird der Mensch in seinem geistigen Leben und in seinem „ich“ verstanden als etwas, was erst durch Begegnung mit anderen Menschen und durch Sozialisation entsteht: Allein und unbeeinflusst von anderen wäre der Mensch sprachlos wie Kaspar Hauser.
Das geistige Innere des Menschen entsteht also in Begegnung mit anderen, und die Einflüsse, die „mich“ und „mein Denken“ hervorbringen, sind unglaublich mannigfaltig und verwoben. Und die Grenze ist nicht klar zu ziehen: Was sind „die Gedanken anderer in mir“, was sind „meine Gedanken“? Als geistige Wesen gehen wir – bei dieser Betrachtungsweise – alle ineinander über.
Beispiel Sprache: Das Eigene und das Gemeinsame
Ein gutes Beispiel dafür ist Sprache. Wenn ich schreibe, und dabei meine ureigensten Gedanken ausdrücke, verwende ich die deutsche Sprache. Die ureigen meine sind, die aber Millionen Menschen vor mir und um mich geprägt und an mich weitergegeben haben. So wie nun ich sie präge und gleichzeitig weitergebe. Genauso ist es mit dem Inhalt meiner Gedanken: Ich bin ein Kind der Moderne, und der Postmoderne. Ich drücke – ganz individuell – die Gedanken aus, die rund um mich und daher in mir vorhanden sind. Wo fängt „mein Individuelles“ an, wo hört es auf? Lässt sich das feststellen? Wäre das überhaupt wichtig?
Statt zu fragen: „Ist dieser Gedanke von dir oder von mir?“ könnten wir auch vorrangig fragen: „Ist dies ein hilfreicher Gedanke? Wollen wir mit dem weitermachen?“
„Wer hat’s zuerst gesagt?“ ist vielleicht kein hilfreicher Fokus.
Jedes anregende, kreative Gespräch verliert sofort den Esprit, wenn es sich vom Gesprächsgegenstand wegbewegt hin zum Thema: „Das hab jetzt aber ich gesagt!“ – „Ja, aber das ich!“ – „Ja, aber nur, weil vorher ich das gesagt habe!“. Müßig, oder? Tatsächlich, ein Wort gibt das andere. Und selbst wenn mein Beitrag sich nicht an andere anlehnt, sondern diesen sogar direkt widerspricht: Hat sich mein Gedanke vielleicht nur im Formulieren dieses Widerspruchs gebildet und ist daher genauso dem Gemeinsamen, der Begegnung entsprungen?
Viele Einzelimpulse ergeben ein Ganzes
In diesem Bild liegt der Fokus auf dem gemeinsamen geistigen Feld, das heterogen und dynamisch ist und sich durch das Zusammenspiel vieler Einzelimpulse weiterentwickelt. Dieses Bild von menschlichem Denken entwirft etwa auch der Quantenphysiker David Bohm in seinen Texten zu Dialog. Ähnlich sind auch die Grundlagen von systemischen (Familien-)Aufstellungen, oder Grundstränge buddhistischer Philosophie, wie etwa von Thich Nhat Hanh mit dem Begriff Intersein beschrieben.
Von diesem Zugang her kommend könnte man also meinen, dass es kaum möglich ist, „meine Gedanken“ von „deinen Gedanken“ zu trennen, und dass es insgesamt eher eine traurige Zeitverschwendung ist, sich darauf zu konzentrieren.
Damit wir uns möglichst frei dem Wesentlichen zuwenden können, sollten wir daher unsere Systeme so ausrichten, dass sie nicht zu sehr von der Beantwortung der Frage „Wer hat’s zuerst gesagt?“ abhängig sind.
Ruhm, Ehre, Vertragsverlängerung
Dies hat einige sehr interessante Implikationen für die akademische Welt, wo derzeit Ruhm, Ehre und Vertragsverlängerung verdächtig stark davon abhängig sind, wer was zuerst gesagt hat.
Welche Regeln und Systeme – rechtlich, ökonomisch und so weiter – uns einfallen, welche wir aufbauen, hängt unter anderem davon ab, welches Bild von Selbst und Wirklichkeit wir als Ausgangspunkt im Hinterkopf haben. Agiere ich – bewusst oder unbewusst – mit dem Bild des einsamen Denkers und Forschers, der, ganz alleine und aus sich heraus, Gedanken und Erfindungen hervorbringt und daher deren „Urheber“ ist?
Oder sehe ich die gedankliche Welt im wesentlichen als eine verwobene, wo ein Wort das andere und eine Erfindung die nächste gibt, in einer viel subtileren Art als eine Fußnote je ausdrücken könnte? Wo wir alle unsere Gedanken wechselseitig beeinflussen und hervorbringen, wo Zeitgenossinnen und vergangene Generationen in mir und aus mir sprechen, wo mein individueller Ausdruck genau Teil eines kollektiven Diskurses und nur deswegen in dieser Form entstanden ist? In diesem Bild sind Gedanken uns allen gemein – und daher auch frei?
Nicole Lieger arbeitet an der Entwicklung neuer Formen politischen Arbeitens, die Vision, Wertschätzung, Kooperation und Freude ins Zentrum rücken und die sich die Möglichkeiten eines konstruktivistischen Weltverständnisses zunutze machen. Sie hat für Amnesty International in Brüssel gearbeitet, war Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte und lehrte jahrelang an der Universität Wien, derzeit an der Universität Innsbruck.
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